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Sie trifft exakt Marlenes Ton
Ein Marlene-Dietrich-Abend mit Rita Feldmeier
im Schloßpark Theater Berlin

Marlene ist ohne Zweifel ein Faszinosum eigener Art. Sie war es zu Lebzeiten, und man hat gelegentlich den Eindruck, dass sich dieser besondere Reiz auch nach ihrem Fortgang  immer wieder einmal zu materialisieren vermag. Wie jetzt beim Gastspiel von Rita Feldmeier im Schloßpark Theater Berlin.

Rita Feldmeier, bekannt vom Potsdamer Hans-Otto-Theater und aus zahlreichen Fernsehrollen, ist hier tatsächlich in Gestik und Mimik Marlene bis in die Fingerspitzen. Das beginnt mit den Gewändern. Sie betritt, werbewirksam angekündigt, ein Hotelzimmer, schlank und blond, bekleidet mit einem Hosenanzug aus weit geschnittenem, schwarzem Beinkleid und einer weißen, bis zum Halskragen reichenden, vorn geknöpften Hemdbluse. Ihr zur Seite der Pianist Jörg Daniel Heinzmann, ein sensibler, virtuoser Begleiter, der sich einmal sogar im Duett Marlene hinzugesellt. Später kommt dann noch das legendäre Paillettenkleid zum Einsatz, umrahmt von einer spektakulären weißen Pelzrobe mit langer Schleppe - ein Auftritt, der eigens mit Bewunderungsrufen vom Publikum quittiert wird.

Die eigentliche Überraschung des Abends ist aber, mit welcher Akkuratesse und Präzision Rita Feldmeier den überlieferten Gesangston von Marlene zu treffen vermag. Das gilt für jedes klangliche Detail und sogar für das nie ganz Oxford-like "th" in ihren englischen Texten. Die Chansonstimme ist gewiß kräftiger als die von weiland Marlene, aber Rita Feldmeier vermag sie wunderbar zu zügeln, wodurch der täuschend ähnliche Eindruck entsteht, auf der Bühne würde wirklich Marlene ihre Songs hauchen. Etwas von der Stimmkraft zeigt sich in "La vie en rose", wo Rita Feldmeier in der Nähe von Edith Piaf landet.

Als roter Faden für die Songauswahl wird geschickterweise keine chronologische Reihung, sondern eher eine thematische Bündelung gewählt (Regie: Achim Wolff). So beginnt Marlene mit einigen schlichten Songs, die auch zu den weniger bekannten gehören, und sie steigert diesen Bekanntheitsgrad bis zu den besonders applaudierten Nummern, die ihren Vortragsstil bekannt und beliebt gemacht haben. Dazu gehört natürlich die temperamentvolle "fesche Lola", aber auch der Umstand, dass Marlene "von Kopf bis Fuss auf Liebe eingestellt" ist, wie sie das erstmals im "Blauen Engel" filmisch kundgegeben hat. Der begeisterte Zuhörer vernimmt "Mein Mann ist verhindert, er kann Sie unmöglich seh'n" ebenso wie Pete Seegers "Weißt Du, wo die Blumen sind ?" Eine Verbeugung vor der Hauptstadt ist die Berlin-Sequenz, worin sich "Allein in einer großen Stadt" ebenso findet wie "Das war sein Milieu". Der gesprochene verbindende Text erinnert auch an die ambivalente Resonanz, die Marlenes erster Berliner Auftritt nach dem Zweiten Weltkrieg gefunden hatte.

Nach jedem Chanson spendet das Publikum begeisterten Applaus und will die Künstlerin samt ihrem Begleiter am Schluß gar nicht von der Bühne lassen - zumal sie abschließend bekennt, "noch einen Koffer in Berlin" zu haben.

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Zueinander in Zeitlupe
Uraufführung "Heart  Chamber" von Chaya Czernowin
in der Deutschen Oper Berlin

In gewisser Hinsicht haben Uraufführungen im Operngenre eine Sonderstellung: Es gibt keine Präzedenzfälle für das betreffende Werk, und so entfällt der Streit darüber, ob eine Neuinszenierung das aufgeführte Opus angemessen wiedergegeben oder im Grunde verfälscht habe. Freie Bahn also für "Heart Chamber", das "Musiktheater" von der 1957 in Haifa geborenen Autorin und Komponistin Chaya Czernowin, das sich laut Ankündigung mit den "Einzelheiten des Sich-Verliebens" beschäftigt, also mit einem Themenkreis, der in vielen Opern eine Rolle spielt.

Was auf der Bühne geschieht, ereignet sich gewissermaßen in Slow Motion. Die beiden Angelpunkte der 90minütigen Aufführung, eine Frau (Patrizia Ciofi) und ein Mann (Dietrich Henschel) sitzen eingangs statisch auf einem Schemel. Später zeigen sich noch ihre und seine innere Stimme (Noa Frenkel und Terry Wey). Weiter geht's mit Interjektionen der beiden Hauptpersonen und ausgiebigen Videoprojektionen. Die Projektionswand auf der Drehbühne setzt sich in Bewegung und gibt den Blick frei auf eine Terrasse mit daneben angesiedelter Treppe, die von Mann und Frau sowie weiteren Akteuren begangen wird, bald hinauf und bald hinab, alles in Slow Motion. Für die Ausstattung ist Christian Schmidt verantwortlich, die Inszenierung besorgte Claus Guth.

Nach knapp einer Stunde umarmen sich die beiden Protagonisten, nur um sofort wieder voreinander zu fliehen und kurzgefaßte Fragen und Mutmaßungen über einander zu äußern. Erst ganz zum Schluß, vor dem häuslichen Kamin, beendet ein hingehauchtes "I love you" der Frau den ungleichen Liebeslauf.

Instrumental wird ein erheblicher Aufwand getrieben, der aber keinen tieferen Eindruck hinterläßt. Im Orchestergraben wartet das Orchester der Deutschen Oper unter der Leitung von Johannes Kalitzke auf seine nicht sehr zahlreichen Einsätze. Rings im Saalrund sind Lautsprecher platziert, aus denen ein Rauschen und Knistern zu vernehmen ist- elektronische Klänge vom SWR Experimentalstudio. Rechts und links von der Bühne finden in Drahtkäfigen die Mitglieder des Ensemble Nikel Platz, und die erste Reihe der Ranglogen rechts und links ist von Mitglieder eines Vokalensembles besetzt. Patrizia Ciofi darf ihren herrlichen Sopran mehrfach kurz aufleuchten lassen. Mehr ist über den musikalischen Teil der Aufführung nicht zu berichten.

Lohn der umfangreichen Mühe sind achtungsvoller Applaus und ein einzelner Buhruf.

Ohne Zweifel liegen Welten zwischen dem, was Richard Strauss oder noch Hans Werner Henze ihrem Publikum zu sagen hatten, und der Diktionsweise dieser Aufführung. Unmittelbare emotionale Akzeptanz wird nicht mehr angestrebt. Stattdessen wird kalkulierende Distanz vom Publikum erwartet und eine nicht enden wollende Geduld in der intellektuellen Analyse des Bühnengeschehens, das in wechselnde Klanginstallationen von beträchtlicher, aber wieder eher distanzierender Raffinesse eingebettet wird. Dass es gelingen sollte, unsere Musiktempel in Zukunft auf diese Weise zu füllen, ist aber eher unwahrscheinlich.


110719
Exzellenter Solisten-Nachwuchs
Stipendiatenkonzert der Hindemith-Gesellschaft
im Joseph-Joachim-Konzertsaal der UdK Berlin


Seit mehr als 50 Jahren unterstützt die Berliner Paul-Hindemith-Gesellschaft hochbegabte Musikstudenten, deren Handikap eine materielle Unterversorgung ist. Zum Beleg ihrer exorbitanten Leistungen geben die Stipendiaten mehrfach im Jahr Konzerte zusammen mit Kammermusikpartnern, die oft bereits selbst einmal Stipendiaten waren. Diese Konzerte sind auch gewissermaßen Kapitalsammelstellen für die Unterstützungsbeiträge der Gesellschaft, da das Konzertpublikum bei freiem Eintritt um Spenden gebeten wird.

Nach dem Grußwort von Hindemith-Beirat Prof. Wolfgang Boettcher übernimmt den Auftakt des jüngsten Kammerkonzerts der Cellist Anton Mecht Spronk mit der dreisätzigen Suite für Violoncello solo aus dem Jahre 1926 vom spanischen  Komponisten Gaspar Cassadó. Preludio und Fantasia zu Beginn. Der vielfach preisgekrönte  junge Cellist überzeugt sofort durch intensive, vielfarbige und engagiert vorgetragene Klangfolgen. Dann ein tänzerischer Sardano, dem der Solist einfühlsam und mit virtuosem Fingersatz eine geradezu  vor die Augen des Betrachters hingezauberte Gestalt gibt. Schliesslich Intermezzo e Danza Finale: mit sauberem Klangsinn und rhythmischem Feingefühl gestaltet.

Der Gitarrist Jesse Flowers interpretiert den folgenden Part, die Sonate für Gitarre op. 47 aus dem Jahre 1976 vom  argentinischen Komponisten Alberto Ginastera. "Esordio" zu Beginn, schöne und sicher disponierte Griffe mit wechselnder Intonationstechnik, bisweilen harfenähnlich klingend, akzentuiert von rhythmischen Klopfsignalen auf dem Korpus des Instruments. Dann ein "Scherzo", flotter Lauf mit grossen Sprüngen in der Tonhöhe und raffinierten Klangspielen als Ergänzung. Ein "Canto" folgt, bei dem mehr der sangliche Charakter der vorgetragenen Melodie unterstrichen wird. Zum Schluss ein  "Finale", in dem wiederum die stupende Vortragskunst des Gitarristen mitreissend zum Ausdruck kommt.

Drittes Solo vor der Pause : der Pianist Marcel Mok mit Sergei Rachmaninovs Sonate Nr.2 b-moll op.36 in der Fassung von 1931. Nach dem zarten Gitarrenklang des vorangegangenen Vortrags rauschen nun die mächtigen Klangballungen des " Allegro Agitato" aus dem geöffneten Schalldeckel des Konzertflügels. Aber der junge Pianist, der sich inzwischen mit vielen Konzertauftritten einen Namen gemacht hat, weiss auch fein ziselierte Miniaturfiguren darzubieten und den Hörer mit  rasend interpunktiertem Fingersatz bei bravourösem Ausdruck zu gewinnen. " Non allegro" ist der zweite Satz kurioserweise überschrieben, woraus eine romantisch klingende, eher nachdenkliche Partie geformt wird. Große, schöne Akkorde in verschränkter Formation, glitzernde Läufe, dann ein kurzes Herübernicken zu Claude Debussy. Der Schlußsatz ist "Allegro molto" bezeichnet, und Marcel Mok stürzt sich mit äusserster pianistischer Verve in diese Klangwogen. Faszinierende Tanzrhythmen auf der Klaviatur, verblüffend präzise und mit ausgeprägtem Sinn für Rachmaninovs melodischen Ausdruck dargeboten. Rasender Beifall vom begeisterten Publikum.

Nach der Pause dann der eigentliche "Renner" dieses Abends, nämlich Robert Schumanns Klavierquintett Es-Dur op.44  von 1842. Die Interpreten sind diesmal: Aurelius  Braun am Flügel, Luiza Labouriau und Haryum Kang an den Violinen, Karolina Pawul an der Viola und am Cello Sebastian Mirow. Sie setzen ein mit einem beeindruckenden "Allegro brillante", dem sich ein zweiter Satz "in modo d´una Marcia" anschließt, der "un poco largamente", also nicht gar so rasch vorzutragen ist. Das folgende Scherzo hat "molto vivace" als Vortragsbezeichnung. Das eingebaute Trio hat das selbe Tempo, und der Schlußsatz trägt die Bezeichnung "Allegro ma non troppo".

Die jungen Solisten gehen mitreissend schwungvoll und in schönem Einklang ans Werk. Aurelius Braun ist ein durchaus entschiedener, dabei aber sanftmütiger Melodieführer, dem sich die beiden Violinen und insbesondere das sangliche Cello willig anschliessen. Charaktervoll melden sich die einzelnen Streicherstimmen zu Wort. Dialoge von Cello und Viola klingen besonders einprägsam.  Nochmal kurz die Instrumente nachgestimmt, dann der zweite Satz, ein tastend sich vorwärts bewegender Marschtakt, akzentuiert von den Streicherfarben. Ein hinreissender Mittelteil, in voller Konzentration ausgeführt. Die Violinen setzen sich unvergleichlich zart auf den Klavierton auf.

Herrlich im Fluss: Das Scherzo. Alle toben gut gelaunt dem Anführer Aurelius Braun hinterher. Souveräner, quirliger Mittelteil, die reine Lebensfreude. Schritt für Schritt dann der Finalsatz, noch einmal  verhalten nach innen blickend, um dann mit summierender Kraft in die Schlußtakte zu starten. Eine kleine Fuge, abermals in der Folge von Klavier und Streichern im Verbund.

Dann begeisterter Beifall mit Bravorufen von seiten des Publikums, dazu das liebgewordene Ritual der Überreichung einer langstieligen Rose für jede Solistin und jeden Solisten aus der Hand von Hindemith- Beirätin Jutta von Haase. Insgesamt ein vollendeter Konzertabend auf höchstem musikalischen Niveau.


192819
Das entfesselte Drehteam
Premiere "Ruhe! Wir drehen!"
im Schloßpark Theater Berlin

Wenn einer eine Reise tut, dann bringt er auch was mit. Prinzipal Dieter Hallervorden war in Paris, entdeckte dort 2017 das von Patrick Haudecœur und Gérald Sibleyras verfaßte Bühnenstück "Attention, on tourne" und entschied spontan, diese Spielvorlage zu übersetzen und in Berlin als deutschsprachige Erstaufführung unter dem Titel "Ruhe! Wir drehen!" herauszubringen. Regisseur ist hier Thomas Schendel, für das Bühnenbild ist  Oliver Lloyd Boehm verantwortlich. Die Kostüme schuf Viola Matthies.

Ort der Handlung ist einfach ein Drehort, ausgewiesen durch Scheinwerfer, Mikrofongalgen und Kamera. Gleich zu Beginn stürmt die Maskenbildnerin Christina (Susanna Capurso) auf die Szene, um, wie sie sagt, "Stimmung zu machen". Dann hat Oliver, der flinke Regieassistent (Karsten Kramer), seinen ersten Auftritt, und das Publikum  wird kurzerhand pauschal zur Komparserie erklärt, die für ihr frühes Erscheinen gleich ein Lob empfängt. Gigi, die Aufnahmeleiterin (Anne Rathsfeld) jongliert mit dem Mikrofongalgen, und der Regisseur Frank (Wolfgang Bahro) artikuliert seine unsterbliche Verliebtheit in Lola, die Schauspielerin( Annika Martens), die davon träumt, endlich eine Hauptrolle zu bekommen. Die dralle Aktrice Anne (Angelika Mann) liefert Repliken mit  trefflicher Kodderschnauze. Sie ist, wie man später erfährt, nur deshalb so rundlich, weil sie aus Sicherheitsgründen seit geraumer Zeit eine kugelsichere Weste trägt. Ihr Verehrer ist der Schauspieler Mario (Mario Ramos), eine fabelhaft karikierte Type, der vom Glauben an seine unwiderstehliche Ausstrahlung erfüllt ist, während alle anderen ihn gern einmal übersehen. Mario trägt ständig eine Waffe im Sakko, weil er vermutet, dass seine geliebte Anne einen Liebhaber hat, der irgendwo inmitten der Publikums-Komparserie sitzt. Produzent André (Karsten Speck) versucht mal ernsthaft, mal mit aufgesetztem Lächeln die Dreharbeiten voranzubringen. André ist im wirklichen Leben der Ehemann von Anne, die ihn dank eines gesunden Finanzpolsters an der kurzen Leine hält. Aus Rache möchte er Anne umbringen und vertauscht die Platzpatronen in Marios Waffe gegen echte Munition.

Während sich die Handlung bis zur Pause von einem Knalleffekt zum nächsten bewegt, nimmt sie nach der Pause noch einmal zusätzliche Fahrt auf. Dann wird nämlich unter den Komparsen im Parkett ein netter junger Mann gesucht, der den Liebhaber von Anne zu mimen bereit ist. Der wird dann auch gefunden, übernimmt seine Rolle anfangs mit einer gewissen  Zaghaftigkeit, was beim Publikum größte Anteilnahme auslöst. Mit zunehmendem Handlungstempo gerät dieser Sympathieträger dann doch noch in ein paar prekäre Situationen.

Von der Auflösung  und dem überraschenden Schlußeffekt soll hier nicht mehr verraten werden, um die Spannung nicht zu torpedieren. Nur so viel sei gesagt: das Publikum erlebt einen überaus vergnüglichen Abend, der in  langanhaltendem, begeisterterten rhythmischem Applaus mündet. Am Ende  stimmen sogar Publikum und Darstellerensemble aus voller Kehle Walter Kollos Schlager von 1913 "Die Männer sind alle Verbrecher" an - ein unvergeßlicher "Rausschmeißer".

102319
Ganz von dieser Erde
Premiere "Marias Testament"
im Renaissance-Theater Berlin

Ein in vieler Hinsicht ungewöhnlicher Theaterabend. Der irische Schriftsteller und Literaturkritiker Colm Tóibín veröffentlicht 2012 seinen Roman "The Testament of Mary", der Regisseur Elmar Goerden macht daraus eine Bühnenfassung, die 2018 in den Hamburger Kammerspielen Premiere  hatte und nun ein paar Abende lang auch im Berliner Renaissance-Theater zu sehen ist. Alleinige Darstellerin des anderthalbstündigen Monologs ist die inzwischen über 80jährige Nicole Heesters. Aber damit nicht genug der Besonderheiten: das Sujet rührt ans Allerheiligste und ist gewissermaßen ein Gegenentwurf zu den Überlieferungen des Neuen Testaments. Maria, die Mutter Jesu, gibt einen Bericht von Höhepunkten ihres Lebens, und sie tut dies ohne weihevolles Wortgeklingel, als einfache Frau und Mutter, die ganz von dieser Erde ist und allen Überhöhungen gründlich abhold.

Maria erscheint hier als eindimensionale Persönlichkeit und erlebt die Karriere ihres Sohnes inmitten der "Horde" seiner Jünger aus der Distanz eines schlichten Geistes, dem die Dimension des Göttlichen einigermaßen fremd bleibt. Desto ursprünglicher und lebendiger haften ihr die Details aus dem Leben Jesu im Gedächtnis, die wir aus der Überlieferung des Neuen Testaments kennen. Und es geschieht etwas ganz Merkwürdiges: in der Darstellung aus dem Munde dieser Frau bekommen ihre Schilderungen, frei von aller Blasphemie, eine gesteigerte Glaubwürdigkeit und Unmittelbarkeit.

Wir werden Augen- und Ohrenzeugen höchst seltsamer Ereignisse: der Erweckung des Lazarus, nachdem dieser vier Tage im Grabe gelegen hat, der Hochzeit zu Kanaa, wo Jesus sechs Krüge Wasser in Wein verwandelt, und schliesslich die Kreuzigung, wo Maria die Schmerzensschreie ihres Sohnes in grausamer Nähe miterlebt und sich davonstiehlt, als die brutalen Eindrücke übermächtig werden.

Das Ergebnis ist keineswegs ein Zerrbild der Überlieferung, sondern eher ein Gewinn an Wahrhaftigkeit.

Der Abend gehört natürlich Nicole Heesters und ihrer darstellerischen Kunst, die mit äußerster Ökonomie der Gesten und Gänge die Spannung hält und den Zuschauern ihre überaus prägnanten persönlichen Erfahrungen vermittelt. Im ausführlichen, dankbaren Schlußapplaus kulminiert die Bewunderung des Publikums für eine Leistung, die allein  für sich genommen schon hervorhebenswert ist und alles Befremdliche, Würdelose vergessen lässt. Auch wenn man vielleicht zögert, Marias finale These anzunehmen, dass die Welt es nicht wert sei, erlöst zu werden.

091419
Gottes gewundene Wege
Premiere "Hiob" von Joseph Roth
in der Vaganten Bühne Berlin

Ein erstaunlich ernsthafter, ernstzunehmender Abend, Theater, wie es vielleicht früher einmal war und wie man es an unseren grossen Bühnen inzwischen kaum mehr findet. Hier wird auf der Basis eines ungemein poetischen Romantextes ein erkenntnistheoretischer Konflikt bis zur letzten Konsequenz durchgespielt. Keine Ausflüchte, keine Appetithäppchen für ein übersättigtes Publikum, kein Kokettieren mit Gags oder Videotechnik. Einfach nur gute, ehrliche Bühnenarbeit.

Regisseurin Jasmina Hadžiahmetović, die auch die Bühnenfassung von Joseph Roths Roman aus dem Jahre 1930 übernommen hat, hält sich im gesprochenen Text sehr weitgehend an diese Vorlage, wodurch die überaus bildhafte, poetische Sprache dieses Autors ihren spezifischen Reiz entfalten kann. Hella Prokophs unprätentiöse Ausstattung der Bühne mit einfachen Lampengirlanden unterstützt die Konzentration auf die dargestellte Fabel. Einen besonderen Akzent setzen die weißen Papierbahnen, die zunächst an den Wänden befestigt und von den Schauspielern dann Zug um Zug mit gebetsartigen Anrufungen Gottes beschriftet werden.

Zwei weibliche und zwei männliche Darsteller übernehmen die Aufgabe, Joseph Roths Romangestalten lebendig werden zu lassen. Im Mittelpunkt steht Mendel Singer, Tora-Lehrer für jüdische Kinder im russischen Zuchnow (Christian Dieterle). Gemeinsam mit seiner Frau Deborah (Magdalene Artelt) hat er zwei Söhne: Jonas und Schemarjah sowie eine Tochter Mirjam, deren Rollen im Wechsel von Florian Rast und Senita Huskić übernommen werden. Als viertes Kind wird ihnen Menuchim geboren, der mit einer schweren Entwicklungsstörung zur Welt kommt. Daraus ergibt sich für die Familie eine belastende Prüfung, der Mendel und Deborah auf unterschiedliche Weise begegnen.

Mendel ist der Typus des tief gläubigen Juden, der ein sehr enges Verhältnis zu "seinem" Gott hat und alle Erfahrungen als unmittelbare Äußerungen von Lob und Tadel Gottes erlebt. Die beiden Söhne Jonas und Schemariah werden zum Militär einberufen, der pfiffigere Schemarjah setzt sich nach Amerika ab und schickt von dort Geld, damit die Eltern ebenfalls ins "freie Land" jenseits des Atlantik übersiedeln. Die zögern anfangs, weil es bedeutet, den behinderten Menuchim bei einer Pflegefamilie zurückzulassen. Schließlich machen sie sich zu Schiff auf den Weg.

Schemarjah, der sich jetzt Sam nennt, und sein Freund Mac melden sich beim Kriegseintritt Amerikas 1917 zum Militär. Sam fällt an der europäischen Front, und seine Mutter Deborah stirbt vor Kummer über die Todesnachricht. Bruder Jonas, der in Russland geblieben war, wird dort als verschollen gemeldet, und Tochter Mirjam erleidet eine Psychose und wird in eine Nervenheilanstalt eingeliefert. Mendel wird durch diese Kette von Schicksalsschlägen an seiner Gläubigkeit irre, lästert Gott und gerät selbst in einen Zustand der Raserei, und nach seinem wütenden Aufbegehren verlassen ihn die Kräfte. Wie im Traum bekommt er noch die Wende zum Guten mit, die im Roman von Joseph Roth noch sehr viel ausführlicher dargestellt wird. Eines Tages steht Menuchim im Flur, groß, stark und erfolgreich, und die anderen Familienmitglieder scheinen Mendel liebevoll zu umringen und im Ableben zu begleiten.

Das Premierenpublikum folgt dem "Roman eines einfachen Mannes", wie der Untertitel von Joseph Roths Werk lautet, mit nie nachlassender Aufmerksamkeit, ungeachtet des grüblerischen Naturells der Hauptperson, und am Ende belohnt reicher Applaus das Ensemble und das Regieteam für eine außergewöhnlich beeindruckende Leistung.


090919
Die Macht des...Regisseurs
Premiere von Verdis „La forza del destino“
in der Deutschen Oper Berlin

Das Schicksal hatte wohl schon in der Startphase dieser Oper launenhaft
seine Hand im Spiel. Die Premiere der Urfassung mit dem Libretto von Francesco Maria Piave und der Musik von Giuseppe Verdi fand nach allerlei Besetzungsquerelen 1862 in Sankt Petersburg statt. Die Aufführung war ein Erfolg, aber Verdi selbst monierte dramaturgische Schwächen und veranlasste Antonio Ghislanzoni zur Überarbeitung des Librettos. Die Premiere dieser modifizierten Fassung erfolgte dann 1869 an der Mailänder Scala. In Deutschland war das Werk erstmals 1878 an der Berliner Krolloper zu sehen.

Frank Castorfs, des Ex-Volksbühnen-Intendanten erste Berliner Operninszenierung fand an der Deutschen Oper statt, und sie geriet zu einem Musterbeispiel deutschen Regietheaters, hinter dessen Umrissen die Konturen der überlieferten Verdi-Oper nur noch mit viel gutem Willen aufzufinden waren.  Im Laufe des Abends kam dem Publikum aber diese Nachsicht abhanden, und das Ergebnis war eine Aufführung, die knapp am Abbruch vorbeischipperte.

Aber der Reihe  nach. Frank Castorfs Inszenierung folgt einem durchaus einleuchtenden Konzept, bedient sich dafür aber leider streckenweise der falschen Mittel. Was für einen Theaterregisseur ja nicht verwerflich ist, sich aber in der Opernregie aus vielen Gründen definitiv verbietet. Das Konzept läuft darauf hinaus, die Handlung dieser Verdi-Oper konsequent als Anti-Kriegs-Appell zu präsentieren, und daran ist ja auch insoweit nichts auszusetzen.

Das Bühnenbild von Aleksander Denic nutzt die Möglichkeiten der Drehbühne. Im Kreis sind nebeneinander angeordnet: ein Haus, ein Gasthof, eine Kirchenfassade und ein Lazarett. In der Gestaltung dieser Orte mischen sich unbekümmert Stilelemente aus verschiedenen Epochen und Regionen.

Als szenisch belebenden Faktor setzt Castorf, wie er das gern tut, ausführliche  Video-Implemente ein. Intelligente Personenregie wird dabei  durch extensiven Gebrauch von Live-Handkameras ersetzt, deren Elaborate dem sowieso schon durch Reizüberflutung stark geforderten Opernbesucher auf ein bis zwei Video-Projektionsflächen dargeboten werden. Dadurch kann man sowohl Handlungsabläufe aus dem Inneren von Gebäuden wie auch zum Beispiel die blutigen Operationsdetails aus einem Lazarett am Schlachtfeldrand dem Zuschauer nahebringen.

Am Anfang der schicksalhaften Komplikationen der Opernhandlung steht ein rassistisches Vorurteil, in dessen Folge der Vater der Heldin Leonora de Vargas (Maria José Siri) unabsichtlich getötet wird. Don Alvaro (buchstäblich perfekt: Russell Thomas) flieht und tritt in das in Italien kämpfende spanische Heer ein, nur um dort Leonoras Bruder Carlo ( Markus Brück) zu treffen und nichtsahnend mit ihm Freundschaft zu schliessen. Aber die Tarnung fliegt auf, beide Rivalen wollen sich duellieren, aber dazu kommt es erst später. Vor den Toren des Klosters, in das Alvaro geflüchtet ist, kommt es zum Showdown. Alvaro verwundet Carlo im Duell, die aus ihrer Einsiedelei herbeigeeilte Leonora will ihm die Sterbesakramente erteilen, aber Carlo ersticht sie aus Rache. Alvaro bleibt verzweifelt zurück.

Mit dem Ablauf dieser mörderischen Geschichte geht es lange Zeit gut. Der Zuschauer ist damit beschäftigt, das eine oder andere Rätsel szenischer Geschehnisse zu lösen, etwa das Auftauchen eines androgynen Indios, der seiner Umgebung bald sichtbar, bald unsichtbar zu sein und Sünde wie Buße gleichermaßen zu symbolisieren scheint. Aber dann, in einer späten Phase der Schicksalsschläge, geht der Theaterregisseur mit Castorf durch. Er läßt zunächst den Indio und dann zwei andere Ensemblemitglieder sehr ausführliche Texte von Heiner Müller und Curzio Malaparte deklamieren, deren Zusammenhang mit der Opernhandlung auch bei bester Absicht kaum zu ermitteln ist. Das Publikum wird unruhig, unterbricht den Vortrag mit Zwischenrufen, fordert ein Ende des Textvortrags und die Rückkehr zur Musik. Minutenlang ist außer dem Lärm der Protestierenden nichts zu vernehmen, das Orchester pausiert.  Schliesslich wird die Rezitation wieder aufgenommen, die Oper findet ihren Fortgang, und Leonora kann mit ihrer berühmten Arie "Pace,Pace" wieder etwas Öl auf die Wogen der Erregung gießen.

Das Kuriose an diesem Hergang besteht darin, dass die Aufführung  musikalisch absolut ohne Tadel ist. Maestro Jordi Bernàcer hat sein Orchester gut im Griff, die Ouvertüre gerät etwas knallig, aber später gelingen auch diejenigen Partien gut, die einiges Feingefühl erfordern. Die Chöre sind zuverlässig einstudiert, auch wenn es gelegentlich rhythmische Divergenzen mit dem Dirigenten gibt. Die Solistenrollen sind sämtlich mit hervorragenden Stimmen besetzt.

Zum Lohn ist der Schlußapplaus überaus reichlich und mit vielen Bravorufen durchsetzt. Auch Regisseur Frank Castorf scheut die Begegnung mit dem Publikum keineswegs, löst allerdings mit ein paar selbstverliebten Gesten einen Reaktionssturm aus, bei dem sich die Pro-Castorf-Claque und ihr Widerpart akustisch erbittert bekämpfen. Zurück bleibt ein etwas ratloses Publikum, bei dem sich lediglich die Meinung durchsetzt, dass diese Aufführung dem Andenken und Geist Verdis kaum dienlich gewesen sein kann.


090819
Ein Mordsvergnügen
Premiere von "Adel verpflichtet"
im Schloßpark Theater Berlin


Es ist eine mehrfach genutzte Spielvorlage, dieses "Adel verpflichtet", hier von Dogberry & Probstein (Pseudonyme von Übersetzer und Autor Anatol Preissler und Co-Autor und Schauspieler Otto Beckmann) nach dem Roman "The Autobiography of a Criminal" von Roy Horniman aus dem Jahre 1907. Der Roman lieferte bereits die Drehbuchvorlage für den Film von 1949, in dem Alec Guinness sämtliche Mitglieder der D'Ascoyne-Familie spielt, die er entlang der Erbfolgelinie aus dem Wege räumen muss, um selbst des ihm zu Unrecht vorenthaltenen Adelstitels teilhaftig zu werden. Schon aus diesem Ansatz wird deutlich, worum es hier geht: serviert wird ein  Destillat tiefschwarzen britischen Humors mit einer Menge zündfähiger Knalleffekte und im Wechsel mit versonnen-versponnener, etwas sarkastisch getönter Lebensphilosophie.

Regisseur Anatol Preissler püriert die Romanhandlung zu einer kurzweiligen Folge wirkungsvoller Szenen, in denen die erstaunlichen Verwandlungsmöglichkeiten der kleinen Bühne im Verein mit flottem Licht- und Sound-Design vorteilhaft zur Geltung kommen.

Victor Lopez( Otto Beckmann) sitzt hinter Gittern und harrt seiner Hinrichtung, weil ihm der Mord an seinem Rivalen Lionel Holland (Tommaso Cacciapuoti) zur Last gelegt wird, den er aber nicht begangen hat. Die Wartezeit verbringt er im Dialog mit seinem Henker William Calcraft (Oliver Nitsche) beim Verfassen seiner Memoiren. Die fördern eine beispiellose Karriere zutage: Victors Vater ist ein etwas windiger mexikanischer Schlagersänger (ebenfalls Tommaso Cacciapuoti), der sich zum Vergnügen des Publikums immer wieder mit geplärrten Extempores in Erinnerung bringt. Die Mutter aber (Jantje Billker) stammt aus dem Adelsgeschlecht derer von Gascoyne, und sie setzt ihrem Sohn den Floh ins Ohr, er sei damit etwas Besseres. Der Sohn hat daraufhin nichts Eiligeres zu tun, als diejenigen Adligen ins Jenseits zu befördern, die in der Gascoyne-Erbfolge vor ihm rangieren, um selbst ein Gascoyne zu werden. Er tut dies ebenso unauffällig wie ingeniös, so dass ihm bei seinen Mordtaten niemand auf die Schliche kommt.

Auf der Szene wird diese Meuchel-Rallye nun mit viel Fantasie und schauspielerischem Geschick vorgeführt. In Erinnerung bleiben davon vor allem die Auftritte der Hallervordens: Vater Dieter glänzt als bärbeißiger Bankbesitzer, als Schauspieler (was in ein hinreissendes Grotesk-Video mit Stummfilmeffekt mündet), als Pater und als Hundeliebhaber, dessen gedopte Huskies den Schlittenfahrer so lange über den zugefrorenen See ziehen, bis der selbst zum Eiszapfen erstarrt ist. Sohn Johannes steht ihm in seinen Verwandlungen keineswegs nach: sowohl als Schachspieler wie als Tante Ughtretta Gascoyn hat er die Lacher auf seiner Seite. Wenn die Tante, von kleinster Sünde belastet, in den Beichtstuhl wankt, der mit elektrisch (über Fahraddynamo) gezündeten Knallkörpern bestückt ist, hat die Mordserie einen Höhepunkt erreicht. Als smarter Graf Simeon Gascoyne beendet er schliesslich sein Dasein bei einem Jagdunfall während einer Fuchsjagd.

Victor ist am Ziel, wäre da nicht diese vertrackte Mordanklage. Aber da kommt Sibella Holland (Annika Martens) ins Spiel, die einen Abschiedsbrief ihres Mannes verwahrt, der Viktor entlastet. Dummerweise hat der aber beim Gang in die Freiheit sein Manuskript mit den Memoiren in der Zelle liegen lassen. Der Henker triumphiert. Nun darf er doch noch seines Amtes walten.

Das Publikum folgt der Story mit Begeisterung und spendet am Ende dem gesamten Ensemble reichen Applaus.  Allein das Vergnügen, dem unverändert vitalen Didi Hallervorden bei seinen Gratwanderungen zwischen Parodie und Klamotte zu folgen, lohnt diesen Theaterabend auf jeden Fall.

081819
Eine zeitlos moderne Parodie
Jacques Offenbachs "Orpheus in der Unterwelt"
aus Salzburg auf Arte

Es ist ohne Zweifel einer seiner größten Erfolge: Jacques Offenbachs "Orpheus in der Unterwelt" auf ein Libretto von Ludovic Halévy und Hector Crémieux, uraufgeführt 1858 in Offenbachs eigenem Theater, dem " Théâtre des Bouffes Parisiens" in Paris. Der geniale Handlungsvorwurf parodiert einerseits die allseits bekannte griechische Mythologie, hält dabei aber auch der zeitgenössischen Society den Spiegel vor, und das mit derart sicherer karikaturistischer Pose, dass ein geschickter Regisseur diesem mit leichter Hand und zündender Musik entworfenen Geniestreich auch heute noch mannigfache Analogwirkungen zu entlocken vermag, die dem Werk schon seit über zwei Jahrhundertwenden  eine dauerhafte Bühnenpräsenz sichern.


Bei den diesjährigen Salzburger Festspielen hat Barrie Kosky, langjähriger Intendant der Berliner Komischen Oper, Offenbachs Opus vom Staub der Jahrzehnte befreit und ihm Farbe und Vitalität gegeben. Vom Resultat konnte man sich jetzt in einer Aufzeichnung des Fernsehsenders Arte einen Eindruck verschaffen.

Eine formvollendete, etwas brave Ouvertüre, von Enrique Mazzola am Pult der Wiener Philharmoniker akkurat exekutiert. Die Öffentliche Meinung in Gestalt von Anne Sofie von Otter läßt in einleitenden Worten sofort ihre steuernde Macht erkennen. Kathrin Lewek als Eurydike interpretiert mit süffigem Sopran die Angelpunkte ihrer ehelichen Rolle, wobei ein hübscher Schäfer eine Rolle spielt. Interpret und kontinuierlich virtuoser Geräuschemacher am Rande, der auch sämtliche Sprechtexte beisteuert,  ist John Styx (Max Hopp). Den ewig Violine spielenden Gatten Orpheus mimt Joel Prieto, unisono synchron mit Styx. Kein Zweifel: die eheliche Harmonie ist am Ende. Orpheus sagt Adieu. Ein fröhlich hüpfendes Bienenkollektiv füllt die Bühne, begleitet von einer dieser quirligen Offenbach-Musiknummern. Als Imker vom Dienst setzt sich Aristäos ( Marcel Beekman) an ihre Spitze.  Eurydike nähert sich ihrem Geliebten und lässt sich die näheren Umstände ihres nahenden Todes erläutern. Stimmlich ist sie äusserst vital und berückend suggestiv unterwegs, aber der lüsterne Schäfer ist in Wahrheit Pluto, der Beherrscher der Unterwelt.

Die Öffentliche Meinung tadelt Orpheus für seine mangelnde Teilnahme am Tod seiner Frau. Sie überreicht ihm die Violine als Aufforderung zu pflichtgemäßem Verhalten. Die Szene endet in mitreissendem musikalischen Furioso.

In Gestalt kreisender Leuchter schwebt die Welt der Götter herab. Cupido (Nadine Weissmann) erläutert ihre Sicht der Dinge. Venus (Lea Desandre) kommt zu Wort, dann öffnet Jupiter ( Martin Winkler) der Göttin Diana (Vasilisa Berzhanskaya) die Tore. Juno ( Frances Pappas) zählt die Seitensprünge ihres Gatten, und Jupiter droht mit Hausarrest für die gesamte Olymp-Truppe einschliesslich Merkur (Peter Renz) und Mars (Rafal Pawnuk).

Botschaft aus der Unterwelt : Pluto wurde mit Eurydike gesehen. Pluto sucht Jupiter auf und preist in einem fetzigen Couplet die Annehmlichkeiten der Götterwelt. Jupiter bleibt gnadenlos beim Verdikt Plutos und seiner Eurydike. Bewundernswert Koskies Einfallsreichtum zur mimischen und pantomimischen Belebung der Bühnenhandlung. Dann folgt das hinreissend choreographierte Gelächter- Ensemble. Nun gilt es, die zusammen mit Orpheus im Olymp eingetroffene Öffentliche Meinung gebührend zu empfangen. Orpheus klagt zur Gluck-Melodie mit falsch intonierter Violine scheinheilig über den Tod seiner Frau. Schliesslich macht sich die gesamte Besatzung des Olymp unübertrefflich schwungvoll auf den Weg in die Unterwelt, zur Klärung eines Sachverhalts.

Die Öffentliche Meinung, farbenfroh kostümiert, tritt nach der Pause als erste vor den Vorhang. Eurydike härmt sich in einem unterirdischen Boudoir, und Hans Styx gedenkt verflossener Zeiten als Prinz von Arkadien. Jupiter und Pluto treten ein, und Styx zelebriert eine Gerichtsszene. Alles in herrlich überdrehter Grotesk-Diktion. Mit Blitz und Knall nimmt die Verhandlung ihren Fortgang. Cupido in Begleitung von viel halbnacktem Teufelspersonal gibt Ratschläge zur Liebeskunst, immer in Gestalt frivoler Couplets, die höchst einfallsreich gruppiert und illustriert sind. Jupiter als Fliege versucht Eurydike zu verführen. Ein Kabinettstückchen parodistischer Erotik- Persiflage mit zum Glück nicht erigiertem Membrum virile.

Koskys unerschöpfliche szenische Fantasie präsentiert ein Ballett geköpfter Tänzer - ein geglücktes teuflisches Intermezzo. Eine Eloge auf Pluto und seinen Wein folgt. Eine Hymne auf Bacchus unter Cupidos Anleitung : selten hat man eine solche Fülle erotischer Anspielungen gesehen, ohne von pornografischer Aufdringlichkeit bedrängt zu werden. Venus präsentiert sich: eine auch stimmlich perfekte Opernszene. Dann ein Menuett für Jupiter. Darauf  der grosse, rot umrandete und wunderbar zügellose Cancan mit Chor und Orchester.

Noch einmal Glucks Orpheus- Thema. Dann Eurydikes Rückweg aus dem Hades, ein fröhlicher Marsch. Aber fatalerweise dreht sich Orpheus um, und schon ist er seine Frau wieder los. Abermals bricht der Cancan herein - ein fulminantes Finale. 

Bei Enrique Mazzola war Offenbachs Partitur in guten Händen. Er vermochte gelegentlich Ruhe zum Atemholen einziehen zu lassen, vor allem aber Offenbachs brillant losbrechende Musiknummern zu all der akustischen Kraft zu entfesseln, die ihren unvergleichlichen Reiz ausmachen.

Der Beifall hat Sturmcharakter, und man muss wohl am deutlichsten den Regieeinfall von Barrie Kosky loben, sämtliche Sprechtexte lippensynchron von Max Hopp vortragen zu lassen- das beseitigt gleich eine ganze Handvoll von Schwächen, an denen andere "Orpheus"- Inszenierungen kranken. Insgesamt eine perfekte Renaissance der Offenbach-Adaption. Langeweile war selten so abwesend.

072819
Die erste Bayreuther Neuinszenierung des Jahres
Wagners "Tannhäuser" aus Bayreuth
als Aufzeichnung von der Premiere bei 3SAT   
   
Die vergleichsweise revolutionäre Forderung, eine Oper möglichst akkurat vom Blatt zu spielen und sie dabei so nah wie nur denkbar an die Intentionen des Komponisten und seines Librettisten heranzuführen, vermöchte heute kein Regisseur ohne Gewissensbisse zu realisieren-man könnte ihn ja des Mangels an Einfällen oder gar der Fantasielosigkeit zeihen. Also ersinnt er in einer Flucht nach vorn immer neue Chiffren, Symbolismen und Systeme, in deren Förmchen dann das überlieferte Urmaterial der Opernhandlung gepresst wird. Das Publikum hat zu goutieren, was ihm vorgesetzt wird.

Der „Tannhäuser“, Wagners Selbstporträt als Wanderer zwischen Eros und Agape, 1845 in erster Fassung zu Dresden uraufgeführt, ist in diesem Jahr die erste Neuinszenierung bei den Bayreuther Festspielen. Tobias Kratzer hat inszeniert und sich dabei auf intelligente Weise vom Hergebrachten gelöst.
       
Zur Ouvertüre ein Video von einem Citroën-Lastwagen, der den Weg zur Wartburg hinauffährt, vorbei am Plakat von der Schliessung jener Biogas-Anlage, die im Mittelpunkt einer umstrittenen früheren Tannhäuser-Inszenierung gestanden hatte. Besatzung: Ein Clown, ein Kleinwüchsiger, ein Dunkelhäutiger und eine Blondine. Konsequent Jetztzeit. Ein Wächter am Wege wird überfahren, nichts hindert den Weg nach oben.

Der Vorhang hebt sich, die Mannschaft entsteigt dem Lastwagen, die ersten Choreinsätze kommen aus einem Ghettoblaster, den der kleinwüchsige Blechtrommler hochhält. Picknick-Pause, der Chor begleitet. Die Blondine erweist sich als Venus (Elena Zhidkova), der Clown ist Tannhäuser (Stephen Gould). Dann der Einstieg in den überlieferten Text, etwas unvermittelt. Den erotischen Reiz der blonden Venus unterstreicht die tänzerische Präsenz des dunkelhäutigen Travestiekünstlers  Le Gateau chocolat.   Tannhäuser verläßt den Venusberg, am Steuer des Wagens wieder die Venus, die ihn nolens volens aus ihrem Bannkreis entläßt. Er stürmt davon, Maria im Herzen.

Ein Hirt (Katharina Konradi mit Fahrrad) findet den am Boden kauernden Tannhäuser und gibt ihm zu trinken. Von fern klingt der Pilgerchor herein. Der Zwischenvorhang hebt sich und gibt den Blick aufs Festspielhaus frei, den Hort der Hochkultur. Tannhäuser dankt dem Himmel, dass er diesen Ort finden durfte. Ein paar Zuspätkommer streben noch dem Tempel zu, lagern sich dann zum Picknick im Vorgarten. Es sind die späteren Wettsänger, die den wiedergefundenen Tannhäuser als Ihresgleichen begrüßen.

Elisabeth taucht zwischen den Bäumen auf, eine weißgewandete hehre Gestalt ( Lise Davidsen), von Tannhäuser ungläubig gemustert. Die Wettsänger geleiten ihn zurück in den Festspieltempel.  In der Pause kann man die Venus-Truppe außerhalb des Festspielhauses in einem kleinen Park persönlich antreffen.

Zweiter Akt: Elisabeth wandert aus der Garderobe auf die Bühne und grüßt, vom Inspizienten hinausgeschickt, die "teure Halle" der Hauptbühne. Ein kraftvoll strahlender, hoffnungsvoll stimmender Sopran. Tannhäuser, nun kein Clown mehr, wirft sich ihr zu Füßen, im Hintergrund Wolfram von Eschenbach ( Markus Eiche). Immer wieder mal ein Blick aus der Seitengasse vom Inspizientenpult auf die Bühne : mal eine andere Sicht, als sie das Publikum gewöhnlich hat. Stephen Goulds Stimme verdient gewiß Bewunderung, scheint aber auch Spuren der Belastung aufzuweisen. Wolfram bahnt sich auf der Seitenbühne den Weg durch die hereinströmenden Gäste. Der Landgraf (Stephen Milling) preist mit souveräner, imposanter Stimme die "holde Kunst". Einzug der Gäste, häufig als "Festmarsch" fehlzitiert. Ein Video wirft sich dazwischen. Schwarzweiß, damit die Traumsphäre gewahrt wird. Die Venusberg-Truppe schleicht sich ins Haus, vorbei an einem Thielemann-Porträtfoto. Eine Choristin, eben noch auf der Toilette, wird an den ihr zukommenden Platz geleitet. Die wettstreitenden Sänger gehen in Position. Landgraf Hermann liefert das Eröffnungsstatement. Es gilt, der Liebe Wesen zu ergründen. Auf der Unterbühne geistern Teile der Venusberg-Truppe herum.

Wolfram eröffnet den Wettstreit. Tannhäuser meditiert derweil intermittierend außerhalb. Wolfram auf dem Catwalk erkennt der Liebe reinstes Wesen. Seitenbühne: Die nächsten Interpreten warten schon. Tannhäuser hat seine Wortmeldung, dann Walther von der Vogelweide (Daniel Behle). Widerrede von Tannhäuser, Genuss ist Liebe. Dann Biterolf (Kay Stiefermann), erneut Tannhäuser, dann wieder Wolfram. Jetzt brechen die Dämme: Tannhäuser preist die schiere Erotik, die hereingeschlichene Venus tanzt dazu. Die ganze Venusberg-Truppe ist jetzt auf dem Catwalk. Elisabeth plädiert für Tannhäuser, raffiniert wechselnd zwischen Schärfe und einschmeichelnder Süsse. Tannhäuser kehrt in die Arme der Venusberg-Truppe zurück.

Die Polizei kommt (in Schwarzweiss). "Der Sünde fluchbeladner Sohn" wird verdammt. An der Rampe die Riege der Verworfenen.  Einziger Ausweg: Nach Rom zum Gnadenfest!

Dritter Akt: Der Trümmerhaufen des Citroën. Essen aus der Büchse. Elisabeth taucht auf, ohne Krönchen. Ein Löffelchen vom Blechtrommler schmeckt ihr nicht. Wolfram kommt. Die Pilger ziehen vorbei. Elisabeth begrüßt die Pilger mit Emphase. "Allmächtge Jungfrau": das Gebet der Elisabeth liefert ein beredtes Plädoyer für diese Stimme. Wolfram schlüpft in Tannhäusers Montur.  Will Elisabeth geleiten. Elisabeth und Wolfram treiben es im Citroën. Wolframs Lied an den Abendstern. Elisabeth taumelt draussen herum. Der Blechtrommler streichelt Elisabeth.

Tannhäuser als Parkpenner. Die Romerzählung. Auf ewig verdammt ? Zurück zu Venus ? Da kommt sie herein, Venus, Drehbühne. Ruf nach Elisabeth. Eine Schlußszene, die an Faust II erinnert. Tannhäuser fleht an Elisabeth: Gottes Erbarmen wird beschworen. Ein majestätischer Schlußappell.

Von den akustischen Inkongruenzen, die dem Dirigenten Valery Gergiev angelastet wurden, war übrigens in dieser Aufzeichnung nichts wahrzunehmen.

072219
Ins Grandiose projiziert
Verdis "Rigoletto" per ZDF von der Seebühne
der diesjährigen Bregenzer Festspiele

Giuseppe Verdis "Rigoletto", uraufgeführt 1851 im Teatro La Fenice in Venedig, ist ein Kammerspiel von den tödlichen Folgen einer Hofintrige, bei der sich eine zynische Kamarilla auf grausame Weise für den Spott des Hofnarren Rigoletto rächt, der sich in seiner Position, vom leichtlebigen Herzog geschützt, für unangreifbar hält. Das Opfer wird Gilda, des Hofnarren geliebte Tochter, die sich anstelle ihres Vaters ermorden lässt. Der dargestellte Konflikt liesse sich ohne Schwierigkeiten aus dem ursprünglichen Milieu des Hofes von Mantua im 16. Jahrhundert herauslösen und in die Jetztzeit transponieren, wo ein ähnliches Konfliktpotential auch bei Auseinandersetzungen zwischen Clans durchaus vorstellbar ist.

Die Rigoletto-Realisierung bei den diesjährigen Bregenzer Festspielen hat Philipp Stölzl besorgt, der in Berlin nicht zuletzt durch seine Inszenierungen von "Rienzi" und "Parsifal" an der Deutschen Oper bekannt ist. Auch das Bühnenbild samt der grandios überdimensionalen Kopfplastik mit beweglicher Mimik stammt von ihm.

Das von Enrico Mazzola flott dirigierte Festspielorchester aus den Wiener Symphonikern hat anfangs den knappen, trockenen Sound einer Feuerwehrband.  Rigolettos (Vladimir Stoyanov) Dialog mit dem Auftragsmörder Sparafucile ( Miklós Sebestyén) bekommt überraschenderweise trotzdem auch klanglich die notwendige Intimität, die anschliessende Selbstmitleidsklage Rigolettos im Lichtkegel des Punktscheinwerfers ergreift, und Gildas (makellos: Mélissa Petit) erster Auftritt in der Wölbung einer gewaltigen Hand, aus der sie zu Rigoletto abgeseilt wird, ist zweifellos ebenso spektakulär wie auch musikalisch überzeugend. Der helle, warme Sopran von Mélissa Petit nimmt ohne Einschränkung  für die gesangliche Qualität der Aufführung ein. 

Kontinuierlich wird auch dem Auge des weniger Musikgeneigten Pantomimisches wie Akrobatisches dargeboten. Der Herzog als Student Gualtier Maldé (stimmlich voll präsent: Stephen Costello) im Dialog mit Gilda: auch musikalisch voll überzeugend. Gildas Arie aus der Kanzel eines Luftballons erweckt doppelte Bewunderung sowohl für den ungewöhnlichen Vortragsort wie für die technisch und musikalisch gleichermassen gelungene Umsetzung. Gilda wird gekapert - Rigoletto macht mit in einer fabelhaft choreographierten und exakt exekutierten Chorszene.

Später ein scheinbar edler Moment: der Herzog klagt über die ihm entrissene Geliebte, dazu überaus phantasievolle szenische Spiele mit den Augäpfeln des Superkopfes. Der Herzog scheint von echter Liebe bewegt. Rigoletto  beklagt, was ihm widerfahren ist. Nun beschimpft er die Höflinge. Er klagt auf Rückgabe seiner geraubten Tochter.

Die periphere Optik: Ein bissel ist es wie Zirkus. Jedem wird etwas geboten. Gilda schwärmt beredt für ihren Liebhaber. Rigoletto beweint par distance das Los der ihm entrissenen Tochter. Nun alles in Rot getaucht, Rigoletto schwört dem Herzog Rache, Gildas schönster Spitzenton steht brillant im Raum.

“La donna e mobile”: sowohl der Herzog macht seine Sache glänzend wie auch die über dem Mammutkopf agierenden Pantomimen. Der Herzog fällt zurück in alte Gewohnheiten vor der dekorativen ihn umgarnenden Zielscheibe: Gilda erlebt sich als Betrogene. Die Mordszene kündigt sich an. Rigoletto fädelt die Tat ein. Eigentlich solls den Herzog treffen, doch der legt sich schlafen.

Sparafucile lässt sich überreden, statt des Herzogs einen im stürmischen Gewitter hinzugekommenen Tramp zu meucheln: es ist Gilda, und Rigoletto entdeckt in dem  ihm übergebenen Leichensack  statt des Herzogs seine eigene Tochter. Bewegende, echt opernhafte Schlußszene, Abschied in verschwebenden Ton: “Ha, jener Fluch des Alten!” Dann überschwänglicher, verdienter Applaus für eine inszenatorisch-technisch wie sängerisch überzeugende Gesamtleistung.



062519
Ein folgenschwerer Brudermord
Konzertante Premiere "Hamlet" von Ambroise Thomas
in der Deutschen Oper Berlin

Zum Saisonschluss präsentiert die Deutsche Oper Berlin als konzertante Aufführung in  der Reihe ihrer Premieren in erstklassiger Besetzung eine erstaunliche Entdeckung: die hierzulande selten zu hörende Oper "Hamlet" von Ambroise Thomas in der französischen Fassung aus dem Jahre 1868. Zugrunde liegt das bekannte makabre Familiendrama, das zuerst William Shakespeare etwa 1602  am dänischen Königshof ansiedelte. Alexandre Dumas der Ältere und Paul Maurice formten daraus ein französisches Bühnenstück, das wiederum die  routinierten Librettisten Michel Carré und Jules Barbier zur Vorlage für den schon mit der Oper "Mignon" erfolgreichen Komponisten Ambroise Thomas bearbeiteten, der zwei Jahre nach der Uraufführung von "Hamlet" zum Chef des Pariser Konservatoriums avancierte.

Das Faszinierende an der "Hamlet"- Handlung ist der Umstand, dass man darin auf höchst fesselnde Weise verfolgen kann, wie der fatale Makel eines Brudermordes auf dem Königslevel unter zunächst ahnungslosen Verwandten das schleichende Gift einer untilgbaren Schuld verbreitet, die am Ende wieder Mord und Totschlag hervorbringt. In den Händen einer wie hier ganz hervorragenden Besetzung offenbart das Werk abseits jeder Routine alle heute so geschätzten Details einer Krimi-Handlung, und diese starke Wirkung wird in Form der konzertanten Aufführung eher noch konzentriert und auf die wesentlichen Aspekte fokussiert.

König Claudius (mit schönem Bass: Nicolas Testé) hat seinen Bruder mit Gift getötet, sich selbst zum König gemacht und heiratet wenig später die Witwe des Ermordeten, Königin Gertrude (mit fabelhaft ausdrucksstarkem Mezzo: Eve-Maud Hubeaux). Prinz Hamlet, der Sohn des ermordeten Königs (mit intensivem Bariton und suggestiver Gestik: Florian Sempey), bislang Ophélie versprochen, der Tochter des Polonius, ahnt zunächst nichts von der Intrige, der sein Vater zum Opfer gefallen ist. Ophélie ihrerseits (mit überragendem Koloratursopran: Diana Damrau) sieht der Heirat mit Hamlet entgegen. Da geschieht etwas Gespenstisches: der Geist des Ermordeten (mit kernig-dunklem Bass: Andrew Harris) erscheint Hamlet und fordert ihn auf, den Vater durch die Tötung des Mörders zu rächen.

Nun verändert sich Hamlets Charakter und Verhalten. Er brüskiert Ophélie und läßt eine Schauspieltruppe die mörderische Verschwörung als Bühnenstück aufführen, damit sich Claudius durch seine Betroffenheit selbst entlarvt. Enthüllung und folgende Konfrontation zwischen den Beteiligten bringen aber noch keine abschließende Klärung. Hamlet attackiert seine Mutter wegen ihrer allzu raschen Heirat mit dem Königsmörder und vernimmt später zufällig, dass Ophélies Vater Polonius gleichfalls in die Mordintrige verwickelt war. Damit sind die Liebe zu  Ophélie wie auch die Freundschaft zu ihrem Bruder Laërte (Philippe Talbot) zerbrochen. Ophélie, die von den Hintergründen dieses Sinneswandels nicht ahnt, wählt  im 4. Akt nach einer ergreifenden Wahnsinnsarie zur Begleitung durch einen zarten Summchor den Freitod im Wasser. Dieser ausführlichen Szene läßt der Komponist ein Satyrspiel folgen: zwei Grabräuber ( Philipp Jekal und Ya-Chung Huang) preisen die beseligende Wirkung des Weins. Dann erfährt Hamlet über Laërte vom Tode Ophélies, tötet Claudius und gibt sich selbst den Tod.

Neben den überragenden Solisten gebührt vor allem dem Francokanadier Yves Abel am Pult das Verdienst, durch unermüdlichen, fein abgestimmten Körpereinsatz sowohl dem hochkonzentrierten Orchester wie dem bestens präparierten Chor (Einstudierung: Jeremy Bines) eine blendende Leistung nach der anderen zu entlocken.  In Erinnerung bleiben auch eine ganze Reihe bemerkenswerter Instrumentalsoli, darunter eine virtuos exekutierte Saxofonpartie und verschiedene Bläserakzente.

Mit ausführlichem Jubel und anhaltenden Bravorufen honoriert das Premierenpublikum eine Ensembleleistung, die auf denkwürdige Weise einen intensiven Eindruck von der Phantasie- und Empfindungswelt in der Mitte des 19. Jahrhunderts vermittelt.

060319
Tanz der Ikonen
Premiere "Spatz und Engel"
im Renaissance-Theater Berlin

Es ist gewiß eine Gratwanderung, zwei Ikonen des Showgeschäfts wie Marlene Dietrich und Edith Piaf leibhaftig auf der Bühne miteinander gegeneinander antreten zu lassen. Wenn dies aber gelingt, wie jetzt im Berliner Renaissance-Theater, dann wird daraus ein großartige Reality-Inszenierung.

Das Theaterstück stammt von Daniel Große Boymann und Thomas Kahry und fußt auf einer Idee von David Winterberg. Regie führt Torsten Fischer. Die Ausstatter Herbert Schäfer und Vasilis Triantafillopoulos bauen ihm eine Bühne, die wirklich nur eine kahle  Showbühne mit ein paar Standmikrofonen ist. Nach hinten wird sie, grandiose Idee, durch einen riesigen, von einem Lichtband begrenzten Spiegel abgeschlossen, der die Akteure in Rückenansicht abbildet und außerdem noch ein Livebild des Publikums im Zuschauerraum liefert.

Spatz Piaf und Engel Dietrich hatten ein Verhältnis, das man wohl irgendwo zwischen Freundschaft und Liebe ansiedeln muss. Es gab Thriumphe und Abstürze bis zum völligen Zerwürfnis, aber zumindest in Gedanken stellte sich auch immer wieder Verzeihung ein.

Beide Titelfiguren, Anika Mauer als Marlene Dietrich und Vasiliki Roussi als Edith Piaf sind grandios und beherrschen mit ihren Auftritten die Szene. Ralph Morgenstern und Guntbert Warns liefern als Sparringspartner mal eine Momentaufnahme männlicher Partner, mal einfach ein paar ergänzende Informationen. Am Flügel sitzt  Harry Ermer, und es liesse sich nicht leicht ein einfühlsamerer Songbegleiter denken. Eugen Schwabauer steuert per Akkordeon die Klangfarben der französischen Chansons bei.

Edith Piaf ist nach chaotischer Kindheit und Jugend selig über ihr Leben zwischen dem Geliebten, dem Boxer Marcel Cerdan und der Freundin Marlene. Aber der unbeschwerten "menage à trois" ist keine Dauer beschieden. Marcel nimmt ein Flugzeug, um rascher zu Edith zu kommen, das Flugzeug stürzt ab, und er büßt sein Leben ein. Die Piaf wird depressiv und drogenabhängig. Gleichwohl geht das Leben weiter, und die beiden Freundinnen teilen Trost und Streit.

Die Lebensgeschichte von Piaf und Dietrich bildet den roten Faden, der die Bühnenhandlung zusammenhält. Den eigentlichen Kern des Bühnengeschehens bilden aber die Songs, die in einer faszinierenden Annäherung an die unerreichbaren Originale dargeboten werden. Anfangs dominieren die Chansons der Piaf. Vasiliki Roussi taucht hier stimmlich und figürlich derart tief in das Psychogramm ihrer Vorbildfigur ein, dass man immer wieder die Piaf zu hören und zu sehen meint. Aber Anika Mauer steht ihr in der Imagination der Marlene Dietrich keineswegs nach. Wenn sie mit Frack und Zylinder oder im langen, eleganten Glitzerkleid die Bühne betritt, geht ein Raunen durchs Publikum, und spontaner Beifall brandet auf.

Wer die Songs der beiden so unterschiedlichen Showgrößen liebt, kommt an diesem Abend voll auf seine Kosten. Das beginnt mit der wohlbekannten, flott vorgetragenen Schnoddrigkeit "Wenn die beste Freundin...", geht über "Padam,Padam" von der Piaf und "Frag nicht, warum ich gehe" von der Dietrich bis zu Piafs "Milord" und "La vie en rose", von allen beiden interpretiert. Absoluter Kulminationspunkt sind zwei Titel: Das wunderbare "Sag mir, wo die Blumen sind" der Dietrich in der ernsten, klar artikulierten Interpretation durch Anika Mauer trägt ihr jubelnden Szenenapplaus ein. Und Vasiliki Roussi landet ihren persönlichen Haupttreffer mit dem schmetternden "Non, je ne regrette rien" - auch hier erreicht der Jubel des Publikums absolute Höchstwerte.

Insgesamt ein professionell gestalteter Song-Abend, der an szenischer Dichte und musikalischer Perfektion keine Wünsche offen läßt. Das Publikum honoriert die Revue mit begeistertem  Applaus.

053119
Ein zaubrisch' Spiel der Fantasie
Premiere "Don Quichotte"
in der Deutschen Oper Berlin

Zum Saisonfinale hat die Deutsche Oper Berlin zwei seltener zu hörende, aber nicht minder reizvolle Werke des französischen Opernrepertoires ins Programm genommen, die beide auf berühmte literarische Vorlagen zurückgehen. Den Anfang bildete jetzt Jules Massenets "Don Quichotte", und im Juni folgt  "Hamlet" konzertant von Ambroise Thomas, der zu den Lehrern von Massenet am Conservatoire de Paris gehört hatte.

Massenets Oper geht auf das spanische Nationalepos "Don Quijote" des Miguel de Cervantes aus dem Jahre 1615 zurück. Massenet vertont aber nicht diesen Ritterroman unmittelbar, sondern wählt für sein 1910 in Monte Carlo uraufgeführtes Werk ein Libretto von Henri Cain, das wiederum auf das Drama "Le Chevalier de la longue figure" des Jacques Le Lorrain zurückgeht. Durch diese mehrfache Filterung bleiben von der Handlung des Cervantes-Romans vor allem einige Schwerpunkte übrig, und die Handlung fokussiert sich nach bester französischer Tradition mit Vorrang auf die Liebe in vielerlei Gestalt.

Was die Neuinszenierung in der Deutschen Oper Berlin so hervorhebenswert macht, ist vor allem die Inszenierung von Jakop Ahlbom, deren Einfallsreichtum und feinfühlig disponierte szenische Fantasie den durchgehenden Hauptreiz der Aufführung ausmacht. Was hier an hübschen Zaubertricks und einfallsreichen Lösungen ohne Unterbrechung und in steter Faszination ausgebreitet wird, verdient uneingeschränktes Lob.

Don Quichotte ist hier nicht der hagere, irgendwie aus der Zeit gefallene Ritter "von der traurigen Gestalt", sondern ein eher mittelgroßer, durchaus properer, stimmlich höchst präsenter Gutmensch (Alex Esposito), während sein Knappe Sancho Pansa (Seth Carico) ihn deutlich überragt und auch noch gleich die Rolle des legendären Rosses Rosinante mit übernehmen darf. Was Don Quichotte auf seiner Abenteuerreise vorantreibt, ist die Liebe zu Dulcinée. (Clémentine Margaine), einer anfangs eher unscheinbaren leichtlebigen Schönheit, die in einer Dorfgemeinschaft von vielen Verehrern umschwärmt wird. Don Quichotte himmelt sie gleichfalls an, ungeachtet der schieren Aussichtslosigkeit seines Werbens. Zum Beweis seiner Liebe verspricht er ihr ein Perlencollier zurückzubringen, das ihr kürzlich von einer Räuberbande geraubt worden war.

Don Quichotte kämpft gegen Windmühlenflügel, die er für Riesen hält. Die Regie reduziert das Überbordende dieser Konfrontation charmant auf das Gegenteil: auf Tischen stehen bezaubernd winzige Windmühlenmodelle, deren drehende Flügel den Kontrast zwischen Fantasie und Realität absolut einleuchtend demonstrieren. Dann krabbeln schillernd kostümierte Käfer herein, die sich anschließend in die Räuberbande verwandeln. Zunächst scheint es dem Don an den Kragen zu gehen, aber seine naive Gutmenschlichkeit verwandelt die Szene in überwältigende Friedfertigkeit: die Räuber händigen Don Quichotte das geraubte Perlencollier aus, das er anschließend seiner überraschten Dulcinea zurückbringt. Nun ist der Augenblick gekommen, sie um das Jawort zur Heirat zu bitten.

Sie aber bricht in schallendes Gelächter aus, das sich in  der zuschauenden Dorfgemeinschaft fortsetzt: Fürs Heiraten ist sie nicht gemacht, sondern will ihr Herz und ihren Mund weiterhin jedem darbieten, der danach verlangt. Der gänzlich gebrochene Don Quichotte, den auch die Bewunderung und Hingabe seines Knappen Sancho Pansa nicht zu trösten vermag, haucht schließlich sein Leben aus, nachdem er Dulcinée ein letztes Mal als verklärtes Gestirn am Himmel wahrgenommen hat.

Die Perfektion der musikalischen Wiedergabe steht ebenbürtig neben der szenischen Realisierung, Die fabelhafte stimmliche Leistung von Alex Esposito in der Titelrolle überzeugt durchgehend. Wie er kraftvollen Ausdruck mit idealisierender Sanftmut verbindet, gibt der dargestellten Figur Kontur und Dimension. Seth Carico gibt mit ebenbürtiger stimmlicher Präsenz der Rolle des verehrungsvoll bewundernden Gefährten die notwendige Überzeugungskraft. Den Counterpart der liebevoll-herzlosen Dulcinée füllt Clémentine Margaine mit einer bewundernswürdigen Palette stimmlicher Farbgebung aus: vom leichtlebigen Sopran über markante Mezzotöne bis zum vernichtend kernigen Gelächter ist jeder Auftritt ein Pinselstrich zu einem weiblichen Porträt.

Um diese Spitzentruppe gruppiert sich ein umfangreiches Ensemble hervorragend typisierter szenischer Akzente. Da ist der Pedro von Alexandra Hutton, Cornelia Kim als Garcias, James Kryshak als Rodriguez und Samuel Dale Johnson als der eifersüchtige Juan. Ihnen zur Seite ein exzellentes Team von Tänzern, einem Gitarristen und einer umfangreichen, sogar namentlich im Programm genannten Statistengruppe. Besonderes Lob gilt dem von Jeremy Bines präzise vorbereiteten Chor, der sich akkurat im szenischen Konzept bewegt. Am Pult des wohldisponierten Orchesters der Deutschen Oper diesmal der Musikchef der Dallas Opera Emmanuel Villaume, beidarmig dirigierend, ein aufmerksamer Impulsgeber für Massenets bald poetisch dahinfliessende, bald markant akzentuierende Musik.

Das Publikum honoriert einen insgesamt sehr fesselnden Opernabend mit frenetischem Applaus, der gleichermaßen den Ausführenden wie dem Regieteam gilt.



050719
Solistisches und eine Kaffeekantate
Kammerkonzert der Hindemith-Gesellschaft
im Joseph-Joachim-Konzertsaal der UdK Berlin

Es hiesse zweifellos die vielzitierten Eulen nach Athen tragen, wenn man noch Rühmendes über die Tätigkeit der Berliner Paul-Hindemith-Gesellschaft nachtragen wollte. Seit mehr als 50 Jahren ist dieser „Verein zur Förderung von Musik und Schauspiel an der Universität der Künste Berlin“ mit großem Engagement darum bemüht, herausragende Talente zu fördern, deren materielle Basis allzu knapp bemessen ist. Das Kapital für ihr mäzenatisches Wirken generiert die Gesellschaft aus Mitgliedsbeiträgen und Publikumsspenden bei Konzerten, die ihre Stipendiatinnen und Stipendiaten zusammen mit Kammermusikpartnern geben. Eins dieser Konzerte fand jetzt im Joseph-Joachim-Konzertsaal der Berliner UdK statt.

Nach einem Grußwort der Gesellschafts-Vorsitzenden Prof. Roswitha Staege nimmt der Cembalist Tung Han Hu an seinem Instrument Platz, um eine Komposition von Bach-Sohn Carl Philipp Emanuel Bach vorzutragen: die Württembergische Sonate Nr. 1 in a-moll von 1742. Der zarte Cembalo- Klang, auf zwei Manualen mit feiner Akzentuierung angespielt, verzaubert den Saal und geleitet das Bewusstsein des Publikums in die Kerzenlicht-Atmosphäre des 18. Jahrhunderts. Ausgesprochen virtuos der lebhafte letzte Satz "Allegro assai" des ausgewählten Stückes.

Danach der Cellist Anton Spronk mit der Sonate für Violoncello solo aus dem Jahre 1953 von György Ligeti. Der erste Satz ist „Dialogo“ überschrieben und als Adagio, rubato, cantabile definiert. Ihm folgt ein Capriccio in schnellem Lauf, schließlich ein Presto con slancio, mit Entschiedenheit und feiner klanglicher Abstimmung vom Solisten interpretiert.

Anschliessend Gabriel Fauré mit seiner Sonate A-Dur op.13 aus dem Jahre 1875/76, gespielt von der Geigerin May Pitchayapa und Yui Fushiki am Steinway-Flügel. Allegro molto zu Beginn, flottes Tempo und leidenschaftliche Melodieführung. Ein sehr engagierter Dialog zwischen den beiden Instrumenten, streckenweise auch mal unisono. Dann ein Andante, vom Klavier bedachtsam eingeleitet, vom der Violine im beinahe andächtigen Duktus fortgeführt. Das Klavier markiert die Schritte, hingetupft, und die Violine zeichnet den Weg in sanglicher Melodik  nach. Sehr reine Klanggestalt der Violine. Ein Allegro vivo folgt: springlebendig eingeführt vom Klavier, dem sich die Violine in animierter Spiellaune anschliesst. Rhythmisch überaus prägnant und pointiert. Allegro quasi presto zum Schluß: noch einmal der schöne Fluss französisch-romantischer Kammermusik, hier besonders feinfühlig ausgeformt. In perlendem Ton geht das Klavier voran, die Violine folgt mit heiter formulierten Ergänzungen, miniaturisierten Zusätzen.

Nach der Pause eine komplette Bachkantate, die „Kaffeekantate“ „Schweigt stille, plaudert nicht“ von 1732. Mengqi Zhang übernimmt die Sopranpartie, den strahlenden Tenor singt Georg Drake, und der  Bassist in der Vaterrolle ist Christoph Brunner. Das begleitende Instrumentarium besteht aus Xiangchen Ji, Flöte, Luiza Labouriau und Alexandra Latinovic, Violinen, Dilhan Kantas auf der Viola, Sebastian Mirow am Violoncello und erneut Tung Han Hu am Cembalo.

Hier ist nun sogar ein Übergang zur szenischen Gestaltung angedeutet. Es gibt einen in hellem Tenor vortragenden Erzähler, ein kaffeesüchtiges Mädchen, das dieses Getränk als Modedroge des 18, Jahrhunderts preist, und einen Vater, der die Drogenabhängigkeit seiner Tochter beklagt und ihr ein ganzes Bündel von Strafmaßnahmen androht, um ihr das schwarzbraune Getränk zu verleiden. Der jeweils Vortragende tritt in der Mitte der Bühne an die Rampe, während die pausierenden Solisten an einem kleinen Beistelltisch rechts Platz nehmen, wo Kaffee aus einer Thermoskanne ausgeschenkt wird. Schliesslich gibt der zürnende Vater nach und verspricht seiner ( stimmlich sehr gewandt agierenden) Tochter Liesgen  einen passenden Mann zu finden. Sie will aber nur einen akzeptieren, der ihr weiter das Kaffeekochen erlaubt. „Die Katze lässt das Mausen nicht“, formuliert der Schlusschor dieser erfrischend amüsanten Bach-Kantate.

Den überaus reichen Schlußbeifall nutzt Hindemith-Beirätin Jutta von Haase, jedem der perfekt  agierenden Künstler mit einer langstieligen Rose zu danken und dezent auf die Spendenkörbchen am Ausgang hinzuweisen - zum Wohle des Brunnens, aus dem die Hindemith-Stipendiaten gespeist werden.

042919
Die rätselhafte Frau aus dem Meer
Uraufführung "Oceane"
in der Deutschen Oper Berlin

Theodor Fontanes Novellenfragment „Oceane von Parceval“ aus dem Jahre 1882 wurde zum Gegenstand einer Opernproduktion des Komponisten Detlev Glanert und des Librettisten Hans-Ulrich Treichel. Die Uraufführung dieses Auftragswerks der Deutschen Oper Berlin fand jetzt zum 200. Geburtstag des Autors im Opernhaus an der Bismarckstrasse statt.

Die Handlung knüpft an den uralten Mythos von  Nixen und Sirenen wie Undine und Melusine an,  geheimnisvollen weiblichen Wesen, die dem Meer entstammen und auf wundersame Weise in das Leben der Menschen eingreifen, dabei häufig scheitern und in ihr feuchtes Element zurückkehren müssen.

Glanerts „Oceane“ ist das szenisch sehr fesselnd umgesetzte Psychogramm einer Frau in einer psychischen Zwischenstufe, die sich danach sehnt, zu empfinden  wie andere Menschen, und die dazu gleichwohl ausserstande ist. Ihr unbewusstes Verhalten stösst die Allgemeinheit vor den Kopf, und sie hat am Ende keine andere Wahl, als dahin zurückzukehren, wo sie hergekommen ist.

Robert Carsens Regie verlegt Ort und Zeit der Handlung in die Jahre vor dem ersten Weltkrieg und auf die Terrasse eines einstmals mondänen Hotels an der Küste.  Madame Luise, die Prinzipalin (Doris Soffel) träumt von besseren Zeiten und wünscht sich eine Finanzspritze zur Hotelsanierung.  Ihr Diener Georg stimmt bei der Vorbereitung des Sommerballs in die Klage seiner Chefin ein ("Verschlissene Lampions, traurig, traurig"). Die ersten Gäste treffen ein, darunter der junge Gutsbesitzer Martin von Dircksen (Nikolai Schukoff)  und sein Freund Dr. Albert Felgentreu (Christoph Pohl), außerdem Pastor Baltzer (Albert Pesendorfer). Alle erwarten den Auftritt von Oceane von Parcevals (Maria Bengtsson), die zusammen mit ihrer Gesellschafterin Kristina (Nicole Haslett) im Hotel von Madame Luise logiert. Bevor Oceane erscheint, gehen Gerüchte über ihre Herkunft und ihren vermuteten Reichtum um. Als sie schließlich auftritt, ist Martin sofort in sie verliebt und tanzt mit ihr. Oceane gerät in Extase und steigert sich in einen emphatischen Solotanz, was die Ballgesellschaft mit Empörung und Ablehnung quittiert.

Später gesteht Martin Oceane seine Liebe, die aber von ihr nicht erwidert wird. Am nächsten Morgen wird am Strand ein ertrunkener junger Fischer gefunden, und der Pastor hält eine Andacht. Statt persönlicher Anteilnahme bleibt Oceane kühl und nimmt stattdessen an einem Picknick mit Martin sowie Kristina und Albert teil. Oceane küßt Martin, ohne dass sie dabei etwas fühlt. Martin verkündet daraufhin Albert und Kristina, die heiraten wollen, seine Verlobung mit Oceane. Bei der Bekanntgabe dieser Absicht im Kreise der Hotelgäste wird die gesellschaftliche Ablehnung gegenüber Oceane unverhohlen offenkundig. In der Schlußszene am Strand liest Martin den Abschiedsbrief Oceanes und bleibt allein zurück.

Die sehr konzentrierte Darstellung ohne Längen oder Leerlauf wird von der Musik in kluger Wahl der Mittel getragen und gesteigert. Der durchgehende Grauton in Kostümen und im Rahmen des Bühnenbildes fördert den rätselhaft-tragischen Gesamteindruck. Den stärksten optischen Akzent setzt die suggestive Videoprojektion von Meereswogen, in denen Oceane zeitweilig zu versinken scheint. Detlev Glanerts Kompositionstechnik unterstützt und koloriert die Szene, und Donald Runnicles am Pult des hellwachen Orchesters der Deutschen Oper Berlin ist ein souveräner Interpret dieser Partitur. Jeremy Bines hat die Chöre des Hauses mit gewohnter Sorgfalt instruiert, und sie erweisen sich sowohl als raunende Sirenen wie als kommentierende Hotelgesellschaft als sehr klangschöne Akzentsetzer.

Das Publikum der Uraufführungspremiere ist sowohl von der szenischen Gestaltung wie von der musikalischen Umsetzung gleichermaßen angetan und honoriert den erfolgreichen Beitrag zum Fontane-Jahr mit ausgiebigem Applaus für das Ensemble, das Orchester und die Solisten.

042519
Die Insel der Gestrandeten
Premiere der Berlin-Revue "Spreeperlen"
in der Vagantenbühne Berlin


Zu ihrem 70jährigen Jubiläum spendiert sich die mutige kleine Bühne neben dem Musical-Tempel "Theater des Westens" eine Produktion, die sie "Berlin-Revue" tauft. Wer nun aber geglaubt haben mag, hier träfen sich zum hundertsten Mal all die leidigen, angestaubten Berlinismen aus vergangener Zeit, sieht sich zur rasch einsetzenden Erleichterung gründlich getäuscht. Wenn überhaupt etwas an die Spree-Litaneien früherer Prägung erinnert, dann als behutsam angesetzte Parodie.

Stattdessen präsentiert ein glücklich ausgewähltes sechsköpfiges Ensemble in der Regie von Bettina Rehm nach einer Konzeption, die von der Regisseurin in Kooperation mit Lars Georg Vogel entwickelt wurde, eine fröhlich zusammengewürfelte Folge von Songs, die aber nicht einfach nur als Gesangsnummern vorgeführt werden. Vielmehr sind die einzelnen Interpretationen durch eine fiktive Handlung einleuchtend verknüpft, und das Ergebnis sind hundert Minuten ungetrübten Publikumsvergnügens. Dabei wird kein Wort gesprochen - alles ist Ausdruck plus Singstimme.

In der langen Reihe der melodiösen Urheber finden sich bekannte Namen wie Abba, Hilde Knef , Nina Hagen und Paul Kuhn, die aber wie Franz Schubert und Franz Lehár sämtlich und unmerklich in den Programmfluss eingeschmolzen werden. Wie unter einem Brennglas versammelt sich Berlin während einer Sommernacht in einer Strandbar, deren Wirt gerade schliessen will, als ihm nach und nach ein paar gestrandete Existenzen durch das Lametta der Bühnenumrandung hereinpurzeln (Ausstattung: Julia Hattstein). Da sitzt zum Glück noch die Pianistin Hanna (Hanno Siepmann) am Tafelklavier und klimpert versonnen ein paar Takte in Richtung Feierabend, aus dem dann aber fürs erste nichts wird. Stattdessen lässt sich Kathrin, die frühere Floristin (Anja Dreischmeíer), die jetzt als Strassenkind lebt, mit schön timbrierter Stimme und Hilde Knefs Song "In dieser Stadt war ich mal zuhaus" vernehmen. Zuvor war sie schon absolut glaubwürdig mit Stirnband und aufgehaltener Hand durchs Parkett gezogen, um "ein paar Euro oder ein Getränk" dem Publikum abzuluchsen.

Was nun folgt, wird unaufdringlich, aber gut funktionierend geleitet von Hanna am Piano in knallroter Abendrobe mit Spitzen-Oberteil und strohblonder Langhaar-Perücke, mit souveräner Gelassenheit jedes erledigte Notenblatt zur Seite legend. Dann kommt Patricia herein, aus Saarlouis stammend und jetzt beim Sicherheitsdienst der BVG (Stella Denis). Hinter der Theke agiert Sandro, der Wirt der Strandbar "Spreeperle" (Robert Huschenbett), ein routinierter Shaker vor dem Herrn. Dann ist da noch Jessica, die in Cottbus lebende Friseurin (Natalie Mukherjee) in einem großformatigen weißen quasi- Hochzeitskleid, deren jazzige Stimmgewalt es mit Tina Turner aufnehmen kann. Ja, und Florian, der höhere Angestellte eines Start-up-Unternehmens (Julian Trostorf), den Freuden des Alkohols ebenso zugetan wie jeder Art von Weiblichkeit, ein gelegentlich benebelter Poltergeist mit kräftigem Baß.

Wie  dieser sechsköpfige Chor  immer neue musikalische Arrangements mit größter Selbstverständlichkeit und in bester Klangqualität auf die Bühne stellt, ist ein Gewinn gleichermaßen für Auge und Ohr. Ein erfrischender Höhepunkt vor der Pause: der mit fetzigem Schwung vorgetragene Song,  der vom Genuss der Peanuts aus den überall aufgestellten Schüsselchen abrät.

Für den üppigen Applaus des Premierenpublikums bedanken sich die Akteure neben den üblichen Verbeugungen mit ein paar Zugaben, die das Feuer der Begeisterung noch einmal anheizen. Insgesamt eine sehr gelungene Jubiläumsgabe, in der sich drollige Repliken und brillante Aktualitäten hervorragend ergänzen.


040719
Doña Lucia aus Brasilien
Premiere von "Charlys Tante"
im Schlosspark Theater Berlin

Diese Tante hat es in sich, und man merkt ihr kaum die Jahre an, die sie mittlerweile angesammelt hat. Ihr eigentlicher Vater war der britische Autor Brandon Thomas, der die Farce "Charleys Aunt" im Jahre 1892 herausbrachte. Nach reichlichen Bühnenerfolgen sammelte die verkleidete Dame im Film vielfache Meriten: Heinz Rühmann schlüpfte 1956 in die Gewänder der Tante, und Peter Alexander tat es ihm 1963 gleich. Nicht immer war die Kritik begeistert: der Kostümkomödie haftete damals ein Hauch von Verruchtheit an in Zeiten, da der Begriff "Travestie" noch ein Fremdwort war, und bürgerliches Naserümpfen folgte bisweilen als typische Reaktion.  Heute kann man im Gegenteil  von der "Tante" als von einem Klassiker dieses Genres sprechen.

Im Berliner Schloßpark Theater hat "Charlys Tante" jetzt ihre ungebrochene Vitalität unter Beweis gestellt. Allerdings hat man ihr auch eine Verjüngungskur spendiert, die ihr glänzend bekommen ist. Vom Regisseur René Heinersdorff stammt die Bearbeitung, die ein paar beherzte Ergänzungen aus der Jetztzeit hinzufügt und damit der flott vorgetragenen Story zusätzlichen Drive verleiht.

Ort der Handlung ist nunmehr das Gewächshaus eines Zoos, aus dem kontinuierlich ein exotischer Soundmix von Urwaldlauten zu vernehmen ist. Hier ist Babbs (Markus Majowski) der unumstrittene Chef, der für eine gute Zigarre auch mal die beiden Studenten Jack Chesney (Johannes Hallervorden) und Charly Wykeham (Daniel Wobetzky) zum ungestörten Nachdenken hereinläßt. Die beiden Freunde haben ein gemeinsames Ziel: das erträumte Jawort der von ihnen umworbenen türkischen Mädchen Aishe (Kim Zarah Langner) und Sema Spittigül (Alice Zikeli) zu bekommen. Deren Vater, der Import/Export-Kaufmann Spittigül (Aykut Kayacik als herrlich pointierte türkische Knallcharge) hütet die beiden Mädchen allerdings wie seinen Augapfel. So kommen die zwei Studenten auf die Idee, den Vater und seine Töchter zu einem improvisierten Brunch ins Gewächshaus einzuladen, wo sich auch Donna Lucia, Charlys Tante aus Brasilien, einfinden soll, die ihren Besuch angekündigt hat.

Leider verzögert sich die Ankunft der brasilianischen Tante, und auf der verzweifelten Suche nach einem Ersatz-Anstandswauwau verfallen die beiden Studiosi darauf, den hilfsbereiten Babbs als Pseudo-Brasilianerin auszustaffieren. Gesagt-getan, und Markus Majowski liefert präzise und zum größten Publikumsvergnügen die Rolle des weiblichen Katalysators ab, der die Erwartungen sowohl von Vater Spittigül wie vom zusätzlich aufgetauchten Colonel Francis Chesney (Oliver Nitsche), dem Vater von Jack, zur Gänze erfüllt, nicht ohne daß es zu mannigfachen Komplikationen kommt.

Als Jack und Charly schliesslich die Zustimmung von Aishe und Sema bekommen, entlädt sich ihre Begeisterung in einem hinreissend geschmeidig getanzten Song nach türkischer Manier, der dann als wirkungsvolle Pausenklammer auch noch die beiden Teile des Stückes verbindet.

Um die Verwirrung komplett zu machen, taucht schliesslich doch noch  Charlys echte Tante Lucia d'Alvadorez (Claudia Neidig) auf,  und aus dem Zusammentreffen der echten und der falschen Dame wie auch der Adoptivtochter von Tante Lucia, Ella Delahay (Katharina Hadem) mit dem inzwischen  wieder zum Manne rückverwandelten Babbs ergibt sich ein ganzes Feuerwerk von Überraschungseffekten, die schließlich in den Schlußchor mit dem beflügelnden Text "Das Leben ist schön! " münden.

Das animierte Premierenpublikum honoriert die sorgfältig einstudierte Applaus-Sequenz samt Überreichung der obligaten Blumensträuße fürs gesamte Ensemble mit langanhaltendem Beifall, der sich besonders für die komödiantischen Leistungen der beiden Junioren Johannes Hallervorden und Daniel Wobetzky sowie natürlich für Markus Majowski, für den Bilderbuchtürken Aykut  Kayacik und den Colonel Oliver Nitsche zu Spitzenwerten steigert. Ohne viel Prophetie kann man dieser Aufführung eine große Zahl von gut besuchten Wiederholungen voraussagen.

033119
Gewinn als Verlust
Premiere "Nein zum Geld"
im Renaissance-Theater Berlin

Diese Komödie von der französischen Erfolgsautorin Flavia Coste ist mit glänzender Resonanz in Paris gelaufen. Bei der Premiere der deutschsprachigen Erstaufführung im Berliner Renaissance-Theater erweist  sich das Stück als gutes Beispiel dafür, wie sich aus einer szenisch-dramaturgisch eher knapp dimensionierten Idee mit Geschick für intelligente Facetten und treffende Dialoge eine unterhaltsame Bühnenhandlung mit ein paar philosophischen Nutzanwendungen konstruieren läßt.

Richard Carré (Hans-Werner Meyer) ist ein bislang recht erfolgloser Architekt. Seine Frau Claire (Sarah Bauerett) steuert mit ihrem Gehalt  als Lehrerin den Löwenanteil zum ehelichen Haushaltsbudget bei. Richards Mutter Rose Carré (Erika Skrotzki), deren Mann schon vor Jahren gestorben ist, knabbert sich seither durchs Leben und probiert eine Partnervermittlung nach der anderen aus. Richards Freund Etienne Rougery (Michael Rotschopf) versucht mit heroischem Einsatz, den finanziellen und psychologischen Schaden auszubügeln, den die immer wieder erfolglosen architektonischen  Entwürfe Richards verursachen.

Ausgerechnet mit dem Hochzeitsdatum seiner Mutter reüssiert Richard nun bei einer Lottogesellschaft und kommt zu einem Gewinn von mehreren Millionen Euro. Darauf reagiert er aber nicht mit schrankenloser Euphorie, sondern mit schroffer Ablehnung und dem Argument, er habe ja schon alles, was ein Mensch zum Glücklichsein braucht. Den Lottoschein hängt er ungenutzt zu vielen anderen Zettelchen an die Kühlschranktür, damit ihn niemand findet.

Als er den drei anderen seinen Lottogewinn samt dessen Verweigerung beichtet, ist deren Reaktion allerdings ganz anders als von ihm erwartet. Seine Frau Claire hätte liebend gern eine kräftige Geldspritze zum knappen Haushaltsbudget, sein Freund träumt von der Rettung des ewig defizitären Architekturbüros, und die mit herrlich trocken-sarkastischen Kommentaren glänzende Mutter könnte sich gleichfalls eine großzügige Bereicherung ihrer Rentenkasse sehr gut vorstellen.

Als sich herausstellt, dass die Einreichungsfrist des Lottoscheins noch nicht abgelaufen ist, beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit, und die drei Gewinnsüchtigen versuchen, Richard den Lottoschein abzuluchsen. Der verschluckt ihn in seiner Verzweiflung und geht bei einer Auseinandersetzung zu Boden. Sein Freund angelt nun aus dem Mund des Bewußtlosen den zusammengeknüllten Lottoschein, und alle drei stürmen zum etwas flauen Schluß aus der Wohnung, um den Lottogewinn doch noch fristgerecht einzuheimsen. Um das quäkende Baby kümmert sich auf einmal niemand mehr.

Im Bühnenbild von Manfred Gruber choreographiert Regisseurin Tina Engel den Tanz ums goldene Kalb mit leichter Hand und sicherem Sinn für Akzente und Pointen. Den Schauspielern läßt sie hinreichenden Raum für die Ausschöpfung ihrer Rollenprofile. So wird aus der Aufführung eine unterhaltsame Szenenfolge, in der jede Menge Nachdenkliches zum Thema Geld und seinem unterschiedlichen Wert in Relation zu verschiedenen  Lebensläufen versteckt ist. Lebhafter Applaus vom Premierenpublikum belohnt die Darsteller und das Regieteam.




032519
Ein gnadenloser Spiegel
Premiere "Der Zwerg" von Alexander von Zemlinsky
in der Deutschen Oper Berlin

Am Beginn dieser Opernhandlung steht ein Kunstmärchen vom englischen Autor Oscar Wilde unter dem Titel "Der Geburtstag der Infantin", 1891 in der Sammlung "Ein Granatapfelhaus" veröffentlicht. Oscar Wilde schildert in seiner überaus fantasievollen, an Gedanken und Farben reichen Sprache den Ablauf des Geburtstages der spanischen Infantin, die an diesem Tage mit gleichaltrigen Gefährten in spielerischer Oberflächlichkeit die verschiedensten Zerstreuungen erlebt. Eine davon liefert ein Zwerg, “eine Mißgeburt”, der für die Infantin tanzt und von ihr zum Dank eine weiße Rose erhält, die er als Zeichen ihrer Liebe deutet. Am Nachmittag soll der Zwerg erneut für die Infantin tanzen und gerät auf dem Weg durch den Palast vor einen Spiegel, in dem er zum ersten Mal die eigene Häßlichkeit grausam deutlich wahrnimmt. Als er erneut vor der Infantin steht, bricht ihm das Herz, und alle Träume vergehen, die er sich von einer gemeinsamen Zukunft gemacht hatte.

Das Libretto des Einakters nach diesem Märchen verfasste Georg C. Klaren. Der klein gewachsene Alexander von Zemlinsky verstand die Handlung als Chiffre für seine unerfüllte Neigung zu Alma Schindler, der späteren Alma Mahler/Gropius/Werfel. Die Uraufführung der Oper 1922 in Köln dirigierte Otto Klemperer.

Aus der idyllischen Atmosphäre des Märchens hebt die Neuinszenierung von Tobias Kratzer die Handlung auf die Ebene der psychologischen Deutung einer Bewußtseinsspaltung, deren Auflösung tödlich endet. Mit beherztem Zugriff teilt er die Figur des Zwergs in zwei Personen, einen kleinwüchsigen Darsteller ( Mick Morris Mehnert) und den Träger der Gesangspartie des Zwergs (David Butt Philipp). Auf diese Weise wird die Vorführung von dessen Empfindungsskala sehr viel einleuchtender vermittelbar, und die szenische Präsenz des kleinwüchsigen Darstellers sorgt permanent dafür, dass die Dramatik des  Zuneigungskonflikts in jeder Minute augenfällig wird.

Die etwas hochmütige, aber streckenweise auch hilfreiche Infantin Donna Clara verkörpert mit schönem, weit ausschwingenden Sopran Elena Tsallagova. Ihre mitfühlende Zofe Ghita singt Emily Magee mit kraftvollem Ausdruck. Ihr bleibt auch das versöhnliche Schlußwort, das die Häßlichkeit des Zwergs neutralisiert: " Gott hat ein armes Herz zerbrochen. Es war schön".

Den Haushofmeister Don Esteban gestaltet, etwas farblos, Philipp Jekal. Der eigentliche Gewinner des Abends, der seinen Part mit Intensität und strahlender Stimmkraft vorträgt, ist David Butt Philipp. Sein Zusammenspiel mit dem Zwergendarsteller gelingt nahezu bruchlos, und wenn sich Donna Clara bald dem einen, bald dem anderen zuwendet, nimmt die dramaturgische Logik keinen Schaden. Der Augenblick der Wahrheit, wenn der Zwerg vor den Spiegel tritt und erstmals das Auseinanderklaffen von Eigen- und Fremdbild bemerkt, wird hier bewegende Realität.

Die musikalische Qualität der Aufführung ist hoch zu loben. Als Prolog wird zur Musik von Arnold Schönbergs "Begleitungsmusik  zu einer Lichtspielscene" von 1930 eine Pantomime aufgeführt, die das Spannungsverhältnis zwischen Alma Schindler (Adelle Eslinger) und dem Komponisten Alexander von Zemlinsky (Evgeny Nikiforow) illustriert. Dann öffnet sich der Vorhang vor einem Bühnenbild von Rainer Sellmaier, das ein Orchesterpodium mit zunächst unbesetzten Notenpulten vor Augen führt, über dem ein monumentaler Orgelprospekt thront.

Sehr zu loben ist auch der von Jeremy Bines sorgsam und sehr harmonisch klingend einstudierte Damenchor des Opernhauses.

Die größte Leistung für die authentische Wiedergabe von Zemlinskys noch eben tonaler Partitur erbringt Donald Runnicles am Pult des bestens disponierten Orchesters der Deutschen Oper. Was hier an süssen, einschmeichelnden Passagen zu hören ist, gelegentlich an Orientalisches oder Spanisches gemahnend, hat eine geschlossene, fesselnde Faszination, die dem dargestellten Beziehungskonflikt den angemessenen Rahmen gibt.

Das gespannt und aufmerksam lauschende Premierenpublikum spendet dem gesamten Ensemble reichen, anerkennenden Applaus, garniert mit Bravorufen. Wann erlebt man schon einmal, dass sich die Bravorufe verstärken, wenn das Regieteam die Bühne betritt ?
Hier, vermerkt der Chronist, war es der Fall.

022719
Ein seltsames Paar
Premiere der Tragikomödie "Indien"
in der Vagantenbühne Berlin

Am Anfang war es ein Theaterstück der österreichischen Kabarettisten Josef Hader und Alfred Dorfer. Daraus wurde ein Film, der 1993 großen Erfolg hatte. Nun kommt die Bühnenversion in der Berliner Vagantenbühne unter der Regie von Lars Georg Vogel heraus.

Zwei staatlich autorisierte Kontrolleure von Hygienevorschriften in Hotels und Gaststätten ziehen durch baden-württembergisches Land, um eventuellen Mißständen auf die Spur zu kommen.  Beide sind gänzlich verschiedene Charaktere. Da ist der eher bürgerlich-konservative Heinz Bösel (Jürgen Haug), und ihm zur Seite der jüngere, neugierige und vom fernen Indien träumende Kurt Fellner (Urs Stämpfli). Bösel spricht ein gelegentlich etwas  brummig artikuliertes Schwäbisch, während Fellner ein hellwaches, klar prononciertes Schweizerdeutsch ins Feld führt.

Die beiden haben anfangs nicht nur überhaupt keine Gemeinsamkeiten, sondern sie geraten gelegentlich auch aus nichtigem Anlaß in verbale Zwistigkeiten. Ihr eher tristes Reise-und Untersuchungsprogramm liefert  kaum aufmunternde Impulse. So nörgeln und kritteln sie sich durch eine lange Reihe eher deprimierender Schnitzeltests. Die von Kurt Fellner rezitierte Reiseplanung mündet in eine imposante Aufzählung württembergisch-badischer Ortsnamen, wodurch auch touristisch weniger renommierte  Orte wie das idyllische Enzklösterle eine Nennung erfahren. Diese Litanei umreißt aber  in drolliger Überhöhung auch das schier endlose, wenig Abwechslung bietende Programm ihrer Inquisitionstour.

Gleichwohl finden die beiden Kontrolleure in kabarettistisch knappen Dialogen Schritt für Schritt näher zueinander und entwickeln gegenseitig ein wachsendes Verständnis für ihre jeweiligen Marotten. Die Stufen des Zusammenwachsens folgen einander in jeweils unterhaltsamen kurzen Sketch-Szenen. So wird der Wirt einer der besuchten Gaststätten (überaus komödiantisch: Senita Huskić, die sich auch noch in eine etwas hochnäsige Ärztin und später in einen verfrüht auftretenden Priester verwandelt) spottlustig heruntergeputzt und mit Obstschnaps übergossen.

Die Szene, umrissen durch abgehängte Holzbretter und mit hölzernen Tischen und Stühlen als Gastraum definiert, wird dann für einen zweiten Teil mit  Plastikplanen in eine Krankenhausumgebung verwandelt. Der Grund: Kurt Fellner hat sich mit einem letztlich unheilbaren Leiden in ärztliche Behandlung begeben müssen. Nun bekommt der anfangs unbeschwert fröhliche Dialogton eine eher nachdenkliche Note, die bis zum aufbegehrenden "Warum ausgerechnet ich ?" reicht. Jetzt wird Heinz Bösel zum tröstenden Gesprächspartner für den zunehmend leidenden Kurt Fellner. Selbst das Geschenk eines Computer-Keyboards vermag den Patienten nicht dauerhaft aufzuheitern. Traumbilder und Hoffnungen bestimmen die Endphase einer sehr ungewöhnlichen Freundschaft. Was bleibt, ist lediglich die aus dem fernen Indien stammende versöhnliche Idee einer Wiedergeburt nach dem Tode.

Das Premierenpublikum nimmt den unterhaltsamen Abend mit lebhaftem Beifall auf und dankt damit sowohl den drei Protagonisten wie dem Regisseur Lars Georg Vogel, dem Arrangeur der gut platzierten Akzente.

021219
Blackout um Mitternacht
Premiere von Daniel Kehlmanns "Heilig Abend"
als Gastspiel im Renaissance-Theater Berlin

Das Bühnenstück "Heilig Abend" des 1975 geborenen deutsch-österreichischen Schriftstellers Daniel Kehlmann wurde 2017 veröffentlicht und  im Wiener Theater in der Josefstadt uraufgeführt. Das Berliner Gastspiel kam in Kooperation mit der Konzertdirektion Landgraf GmbH zustande, einem seit 1945  bestehenden Tourneetheater-Spezialisten mit Sitz in Titisee-Neustadt. Regie führte Jakob Fedler, die Ausstattung besorgte Dorien Thomsen.

Das Stück ist ein sehr konzentriertes Kammerspiel. Es geschieht an einem 24. Dezember und setzt an diesem Abend um 22.30 Uhr ein.  Das Bühnenbild signalisiert einen kargen Verhörraum, in dessen Rückwand drei schmale Türen eingelassen sind, die in irgendwelche nicht einsehbaren Nebenräume führen. Rechts und links fünf etwas befremdlich wirkende Leuchtsäulen, die zu unregelmäßigen Zeiten aufleuchten. An der Wand noch ein Waschbecken, an Mobiliar nur ein asketischer Schreibtischstuhl mit Rückenstütze sowie ein Festnetz-Telefon.

Der Vernehmungsbeamte Thomas (Wanja Mues) betritt den Raum und orientiert sich ausgiebig über die Gegebenheiten. Er projiziert die aktuelle Uhrzeit auf die Rückwand des Raums. Dann setzt er sich  sich auf den Stuhl und wartet. Anschließend  betritt Judith (Jacqueline Macaulay) den Raum. Das inquisitorische Duell beginnt, das zum Anfang in seiner vagen Unbestimmtheit an die Verhörpraktiken bei Kafka erinnert.  Thomas setzt mit scheinbar ganz unverfänglichen Fragen ein und will von Judith zunächst wissen, wo sie am Vorabend gewesen ist und was sie am Vortag getan hat. Sie gibt an, den Vortag mit ihrem Ex-Mann verbracht zu haben.

Allmählich steigert sich die Intensität seiner Befragung, und er beginnt, Vorwürfe zu formulieren und in Art einer Attacke vorzutragen. Von härteren Befragungstechniken ist die Rede, sogar der Einsatz der Folter wird angesprochen.  Judith, die Philosophieprofessorin, soll auf ihrem häuslichen Laptop Attentatspläne notiert haben. Sie streitet das zunächst ab, gibt an, keine Ahnung vom Bombenbau und irgendwelchen Tatabsichten zu haben. Während diese Szenen auf der Bühne ablaufen, wird anderswo im Geheimdienstbau der Ex-Mann von Judith verhört, und er belastet Judith mit seinen Aussagen. Ihr wird klar, daß sie nun selbst ein Geständnis ablegen muß, damit ihr Ex-Mann freikommt, mit dem sie nach wie vor ein unverbrüchliches Liebesverhältnis hat. Thomas stellt ihr einen Telefonanruf frei, und sie ruft das Mobiltelefon ihres Mannes an, wechselt nur kurze Worte.
Ihr Mann, so erfährt man, hat anschließend sein Handy weggeworfen, um nicht geortet werden zu können.

Die Zeit bis Mitternacht ist um, das Vernehmungslicht erlischt, und der Zuschauer ist allein mit der Frage, was danach mit Thomas und Judith geschieht. Der Autor hat diese Frage bewußt offen gelassen - es gibt demnach weder Sieger noch Besiegte.

Das Publikum im Premieren-Parkett folgt dem intellektuell anspruchsvollen Dialog von Thomas und Judith mit gespannter Aufmerksamkeit und belohnt die schauspielerischen Leistungen mit anhaltendem Schlußbeifall.


021019
Mordsspaß  aus der Hauptstadt
Uraufführung "Mörder und Mörderinnen"
im Schlosspark Theater Berlin

Vor dem Hintergrund einer Idee von Eugène Labiche hat der erfahrene Drehbuchautor Hartmann Schmige hier einen Berlin-Comic vorgelegt, den Thomas Schendel auf der Bühne des Schlosspark Theaters inszeniert hat. Den Machern ist eine kurzweilige Handlung mit Lokalkolorit gelungen, die jede Menge aktueller Seitenhiebe serviert.

Nach durchzechter Nacht findet sich Rudi (Mario Ramos) im häuslichen Ehebett an der Seite von Paul (Oliver Nitsche) wieder. Nach dem ersten Schreck über das Zusammentreffen an dieser Stelle können sich beide nur noch erinnern, nach einem Galeriebesuch eine Bar aufgesucht zu haben. Außerdem ist da aber auch noch die dumpfe Erinnerung, einen Mord erlebt zu haben, von dem sie nicht wissen, ob sie ihn womöglich auch begangen haben. Rudi ist Jurist und Vertreter für Berufsunfähigkeitsversicherungen, Paul hatte das Catering für die Vernissage in der Galerie übernommen.

Dann nimmt Rudis Frau Hanna (Irene Christ) die Sache in die Hand. Es werden Spuren verwischt und neue gelegt, und einen Augenblick lang wird sogar versucht, den Hergang des einen Mordes durch einen zweiten zu vertuschen. Natürlich kommt auch der Kriminalkommissar Herr Knorr  (Philipp Sonntag) ins Spiel, der eigentlich nur noch von seiner Frühpensionierung träumt und samt seinem Assistenten, Herrn Möller (Raimond Knoll) sich ohne große Begeisterung an die Lösung des Falles begibt. Im baufälligen Polizeigebäude, durch dessen Decke es ständig in aufgestellte Eimer tropft, ist aber die Genderbeauftragte Frau Mühle (Irene Christ) die heimliche Regentin, die mit Akribie darüber wacht, dass in sämtlichen Akten geschlechtsneutrale Personenbezeichnungen verwendet werden - ein Zeit-Zeichen besonderer Art, das für amüsante Dialoge genutzt wird, die den partiellen Widersinn dieser Vorschrift bloßlegen.

Die Spurensuche vor Ort führt auch in die Bar von Rosi, die herrlich aufgedonnert von Anne Rathsfeld verkörpert wird. Sie spielt auch Frau Rauschenbach, die Galeristin, bei der René (Karsten Kramer) seine Skulpturen ausstellt. Kramer seinerseits ist auch der Penner Hotte, der seine Habseligkeiten in einem Einkaufswagen transportiert und sich als "Wohnungssuchender" titulieren lassen muss, auch wenn er keine Wohnung sucht, nur weil der Begriff "Obdachloser" inzwischen in Verruf geraten ist.

Am Ende stellt sich heraus, daß alles ganz anders war, wobei die Details hier nicht verraten werden sollen. Klar ist lediglich, dass dieses Finale etwas abrupt eintritt und keineswegs als Zusammenfassung mit Gesang gestaltet ist.

Das Bühnenbild mit seinen suggestiven Projektionen, die sich blitzschnell verwandeln lassen, stammt von Stephan von Wedel. Die präzise Musik-und Soundregie ist Philippe Roth zu danken.

Der Reiz der Aufführung liegt im geschickt eingesetzten Zeitbezug und in vielen kleinen schauspielerischen Sonderleistungen, die dem Premierenpublikum hörbar artikuliertes Vergnügen bereiten. Besonders die aalglatte Intensität von Mario Ramos und sein Slapstick-Kampf mit der Hose in der Ankleideszene zu Beginn bleiben ebenso in Erinnerung wie Philipp Sonntags ambivalentes Schwanken zwischen Berufsethos und Ruhestandssehnsucht. Aber auch die kumpelhafte Präsenz von Oliver Nitsche und die versierten Rollenwechsel von Irene Christ, Anne Rathsfeld und Karsten Kramer verdienen eine Hervorhebung.

Am Schluß Blumen und viel Beifall vom Premierenpublikum für alle Beteiligten.


 

020619
Eine Kindheit in Algier
Joachim Król liest "Der erste Mensch"  von Albert Camus
im Renaissance-Theater Berlin

Der französische Schriftsteller Albert Camus, 1913 in der damals französischen Kolonie Algerien geboren, erlebte dort seine Kindheit und schaffte den unglaublichen sozialen Aufstieg aus größter Armut zum Ruhm als Autor unter anderem der Romane "Die Pest" und "Der Fall". 1957 erhielt er den Nobelpreis für Literatur, und 1960 endete sein Leben abrupt bei einem Autounfall mit seinem Freund, dem Verleger Michel Gallimard an der Route Nationale auf dem Wege nach Paris. In den Trümmern des Wagens fand sich das letzte, unvollendete Manuskript von Camus, das Fragment "Der erste Mensch", der Rückblick des Autors auf seinen Lebensweg.

Camus war als Philosoph und Schriftsteller selbst ein Mythos. Seine frühen Jahre verbrachte er in einfachsten Verhältnissen, nach dem Tode des Vaters im Ersten Weltkrieg an der Seite der Mutter, die Analphabetin war, und unter der Fuchtel der Großmutter, die ihn mit dem Ochsenziemer traktierte. Gleichwohl schaffte er mit Unterstützung seines Grundschullehrers Louis Germain den Übergang auf die höhere Schule, das Lycée, und daran schlossen sich weitere Schritte zum Erfolg an.

Als Teil einer Kampagne des Bundesministeriums für Bildung und Forschung gegen Funktionalen Analphabetismus hat der Schauspieler Joachim Król, der aus vielen Rollen in Film und Fernsehen bekannt ist, zusammen mit l'orchestre du soleil eine "Tour 2019" konzipiert, die ihn seit Jahresanfang durch 25 Lesungen in deutschen Städten führt. Überall ist sein Auftreten dem Camus-Text "Der erste Mensch" gewidmet, der 1994 in Paris herauskam und von der algerischen Kindheit des Nobelpreisträgers berichtet, dessen Mutter Analphabetin war und nur 450 Worte kannte.

Auf der Bühne des Berliner Renaissance-Theaters steht für Joachim Król ein simpler Barhocker, davor ein Lesepult und daneben auf einem weiteren kleinen Hocker ein Glas Wasser. Im Halbrund hinter dem Rezitator ist das einfühlsam interpunktierende Orchestre du Soleil platziert: Samir Mansour(Oud), Jerome Goldschmidt (Percussion), Ekkehard Rössle (Saxophon und Klarinette) und Maria Reiter(Akkordeon). Einen bedeutenden Beitrag leistet auch das Lichtdesign von Birte Horst.

Joachim Król gestaltet die einzelnen Textpassagen mit suggestiver, klar artikulierter Stimme und sparsamer Gestik, so dass sich vor den Augen der Zuhörer die in ihrer Kargheit gleichwohl faszinierende Szenerie der Jugendjahre von Camus auftut. Die wunderbar klare Sprache in der Übersetzung von Uli Aumüller tut ein Übriges, um das Publikum durch mitfühlendes Nachdenken zu fesseln. So entsteht das Bild eines Milieus, in das sich der Autor später zurücksehnt, wenn er endgültig an die große Welt des Geldverdienens verloren gegangen ist.

Am Schluß der Lesung aus der Autobiographie von Albert Camus gibt es lang anhaltenden, auch rhythmisch interpunktierten Applaus vom Publikum im ausverkauften Haus.


020119
Es muss nicht immer Shakespeare sein
Premiere von Daniel Glattauers "Vier Stern Stunden"
im Renaissance-Theater Berlin

Mal ein ganz neues Stück: Die Komödie "Vier Stern Stunden" des österreichischen Schriftstellers Daniel Glattauer stand gerade im vergangenen September in den Wiener Kammerspielen auf dem Uraufführungs-Programmzettel, und schon bringt das Berliner Renaissance-Theater dieses Opus als Deutsche Erstaufführung auf die Bühne. Regie führt Thorsten Fischer.

Herbert Schäfer und Vasilis Triantafillopoulos stellen eine optisch hinreissende Operettentreppe in die Bühnenmitte, die an der Rampe beginnt und bis weit in den Hintergrund hinaufführt. Ganz vorn zwei Stühle und ein flacher Tisch: alles parat für ein Interview. Denn in diesem Hotel mit langer Tradition der Familie Reichenshoffer finden regelmäßig landesweit geachtete Höhepunkte des Kulturlebens statt, und diese Interviews unter dem Rubrum "Sternstunde" werden von der gebildeten Welt stets mit Aufmerksamkeit verfolgt. Hotelchef David-Christian Reichenshoffer (Markus Gertken) preist zunächst die Vorzüge seines Viersterne-Hotels. Die Journalistin Mariella Brem (Nadine Schori) nimmt ihren Platz ein, greift zum Mikrofon, und da taucht auch schon ihr Interviewpartner auf, der Erfolgsautor Frederic Trömerbusch (Rufus Beck), der mit seiner Gefährtin Lisa (Annemarie Brüntjen) ebenfalls im piekfeinen Hotel nächtigt. Irgendwie steht die "Sternstunde" aber diesmal unter keinem guten Stern: die beiden Interviewpartner beharken sich nach Strich und Faden, und nach dem Abbruch des Interviewrituals schickt sich der irritierte Autor an, auch mit seiner jugendlichen Gefährtin Lisa reinen Tisch zu machen. Beide stellen fest, dass sie eigentlich weder nach Altersklasse noch nach Interessenlage zueinander passen. Auch das Rätsel einer streng in Burka gekleideten Muslimin, die durch die Szene geistert, wird auf überraschende Weise gelöst.

Damit aber nicht genug. Im Gespräch kommen sich nun auf einmal der Hotelchef und die frei operierende Lisa ("Improvisieren! Das lernt man doch bei Ernst Busch!") schrittweise näher, und Hotelerbe Reichenshoffer entdeckt, dass ihm der in Tradition erstarrte Kulturbetrieb eigentlich schon lange auf die Nerven geht. Kaum haben die beiden sich gefunden, da treffen die geläuterte Journalistin Mariella Brem und der ebenfalls nachdenklich gewordene Autor Trömerbusch aufeinander und beginnen sich mit Feingefühl über ihr bisheriges Leben auszutauschen. Dabei entspinnt sich ein ebenso intelligenter wie amüsanter Dialog über die Bedeutung der Vorsilben "ent-" und "ver-" in den beiden Termini "verlassen" und "entlassen". Schließlich stellt sich heraus, dass Mariella dem Autor schon als Kind begegnet  und auch in einem seiner Romane verewigt ist. Mit neu erwachtem Interesse der beiden aneinander schließt sich der Kreis der "Vier Stern Stunden". Eine unterhaltsame Story vom Partnertausch über Kreuz, sprachlich glänzend formuliert und in einer sehr gut ausgewählten Besetzung kurzweilig dargeboten.

Dem Premierenpublikum gefiel's: Lang anhaltender Applaus als Lohn für eine gelungene Premiere.



012719
Ein dörfliches Eifersuchtsdrama
Premiere "La Sonnambula"
in der Deutschen Oper Berlin

Die Wiederbelebung der Opern von Vincenzo Bellini ist keine einfache Aufgabe, und was bei "Norma" und "I Puritani" noch vergleichsweise leicht zu lösen ist, fällt bei "La Sonnambula" schon sehr viel schwerer, wenn man die Logik der Handlung einigermaßen beibehalten will. Dem 1831 am Teatro Carcano in Mailand uraufgeführten Werk liegt ein Libretto von Felice Romani zugrunde, das wiederum auf Eugèn Scribe und eine Comédie-Vaudeville namens "Das schlafwandelnde Dorfmädchen" zurückgeht.

Die Deutsche Oper Berlin zeigt jetzt eine Produktion der Stuttgarter Oper in der Regie von Jossi Wieler und Sergio Morabito, die dort 2012 als sehr erfolgreiche Inszenierung gefeiert worden war.

Die Grundkonstruktion der Fabel ist eigentlich recht einfach. Elvino, der reichste Heiratskandidat in einem schweizerischen Dorf, will die schöne Amina heiraten, ein im Schutz der Ziehmutter Teresa aufgewachsenes Waisenkind. Aber auch Lisa, die Wirtin der Dorfschänke, macht sich Hoffnung auf Elvino. Graf Rodolfo kommt nach längerer Abwesenheit ins Dorf zurück und will in der Schänke übernachten, um am nächsten Tag in sein nahegelegenes Schloß zurückzukehren. Während Lisa ihm in der Schlafstube das Bett bereitet, kommt es zu heftigen Umarmungen mit Rodolfo. Später kommt aber auch Amina in traumwandlerischer Trance ins Zimmer des Grafen und wird dort von Lisa und Dorfbewohnern entdeckt. Zunächst kündigt Elvino daraufhin die Verlobung auf. Später tänzelt Amina abermals schlafwandelnd über einen Dachfirst.  Als allen bewußt wird, daß man sie nicht für Taten verurteilen kann, die sie schlafwandelnd begangen hat, lenkt Elvino  ein, und der Weg zur glücklichen Heirat ist frei.

Das Bühnenbild in Berlin stammt von Anna Viebrock und präsentiert die Dorfschänke als weißgetünchtes Tonnengewölbe, vor dessen stützenden Seitenwänden übergroße braune Holzschränke stehen, in denen man sich gut verstecken kann. Amina (Venera Gimadieva) und Elvino (Jesús León) sind zunächst ein Herz und eine Seele, während die Wirtin Lisa (Alexandra Hutton) den Alternativbewerber Alessio (Andrew Harris) vehement zurückweist. Graf Rodolfo (Ante Jerkunica), zunächst unerkannt, kehrt von der Reise zurück und verlangt ein Zimmer. Während ihm Lisa dort das Zimmer richtet, beweist ihr Rodolfo seine Zuneigung. Amina kommt herein, macht aber einen ziemlich wachen Eindruck. Ihr Trancezustand äußert sich lediglich im Text, wo sie Rodolfo immer als "Elvino" anspricht. Das Techtelmechtel auf dem Nachtlager des Grafen läßt aber an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig. Lisa und die Dorfbewohner stürmen herein, der Graf hat sich in einen der Schränke verdrückt, und Amina ist bloßgestellt. Elvino wirf ihr den Verlobungsring vor die Füße.

Das zweite Schlafwandeln wenig später, das eigentlich in riskanter Positur auf einem Dachfirst stattfinden sollte, ereignet sich hier lediglich im Text. Nachdem Amina dann aus ihrer Absence erwacht ist, führt sie beredte Klage über ihr Schicksal, zu Unrecht den geliebten Elvino verloren zu haben. Sie tut das sehr ausführlich und überaus bewegend, so dass ihr Elvino, vom Grafen darin bestärkt, schließlich verzeiht und dem Glück der beiden nun nichts mehr im Wege steht. Aus der Schlafwandlerin ist hier eine durchaus schuldfähige junge Frau geworden, die auf Verzeihung angewiesen ist.

Musikalisch steht die Aufführung auf hohem Niveau. Die Koloratursopranistin Venera Gimadieva meistert ihre schwierige Partie stimmlich mit Bravour,  und Jesús León als Elvino kann sich auch in hohen Lagen souverän, wenn auch bisweilen mit Anstrengung bewegen.  Besonderen Applaus bekommt Helene Schneiderman als Mutter Teresa, die mit  klarem Mezzosopran jeden Schritt ihrer Ziehtochter Amina begleitet und umhegt. Alexandra Hutton in der Sopranpartie der Lisa agiert plausibel und engagiert. Ante Jerkunica ist mit seriösem Bass ungeachtet seiner Liebeshändel der Ordnungsfaktor im Dorfdrama. Jörg Schörner spielt einen Notar, der das Eheprotokoll aufsetzt, und Rebecca Shein geistert als stumme Hexe durch die Szene.

Eine besondere Hervorhebung verdienen Chor und Orchester. Jeremy Bines hat den Chor der Dorfbewohner sorgfältig und mit Wohlklang einstudiert. Am Pult des aufmerksamen und mit Feingefühl intonierenden Orchesters diesmal der junge Stephan Zilias, der erst zur Hauptprobe für den ursprünglich vorgesehenen Diego Fasolis eingesprungen ist.

Insgesamt eine eher unsensationelle Präsentation, an der handwerklich aber nichts auszusetzen ist. So sah es auch das Premierenpublikum, das reichen Applaus spendete, der lediglich beim Auftritt des Regieteams von einem dumpfen Murren untermalt wurde.

121018
Love is in the air
Uraufführung "Tanke Sehnsucht"
im Renaissance-Theater Berlin

Wenn ein unvoreingenommener Beobachter den Titel als Imperativ deutet und dahinter die Aufforderung wittert, sich bis zum Rand mit Sehnsucht vollzupumpen, hat er schon den ersten Minuspunkt kassiert. In Wahrheit wird hier eine Tankstelle vorgeführt, in der sich  eine bunt zusammengewürfelte Crew einfindet, deren Individuen eigentlich nur eins gemeinsam haben: die Sehnsucht nach Liebe in den unterschiedlichsten Lebenslagen.

Regisseur Antoine Uitdehaag und Schauspieler Guntbert Warns zeichnen als Autoren verantwortlich für diese extrem fetzige Musikshow, deren textliche Wurzeln sich bis in Bibelworte und Shakespeare-Sonette zurückverfolgen lassen. Mehr als 30 Songs von den großen Namen dieses Genres sind in den Show-Mix eingearbeitet, und so kommen an diesem Abend auch Udo Lindenberg, Frank Zappa, John Lennon und Paul McCartney sowie Bob Dylan zu Wort, und sowohl Alkoholisches wie sanfte Drogen bekommen einen verklärenden Heiligenschein.

Das Erstaunlichste und Hinreissendste ist die Perfektion, mit der die Akteure ihre Musiknummern abliefern. Lollo (Martin Schneider), Roadhammer (Hans-Martin Stier) und Selfmaid (Anika Mauer), der Professor-Doktor (Guntbert Warns) und die Princess-Bride (Kiara Brunken) sind am Mikrofon sämtlich überzeugend und fesselnd unterwegs.

Das liegt natürlich auch nicht zuletzt an der exzellenten Band. Die fabelhafte Percussion-Solistin  Annette Kluge drischt mit ihrem knalligen Beat die Song-Artisten vor sich her und darf anfangs auch ein kläffendes Hündchen mimen. Harry Ermer, diese Säule musikalischer Beiträge im Renaissance-Theater, hat diesmal ein Klavier unter der Theke und neben der Baßgitarre sogar eine Mundharmonika zur Hand. Jan Terstegen bringt mit virtuosen Glissandi seine Gitarre ins Spiel, und auch Guntbert Warns greift zu diesem Instrument. Den Gipfel der Vielseitigkeit demonstriert Martin Schneider, der neben Banjo, Gitarre, Saxofon und Baßgitarre auch noch eine Nasenflöte klangstark ertönen läßt.

Viele liebevoll einstudierte Gags und Soli geben der Story zusätzlichen Schub. Wie Anika Mauer in ihrem schicken Trauerkleidchen versucht, eine erträgliche Schlafposition auf einem viel zu kleinen Tisch finden, ist ein besonderes Kabinettstückchen.

Ein Extralob verdient die gelungene Verknüpfung individueller Lebenslagen mit den einzelnen Songtexten, die man übrigens auch anhand der Projektion gut verfolgen kann.

Das pausenlose Dauerfeuer fetziger Musiknummern läßt nur gelegentliche Atempausen mit etwas nachdenklichem Charakter zu. Das hochgradig animierte Premierenpublikum rockt stationär auf den Sitzplätzen mit, und die belebende Wirkung der Songs macht auch vor den älteren Semestern nicht Halt. Am Schluß mischen sich in den rhythmisch brausenden Applaus gebieterische Rufe nach Zugaben. Es sieht ganz so aus, als ob das Renaissance-Theater seinem Dauerbrenner "Ewig jung" hier eine ähnlich lebenskräftige Inszenierung zur Seite gestellt hätte.


120418
Ein Feuerwerk der Vorurteile
„Monsieur Claude und seine Töchter“
im Schlosspark Theater Berlin

Der gleichnamige Film von Philippe de Chauveron und Guy Laurent kam 2014 in die Kinos und erwies sich als echter „Knaller“. Die Bühnenadaption von Stefan Zimmermann hatte 2017 ihre deutsche Erstaufführung in Hamburg. Im Berliner Schlosspark Theater übernimmt nun Philip Tiedemann die Realisierung.  Premiere war am 1. Dezember 2018.

Der durchschlagende Erfolg des Sujets beruht darauf, dass es den Autoren gelungen ist, einen bunten Strauß weitverbreiteter Vorurteile von Menschengruppen so mit einer leicht faßlichen Handlung zu verknüpfen, dass ein kontinuierliches Pointenfeuerwerk abbrennt, das niemanden kalt läßt. Offenkundig sind solche Vorurteile über Rassen und Religionen auch jenseits der Grenzen Frankreichs  anzutreffen, wo „Monsieur Claude“ spielt.

Vier Töchter hat Monsieur Claude Verneuil (herrlich knorrig: Peter Bause), und drei von ihnen sind bereits verheiratet. Eine mit einem Araber, die nächste mit einem Juden, die dritte mit einem Chinesen. Nun will auch die vierte den Eltern ihren künftigen Ehemann Charles Koffi präsentieren. Der ist zwar endlich mal ein Katholik, aber von dunkler Hautfarbe, stammt aus Afrika und ist überdies Schauspieler. Das stellt Monsieur Claude und seine wunderbar vitale und wortgewandte Frau Marie (Brigitte Grothum) vor immer neue Probleme der mentalen Akzeptanz. Schließlich kommen sogar liebe Verwandte aus dem schwarzen Kontinent, um der Hochzeitsfeier beizuwohnen, und der verhalten konservative Monsieur Claude trifft beim Angeln mit dem schwarzafrikanischen Vater von Charles, André Koffi, zusammen. Das Wunder geschieht: Beide entdecken Gemeinsamkeiten, beide sind katholisch und bewundern General Charles de Gaulle, und sie finden gemeinsam auch verhängnisvollen Gefallen an einer Flasche Calvados, was sie erst einmal in eine Ausnüchterungszelle bringt. Schliesslich kommen sie aber noch rechtzeitig zur Hochzeitsfeier, die alle in schönstem Einklang verbringen.

Das Schlosspark Theater bietet ein ungewöhnlich großes Ensemble auf, um diese Komödie auf die Bühne zu bringen. Alle sind in ihren Rollen sehr überzeugend zu Hause und bringen die fälligen Pointen demzufolge effektvoll, aber durchaus natürlich über die Rampe. Isabelle, die älteste Tochter (Berrit Arnold) ist mit Abderazak Benassem (David A. Hamade) liiert. Die zweitälteste heisst Michelle (Birge Funke), ihr Ehemann Chao  Ling ( Maverick Queck). Adèle (Lisa Julie Rauen) ist die drittälteste Tochter, und ihr jüdischer Ehemann trägt den Namen Abraham Bénichon (Oliver Dupont). Laura ist die Jüngste (Melanie Isakowitz), und ihren dunkelhäutigen Verlobten spielt Philip Bender. Seine Mutter Madeleine Koffi, die ausgleichende Toleranz in Person, ist Robin Lyn Gooch. Dann gibt es noch den universell einsetzbaren Tilmar Kuhn, der unter anderem als Rabbi, Pfarrer und Psychologe agiert.

Im ausverkauften Haus herrscht schieres Zuschauervergnügen. Das bei seinen eigenen alltäglichen Vorurteilen ertappte Publikum ist durchaus bereit, sich lachend an die eigene Brust zu klopfen. Der üppige Schlußbeifall gleitet sofort über in rhythmischen Applaus, der dem ganzen Ensemble gilt, besonders aber dem fabelhaften Ehepaar Verneuil.

120218
Fiktion und Wirklichkeit
Premiere von Offenbachs „Les Contes d’Hoffmann“
In der Deutschen Oper Berlin


Der „Hoffmann“ ist Offenbachs letztes Werk, eine Frucht der späten Jahre, geprägt von dem dringenden Wunsch, endlich eine „grosse Oper“ nach Art von Gounod zu schreiben, wie Offenbach sie in seinen frühen Erfolgsoperetten eher persifliert hatte. Da das Opus unvollendet blieb, haben sich seit der Uraufführung 1881 in Paris  zahlreiche Revisoren und Vollender daran versucht, um das Werk für Aufführungen zu optimieren. Die nun in der Deutschen Oper Berlin gezeigte Version ist eine fünfaktige Langfassung, noch dazu das Ergebnis einer kooperativen Kettenreaktion, in die nicht weniger als vier Opernhäuser mit Weltgeltung eingebunden waren. Leider erfährt man von diesem Schaffensprozeß im Programmheft lediglich, dass die Erst-Premiere 2005 in Lyon stattgefunden hat.

Schauplatz der Handlung ist zunächst die Berliner Kneipe von Lutter & Wegner. Den Kneipier Maître Lutter gibt Tobias Kehrer mit blütenweißer Schürze, diensteifrig die Rampe entlang laufend.  Der Dichter Hoffmann (Daniel Johansson), vom Alkoholdunst beflügelt, schildert den Gästen die Geschichte seiner Amouren. Seine Muse (Irene Roberts), die ihn in Gestalt seines Freundes Nicklausse durch sein ganzes Liebesleben begleitet, will ihn vom Bild der Sängerin Stella, in die er unglücklich verliebt ist, lösen und für die Kunst zurückgewinnen.

Vier Frauen sind’s, denen Hoffmann nacheinander verfällt, und alle vier stellt die Sopranistin Cristina Pasaroiu mit souveräner Perfektion dar, und ihr gelingt es auch, den vier Charakteren unterschiedliche Wesenszüge zu geben. Ihre Stimme ist mit Strahlkraft und Leidenschaft ein Glücksfall für die Besetzung der Frauenrollen, die anderswo auch schon mal von vier verschiedenen Sängerinnen übernommen werden, wobei die hier gewählte Besetzungslösung der dramaturgischen Logik zugute kommt.

Das Gegengewicht zur Emphase der Liebenden ist der Geist des Bösen. Hier nennt er sich Lindorf, Coppélius, Doktor Miracle und Dapertutto, und stets vereitelt er die Erfüllung von Hoffmanns Liebessehnsucht. Alex Esposito singt diese Partie mit dunklem Bass und der nötigen unterschwelligen Dämonie.

Im Mittelpunkt der ersten Liebes-Episode steht Olympia, die Tochter des Physikers Spalanzani (Jörg Schörner). Ihr Auftritt wird zum frühen Höhepunkt des ganzen Abends: von einem nahezu unsichtbaren Kamerakran getragen, kann Cristina Pasaroiu die anspruchsvollen Koloraturen ihrer Partie kristallklar und dem Auf und Ab der Musik folgend ins Publikum schicken, das ihre Bravourarie mit begeistertem Szenenapplaus honoriert. Gleichwohl erweist sich Hoffmanns Geliebte Olympia unter dem höhnischen Gelächter der Menge später als Automatenpuppe.

Hoffmanns zweite Liebe, um Stella zu vergessen, ist Antonia, die infolge einer geheimnisvollen Krankheit nicht singen darf, obwohl ihre ganze Hingabe neben Hoffmann vor allem dem Gesang gilt. Ihr Vater Crespel (James Platt) geht aus dem Haus, und der teuflische Doktor Miracle nutzt diese Chance und stachelt Antonias Ehrgeiz an, bis sie sich trotz aller Warnungen buchstäblich zu Tode singt.

Der vierte Akt spielt in Venedig und zelebriert die berühmte Barcarole. Zwar wartet das Bühnenbild nicht mit veritablen Gondeln auf, aber stattdessen gibt es zwischen Vorhängen anmutig kreisende lindgrüne Boudoirmöbel, auf denen sich dekorativ sitzen und singen läßt. Hoffmanns Leidenschaft ist diesmal auf die Kurtisane Giulietta gerichtet. Der niederträchtige Dapertutto hat sie mit dem Geschenk eines Diamanten dazu bewegt, Hoffmann sein Spiegelbild zu rauben. Die berühmte Spiegelarie des bösen Intriganten klingt diesmal irgendwie anders - es muß wohl mehrere Versionen davon geben. Hoffmann tötet den Konkurrenten Schlemihl (Byung Gil Kim), überläßt Giulietta sein Spiegelbild und ersticht sie am Ende mit dem Degen des abgefeimten Dapertutto, als sie ihn wegen des Schlemihl-Mordes an die Häscher verrät.

Schließlich führt der fünfte Akt wieder zu Lutter & Wegner. Hoffmann ist nun vollends berauscht und will auch nichts mehr von Stella wissen, die nach ihrem Erfolg als Donna Anna in „Don Giovanni“ von der Bühne zurückkehrt. Die Muse verspricht Hoffmann Trost in der Kunst - nach allem Bisherigen eine eher vage Hoffnung.

Die Inszenierung von Laurent Pelly im sehr abwechslungsreichen und beweglichen Bühnenbild von Chantal Thomas leuchtet die Aspekte der verschiedenen Persönlichkeitsbilder sehr überzeugend aus. Die Solistenrollen sind sämtlich gut besetzt und geben der Handlung die nötige Farbe. Jeremy Bines hat seine Chöre genau instruiert, und Enrique Mazzola am Pult erreicht eine ausgewogene Harmonie mit dem aufmerksamen Orchester der Deutschen Oper. Viel Beifall am Ende eines ausgedehnten Premierenabends, der das Publikum kurz vor Mitternacht entläßt.







112818
Was ist schon Realität ?
Premiere „Ruhm“ von Daniel Kehlmann
bei den Vaganten Berlin


Es ist ein ganz spezielles Phänomen, dem sich der Erfolgsautor Daniel Kehlmann in seinem 2009 erschienenen Roman „Ruhm“ widmet.  Erik Schäffler hat den Roman  zu einem Bühnenstück umgearbeitet, das jetzt bei den Berliner Vaganten Premiere hatte: der anfangs unmerkliche Verlust der Realität, der alle vermeintlich sicheren Relationen schrittweise derart verschiebt, dass schliesslich eine veränderte, neue Realität an die Stelle der bisherigen tritt. Dergleichen ist natürlich mit literarischen Mitteln sehr viel leichter darzustellen. Den Vorgang auf der Bühne plausibel zu machen, ist ohne Zweifel eine besondere Herausforderung, sowohl für die Inszenierung wie für die Darsteller.

Die schleichende, bisweilen auch abrupte Veränderung von Lebensumständen wird an verschiedenen Schicksalen vorgeführt, wobei tragikomische Verwicklungen die Regel sind.
Am Anfang steht eine falsch oder doppelt vergebene Handynummer, wodurch ein Handybenutzer ständig Anrufe erhält, die für jemand anderen bestimmt sind. Von den neun Episoden der Romanhandlung, die ziemlich genau in das Bühnenstück überführt werden, bleiben einige besonders im Gedächtnis. So die Einführung des überempfindlichen Schriftstellers Leo Richter, des sich selbst imitierenden Schauspielers Ralf Tanner, die skurrile Pressereise der Maria Rubinstein in ein asiatisches Land und das Doppelleben des Abteilungsleiters einer Mobiltelefongesellschaft zwischen seiner Ehefrau Hannah und der Freundin Luzia. In der letzten Episode, die in Afrika spielt, tritt der Autor Leo Richter als mutiger Begleiter bei einem humanitären Einsatz auf.

Die Inszenierung von Hajo Förster holt aus den knappen Möglichkeiten der kleinen Vaganten Bühne die besten Effekte heraus. Als dekorative szenische Elemente dienen lediglich ein paar auf Rollen verschiebbare Stellwände und eine Reihe hölzerner Schemel. Die entscheidenden Akzente setzt eine sehr erfindungsreiche Ton- und Lichtregie.

Die  Darstellung der vielfältig miteinander verwobenen Lebensgeschichten übernimmt ein bestens aufeinander eingestimmtes Ensemble, das sich den wechselnden Situationen gewandt anpaßt und die verschiedenen Charaktere überzeugend darstellt. Lisa Marie Becker, Marion Elskis, Felix Theissen und Urs Fabian Wininger gelingt es mit intensiver Personengestaltung und blitzschnellen Kostümwechseln, die anspruchsvolle Romanhandlung einleuchtend auf die Szene zu bringen.

Das Premierenpublikum dankt für die Aufführung mit begeistertem Applaus.

110418
Ein vertriebenes Genie
Gastspiel-Premiere „Abraham“
Im Schlosspark Theater Berlin

„Eine Tragikomödie“ nennt Autor Dirk Heidicke seine Szenenfolge aus dem Leben des Komponisten Paul Abraham, und treffender kann man diese bald erheiternden, bald erschütternden Stationen eines an Höhen und Tiefen reichen Künstlerlebens kaum zusammenfassen. Heidickes Collage kam erstmals 2015 in Magdeburg auf die Bühne und ist jetzt als Berliner Erstaufführung mit Susanne Bard und Jörg Schüttauf  im Schlosspark Theater zu sehen. Am Flügel begleitet Jens-Uwe Günther die Bühnenhandlung mit musikalischen und szenischen Impulsen. Für Regie und Ausstattung zeichnet Klaus Noack verantwortlich.

Als Sohn eines jüdischen Kaufmanns und einer Klavierlehrerin kam Paul Abraham 1892 im damals ungarischen Apatin zur Welt. Früh zeigte sich ein musikalisches Talent, ohne dass sich daraus zunächst irgendwelche Erfolge ableiten liessen. 1927 wurde er Kapellmeister am Budapester Operettentheater, und im selben Jahr kam dort seine erste Operette „Der Gatte des Fräuleins“ heraus. Ihr folgt als zweite Operette „Viktoria“ mit Erfolg in Budapest. Auf Drängen von UFA-Produzent Erich Pommer ging Abraham gemeinsam mit seiner Frau Sarolta Feszelyi nach Berlin.

Hier überarbeiten die Librettisten Alfred Grünwald und Fritz Löhner-Beda die Budapester „Viktoria“, die im Jahre 1930 als „Viktoria und ihr Husar“ über die Bühne des Metropol-Theaters geht und einen fulminanten Erfolg hat. Das liegt großenteils an Abrahams zukunftsweisender Musik, die ins Orchester eine Jazzband integriert und mit raffinierten Stilmischungen arbeitet. Stets dirigiert Abraham selbst das Orchester, wobei er weisse Handschuhe trägt. Als nächste Operette folgt „Die Blume von Hawaii“, deren Publikumserfolg nochmals neue Maßstäbe setzt. Abraham verdient viel Geld und gibt es mit vollen Händen aus. Die dunkle Seite seiner Existenz: er findet oft keinen Schlaf und streift stattdessen durchs nächtliche Berlin, wo er Spielcasinos und Bars besucht und sexuelle Abenteuer nicht scheut. Seine Frau verläßt ihn und geht zurück nach Budapest.

Im Dezember 1932 kommt seine nächste Operette „Ball im Savoy“ heraus, und noch einmal spendet die politische Prominenz um Reichskanzler Kurt von Schleicher im Metropoltheater dem jüdischen Komponisten Applaus, bevor dieser durch zunehmende Anfeindungen von Seiten der heraufziehenden Nazidiktatur zur Flucht gezwungen wird. Seinem Chauffeur vertraut er den Schlüssel zu seinem Safe an, in dem angeblich 200 unveröffentlichte Kompositionen liegen, die anschließend Zug um Zug an „arische“ Komponisten veräußert werden. Dieser Teil von Abrahams Selbstaussage ist allerdings ohne nachprüfbaren Beleg.

Abraham flieht nach Budapest und Wien, dann in Pariser Emigrantenkreise, schließlich in die USA. Ein Jahr Barpianist in Havanna, dann folgt New York, wo ihm der Broadway aber die kalte Schulter zeigt. Freunde begleichen stillschweigend die Rechnungen im Hotel „Windsor“, in dem er lebt.     Nun zeigen sich Symptome einer geistigen Krankheit, die mit zunehmender Realitätsferne einhergeht. 1946 dirigiert er auf der Madison Avenue ein nur in seiner Phantasie existierendes Orchester und wird von der Polizei wegen Verkehrsgefährdung festgenommen. Es folgen Jahre in der Psychiatrischen Klinik von Creedmor auf Long Island, bis sich in Hamburg ein „Paul-Abraham-Komitee“ gründet und das gescheiterte Kompositionsgenie 1956 nach Deutschland zurückholt. Es gelingt, seine Frau Sarolta aus Ungarn herbeizuholen, die ihren Gatten nun hingebungsvoll versorgt. Paul Abraham wähnt sich bis zum Schluß im New Yorker Hotel „Windsor“. 1960 stirbt er in Hamburg an den Folgen einer Krebsoperation.

Dirk Heidickes Abraham-Revue setzt 1956 mit dem Rückflug nach Hamburg ein und läßt dann in Rückblenden die vorangegangenen Lebensphasen aufleuchten. Wie Jörg Schüttauf als Paul Abraham und Susanne Bard in verschiedenen Frauenrollen diese Stationen eines Lebens zwischen rauschendem Erfolg und langjährigem Abstieg lebendig werden lassen, ist sehens- und erlebenswert. Susanne Bard kann sowohl einen mondänen Vamp wie ein besorgtes Hausmütterchen darstellen und gibt den eingestreuten Chansons Farbe und reizvolle musikalische Gestalt. Jörg Schüttauf schließlich schlüpft mit künstlerischem Ernst und virtuos eingestreuter Clownerie absolut glaubwürdig in die Abraham-Maske und gibt diesem Lebenslauf fesselnde Präsenz.

Das Publikum dankt mit ausgiebigem Applaus für einen anregenden und instruktiven Abend, der ein fast vergessenes Komponistenleben wieder ins öffentliche Bewusstsein rückt. 

103018
Konsequent grotesk
„Champignol wider Willen“
in der Schaubühne Berlin

Nicht weniger als 24 abendfüllende Stücke und 21 Einakter hat er geschrieben, der Meister des Vaudeville und der türenklappenden Tempo-Komödie, Georges Feydeau. Sein „Champignol malgré lui“ (Champignol wider Willen) wurde 1892 im Théâtre des Nouveautés in Paris uraufgeführt.

An der Berliner Schaubühne hat jetzt Herbert Fritsch das Stück inszeniert. Der Name des Regisseurs steht für einen ganz eigenen Stil im Umgang mit Komödien und ist noch aus Zeiten der Volksbühne für so erfolgreiche Aufführungen wie „Die spanische Fliege“ und „Murmel Murmel“ in guter Erinnerung. Zu seinen Inszenierungen an der Schaubühne gehören „Zeppelin“ und „Null“.

Der nur pietätvolle Umgang mit chirurgischem Besteck ist nicht seine Art des Herangehens an eine Spielvorlage. Stattdessen wird unter seinen Händen daraus eine ganz neue, überaus vitale und konsequent umgesetzte Bühnenversion. Fritsch vermählt die Vorlage des seligen Georges Feydeau mit dem Geist und den Ausdrucksformen von Louis de Funès. So entsteht eine Spielvorlage von konsequent grotesker szenischer Wirkung. Alle verwehte gezügelte Darbietung von gestern ist vergessen. Was wir stattdessen bekommen, ist eine enorm gegenwärtige, auf starke Wirkungen zielende Interpretation unserer Tage. Die Schauspieler werden klug geführt und gleichzeitig exzessiv von der Leine gelassen. Das ergibt ein exakt choreographiertes Herumhampeln und Grimassenschneiden, das den Akteuren sichtlich ein eminentes Vergnügen bereitet.

Champignol (Florian Anderer) ist ein in Paris ansässiger Maler,  derzeit auf Reisen. Seine Frau Angèle (attraktiv und souverän: Ursina Lardi) vertreibt sich die Zeit  bis zur Rückkehr ihres Gatten mit dem Herumtreiber Saint-Florimond (überaus beweglich: Bastian Reiber). Bis ein Gendarm (Stefan Staudinger) auftaucht, der den vermeintlichen Champignol zum Wehrdienst abholen soll. Er greift sich den einzigen Mann im Maleratelier, der nach dem Urteil aller dort Anwesenden der fragliche Maler sein muss. Klappende Türen sucht man in dieser Inszenierung vergebens. Stattdessen offeriert das Bühnenbild (ebenfalls von Herbert Fritsch) eine klaffend rote Spalte in der Bühnenmitte, in der Treppenstufen hinunter- und wieder heraufführen. Das Dienstmädchen Charlotte (Carol Schuler) nutzt diese Treppe mehrfach, um ihre üppig wippende Haarpracht vorzuführen.

Das Bühnenbild läßt im  übrigen viel Raum für zwei Inventarstücke, die lebhaft hin- und her bewegt werden: ein voluminöses Sofa, das im Hintergrund der Bühne halbkreisförmig platziert wird, und ein faltbares Militärzelt, aus dem die Militärs verschiedenster Ränge herauspurzeln und dorthin auch wieder zurückkehren. Der zweite Teil bis zur Pause spielt in diesem herrlich persiflierten Regimentsmilieu, in dem sich nacheinander der Capitaine Camaret (Axel Wandtke), seine Adjutant Ledoux (Robert Beyer) und Commandant Fourrageot (wieder Stefan Staudinger) in herrlich überdrehtem Kasernenton vernehmen lassen. Als Caporal Grosbon glänzt Carol Schuler mit einer Exerzierstunde für die im Halbkreis aufgestellten Reservisten. Natürlich potenzieren sich die Irrtümer und Verwechslungen, als nicht nur der falsche, sondern auch der echte Champignol im selben Regiment Dienst tun.

Der dritte Teil nach der Pause präsentiert einen elegant stilisierten Empfangssaal, in dem eine geheimnisvolle Asiatin (Taiko Saito) zunächst ein virtuoses Vibraphonsolo präsentiert, bis sich dann die Irrungen und Wirrungen zwischen verschiedenen Heiratswilligen fortsetzen. Ein dekorativer Kronleuchter entfällt der Saaldecke, und der schlaksige Reservist Prinz von Valance (Maximilian Diehle) klettert eine goldene Leiter hinauf, um dem Kronleuchter  einen Schubs zu geben. Onkel Camel (Werner Eng), seine Tochter Mauricette (Iris Becher) und deren Mann (Damir Avdic) sowie die Capitainestocher Adrienne (ebenfalls Iris Becher) sowie Neffe Célestin (Bernardo Arias Porras) stürzen sich abwechselnd in den Trubel. Wie sich der Widerstreit von News und Fake News am Ende auflöst, soll hier nicht verraten werden, damit der Knalleffekt nicht verpufft.

Man ist am Ende gleichermaßen erschlagen wie bezaubert. Das Publikum, von geringfügigen Abwanderungen zur Pause einmal abgesehen, spendete den Akteuren und den exzellenten Musikern begeisterten Applaus.

102118
Tengo Famiglia
Premiere von „Was zählt, ist die Familie“
im Schlosspark Theater Berlin

Das Stück stammt vom US-amerikanischen Bühnenautor und Liedtexter Joe DiPietro und wurde 1996 uraufgeführt. Zu den Vorzügen dieser Komödie gehört, dass sie pointenreiche Dialoge mit nachdenklichen Passagen mischt, was einen kurzweiligen Handlungsablauf ergibt.

Am Berliner Schlosspark Theater wird daraus in der Regie von Anatol Preissler  ein sehr unterhaltsamer Theaterabend mit begeisterter Publikumsresonanz. Neben routinierter Dialogregie bewährt sich vor allem der szenische Kniff der Lichtregie, einzelne Akteure  für einen kurzen inneren Monolog per Punktscheinwerfer aus der Gesamtbühne herauszuheben. Norbert Bellens Bühnenbild und Kostümgestaltung unterstützt die Rahmenwirkung betont schlichter Häuslichkeit.

Hauptakteur und Mittelpunkt der Handlung, die im wohlbehüteten Raum der nordamerikanischen Provinz spielt, ist der junge Nick Cristano, den Johannes Hallervorden mit Charme, Herz und hervorragender Sprachpräsenz spielt. Eine berufliche Veränderung steht für ihn bevor: er soll auf eine Position befördert werden, die den Umzug ins entfernte Seattle erfordern würde. Bis dahin war seine angestammte Umgebung vor allem die Wohnung der Großelternpaare, die sich mit ihm allwöchentlich zum Essen im Familienkreis treffen. Die Großeltern, das sind Aida Gianelli (Anita Kupsch) und Frank Gianelli (Herman van Ulzen) sowie Emma Cristano (Dagmar Biener) und Nunzio Cristano (Holger Petzold). Es sind vor allem die Großeltern, von denen diese zentripetale Kraft der Familienidee ausgeht. Nicks Eltern kommen nur einmal kurz per Telefon ins Spiel. Die Großeltern setzen nun alle zu Gebote stehenden Machtmittel ein, um die Abwanderung des geliebten Enkelsohns zu vereiteln. Oma Aida ist eine Virtuosin der Küche und pflegt Gäste mit der Formel zu begrüßen, sie sähen gänzlich verhungert aus. Schließlich läuft der versammelte Ratschluß der Großelterngeneration darauf hinaus, den in die Ferne strebenden Enkel mit der attraktiven Caitlin O’Hare (Katharina Maria Abt) zu verkuppeln.

Das Trommelfeuer der Bleibeaufforderungen geht Nick am Ende derart auf die Nerven, dass er mit einer Herzattacke zu Boden geht und anschließend ein paar Wochen im Hause der Großeltern pausieren muss.

Aber alle Bemühungen, Nick vom Fortzug abzuhalten, bleiben letztlich wirkungslos - die lockenden Chancen beruflicher Weiterentwicklung gewinnen die Oberhand. Nick reist ab, grüßt aus der Ferne und bekommt als erstes eine Riesenpackung Lasagne aus der Küche von Oma Aida nachgeschickt. Nach und nach verabschieden sich die Großeltern vom Leben, aber was bleibt, ist die verklärende Idee von der integrativen Familienbindung.

Das Publikum folgt dem Pointenfeuerwerk mit verständnisinniger Hingabe - manches Mal fühlt man sich in dieser Familienwelt fast wie zu Hause. Am Ende begeisterter Beifall, der sich zu rhythmischem Klatschen steigert und allen Mitwirkenden gilt, allen voran Johannes Hallervorden mit seinem äußerst gewinnenden Auftreten. Zu Recht gibts für alle einen Blumenstrauß aus der Hand des Intendanten Dieter Hallervorden.



101918
Liebe, Songs und Leidenschaft
Uraufführung „Lenya Story“
im Renaissance-Theater Berlin

Das Leben von Lotte Lenya ist  das Paradebeispiel einer Karriere mit allen Höhen und Tiefen. Es kulminierte in der Beziehung zum jüdischen Komponisten Kurt Weill, mit dem sie sogar zweimal  verheiratet war. Beider Lebensweg wird von den Namen großer Künstler ihrer Zeit gesäumt. Unbestreitbarer Höhepunkt war wohl die Uraufführung der „Dreigroschenoper“ am 31. August 1928 im Berliner Theater am Schiffbauerdamm, Text von  Bertolt Brecht und Musik von Kurt Weill. Die Songs aus jener sozialkritischen Revue sind noch heute in jedermanns Ohr und entfalten jetzt auch in dieser „Hommage an Lotte Lenya und Kurt Weill“ ihren zündenden, mitreissenden Charme.

Ihr Leben war an Farbigkeit kaum zu übertreffen. Geboren als Karoline Wilhelmine Charlotte Blamauer 1898 in Wien, wuchs sie in ärmlichen Verhältnissen auf. Sie verbrachte die Jahre als junges Mädchen in der Schweiz und wurde hier viel in Begleitung von Offizieren gesehen. 1921 ging sie mit ihrer Freundin Grete Edelmann nach Berlin, um dort „richtig Karriere zu machen“ - jetzt unter dem Namen Lotte Lenya. Durch ihre ersten Theaterauftritte lernte sie den Dramatiker Georg Kaiser kennen und wurde Haus- und Kindermädchen in Kaisers Haus im Vorort Grünheide. Dort traf sie 1924 den Komponisten Kurt Weill, den sie zwei Jahre später heiratete. 1927 hatte Weills Songspiel „Mahagonny“ in Baden-Baden Premiere, und die Mitwirkung von Lotte Lenya fand bei der Kritik große Anerkennung. Es folgte die Beziehung mit dem Tenor Otto von Pasetti, die Scheidung von Kurt Weill erfolgte 1933 aber wohl eher, damit Lenya die Vermögenswerte von Weill  vor der Beschlagnahme durch die Nazis retten konnte.  Stattdessen wurden  die materiellen Werte ein Opfer ihrer Spielleidenschaft, der sie gemeinsam mit Pasetti in europäischen Spielcasinos frönte.

1935 wanderte Lenya mit Weill in die USA aus, und beide bemühten sich dort, Amerikaner zu werden und Europa zu vergessen. 1937 heirateten sie erneut. Kurt Weil starb 1950 an einem Herzinfarkt in New York. Ein Jahr später heiratete Lenya den Autor und Verleger George Davis, und sie spielte die Rolle der kämpferischen Witwe Weills, die mit Leidenschaft für dessen Werk eintrat. 1955 war sie gemeinsam mit Davis in Deutschland, und er starb hier zwei Jahre später. Nun begann Lotte Lenyas zweite Karriere, zu der auch ihre Filmrolle als Rosa Klebb im James-Bond-Film „Liebesgrüße aus Moskau“ gehörte. Sie spielte „Fräulein Schneider“ im Musical „Cabaret“, ehelichte als 64jährige den sehr viel jüngeren, alkoholkranken Maler Russel Detwiler, der 1969 tödlich verunglückte. Ihre letzten Jahre waren von Einsamkeit und Krankheit geprägt. Sie starb 1981 in New York.

Dem Autorenduo Torsten Fischer und Herbert Schäfer ist es gelungen, aus den widerstreitenden Elementen dieser Lebensgeschichte eine szenische Collage zu formen, in der die herausragenden Songs noch einmal die Höhepunkte der Kompositions- und Interpretationsleistung des Duos Lenya-Weill lebendig werden lassen. Für diese Uraufführung im Berliner Renaissance-Theater in Kooperation mit dem Wiener Theater in der Josefstadt übernimmt Torsten Fischer die Regie, und Herbert Schäfer baut ihm mit Vasilis Triantafillopoulos eine halsbrecherisch schräge Bühne, die sich als Diagonale von links unten nach rechts oben präsentiert. In den knappen Raum dahinter zwängt sich die fabelhafte Band aus Harry Ermer, Stephan Genze, Daniel Zenke und Roland Schmitt, deren perfektes Jazz-Feeling wesentlich zum durchschlagenden Publikumserfolg der Songs beiträgt.

Den entscheidenden Impuls für den uneingeschränkten Sieg dieser Aufführung liefert allerdings die Besetzung der beiden Hauptrollen. Sona Macdonald als Lotte Lenya ist ein absoluter Glücksfall. Sie hat eigentlich drei Stimmen : eine klare, gut artikulierte Sprechstimme, einen dunkel getönten Chanson-Ton, der von einem hell klingenden, schön timbrierten Sopran gekrönt wird. Dieses breitgestreute Talent erlaubt es ihr, alle Ecken der präsentierten Chansons überzeugend auszuleuchten. So hört man mit Begeisterung Kassenschlager wie den „Alabama-Song“, den „Havanna-Song“ und die schon klassische „Moritat von Mackie Messer“ , den  unverwüstlichen „Bilbao-Song“, „Surabaya Johnny“ und als absolute Krönung zum Schluß die „SeeräuberJenny“ aus der Dreigroschenoper. Sona Macdonald gestaltet diese Stücke lustvoll expressiv und gibt ihnen damit eine suggestive Bühnenpräsenz.

Ihr zur Seite spielt Tonio Arango die Rolle von Kurt Weill und der später folgenden Lenya-Gatten. Auch er weiss mit Spielfreude und geschickter Interpretation zu überzeugen und bewährt sich sogar als Duettpartner von Sona Macdonald in einzelnen Songpassagen.

Das Premierenpublikum bejubelt eine gelungene Reinkarnation zweier unsterblicher Künstlernamen, die hier höchst lebendig in Erinnerung gerufen werden.



 

101218
Sens contra Nonsens
„Cry Baby“ von René Pollesch
im Deutschen Theater Berlin

Dass Sophie Rois nach der Dürreperiode der Volksbühne nunmehr im Besetzungspool des Deutschen Theaters gelandet ist ( und damit Berlin erhalten bleibt), ist ohne Zweifel eine der positiven Nachrichten aus der hauptstädtischen Theaterszene. René Polleschs „Cry Baby“ bekommt  durch ihren Auftritt einen besonders hervorhebenswerten Akzent und sorgt für ausverkaufte Vorstellungen.

René Pollesch, seit Jahr und Tag ein ausgewiesener Mixperte für intelligente Textcollagen mit gelegentlichem Nonsens-Flair, greift hier ein weiteres Mal mit geübter Hand in seine angestammte Trickkiste und präsentiert eine auf vielfache Weise animierende Sammlung beziehungsreicher Fundstücke mit literaturwissenschaftlichem Reiz, Bekanntes in neuem Kontext und Eigenes in reizvoller Umgebung. Daraus wird dann ein thematisch multivalenter Reigen, der einen herrlichen Manöverplatz  für Schauspieler mit einem speziellen Kick abgibt.

Das Bühnenbild von Barbara Steiner fügt dem Halbrund der beiden Ränge des DT einfach noch jeweils zwei Subszeniums-Logen hinzu, mit täuschend ähnlicher Optik in Weiss und Gold samt leuchtend roter Auskleidung. Vor dem hoch aufragenden Bühnenhintergrund hängt ein fantasievoll orientalisch dekorierter Vorhang, und inmitten der Szene ein goldfarbenes Kanapée, auf dem sich alsbald ein Chor von zwölf apart individuell gekleideten jungen Damen räkelt,  von denen acht aus dem 2. Studienjahr der Berliner Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ stammen. Was der Chor tanzend, sprechend und agierend zu diesem Abend beiträgt, ist bemerkenswert und zeigt insbesondere in den Sprechchören eine verblüffend akribisch trainierte Präzision. Die Ladies können mit Musketen ebenso virtuos umgehen wie mit dem Florett, um der gelegentlich geforderten Aktivität als Exekutionskommando Nachdruck zu verleihen.

Vier Schauspieler werfen einander und dem Chor die Bälle zu. Judith Hofmann ist für den Tiefsinn der intellektualistisch aufgemotzten Monologe zuständig, Christine Groß liefert dazu den passenden Widerpart. Bernd Moss gibt aus einer der Logen blitzende Kommentare und darf später mit Sophie Rois die Klingen kreuzen.

Die thematischen Akzente entnimmt Pollesch mit  routinierter Hand verschiedenen Quellen. Darunter sind Texte von Buñuel und Adorno, und seine kombinierende Fantasie macht auch vor Kleists „Prinz von Homburg“ nicht halt.

Die einzelnen Schwerpunkte werden durch Verknüpfungen mit dem Phänomen des Schlafes interpunktiert. Dem Chor fällt zunächst eine ergötzliche Deutung der Begriffe „Team“ und „Teamfähigkeit“ zu, die jedem Handbuch des Managements Ehre machen würde. Dann dürfen sich Schauspieler-Solisten mit intelligenten Ausdeutungen des Begriffes „Liebhabertheater“ auseinandersetzen, und Sophie Rois bekennt, 20 000 Francs für die Möglichkeit bezahlt zu haben, auf dieser Bühne auftreten zu dürfen.
Dem Chor gelingt eine finale Abrechnung mit Udo Lindenbergs Song vom „Sonderzug nach Pankow“.

Ja, und was ist mit Sophie Rois ? Sie hält mit souveräner Sicherheit eine Ausnahmeposition in ihrem weißen Nachthemd mit den überlangen Ärmeln, die sich so wunderbar ins Spiel integrieren lassen. Wie sie den Monolog der Klytemnästra „Ich habe keine guten Nächte“ aus Hofmannsthals „Elektra“ zugleich zitiert und parodiert, ist schon ein rechtes Kabinettstückchen. Ihre kehlig-kratzende Stimme hat gleichwohl hundert verschiedene Farben und kann ebenso gut scharf und bestimmend klingen.

Das Publikum honoriert die kurzweiligen siebzig Spielminuten mit begeistertem Applaus.

100818
Das Märchen vom gerechten Geld
Premiere „Präsidentensuite“
im Renaissance-Theater Berlin

Als im Mai 2011 die Nachricht von der Festnahme des IWF-Direktors und französischen Präsidentschaftsanwärters Dominique Strauss-Kahn am New Yorker Kennedy-Flughafen unter dem Vorwurf der versuchten Vergewaltigung eines Zimmermädchens im New Yorker Hotel Sofitel bekannt wurde, war die Reaktion der Öffentlichkeit zunächst ungläubiges Staunen, dann Bestürzung und Kopfschütteln über den Fortgang der Affäre und das Arsenal von Vertuschungsversuchen, mit denen angestrebt  wurde, den hochgestellten Delinquenten von der Last der gegen ihn erhobenen  Vorwürfe zu befreien. Der amerikanische Autor John T. Binkley hat aus diesem Geschehen sein Bühnenstück „Presidential Suite“ abgeleitet, das 2012 in Edinburgh Premiere hatte. Guntbert Warns und Moritz Staemmler haben den Text ins Deutsche übertragen, und das Ergebnis ist jetzt als Deutsche Erstaufführung im Berliner Renaissance-Theater zu sehen.

John T. Binkley hat nun nicht einfach eine Dokumentation aus der Realvorlage geformt, sondern ein gerüttelt Maß an Kapitalismuskritik und eine Attacke auf Machtmißbrauch und anwaltliche Winkelzüge darin untergebracht. Um nicht selbst in juristische Fallstricke zu geraten, sind die Namen der handelnden Personen verändert, aber es bleibt stets klar erkennbar, wer gemeint ist und wie sich die Handlung entwickelt.

Der Regie von Guntbert Warns gibt Bühnenbildner Momme Röhrbein eine szenische Lösung an die Hand, die aus fünf nebeneinander platzierten Sprecherkabinen in der Art von Zeugenständen besteht, die durch Plexiglasscheiben voneinander getrennt sind. Zwei Drittel des Handlungsablaufs bis zur Pause dokumentieren in konzentrierter Form den Hergang der Entwicklung von der Festnahme des Richard Feynon Chataigne, wie der IWF-Chef und frühere Wirtschaftsminister hier heisst (gespielt von Dietrich Adam). Eine zentrale Rolle fällt  seiner Frau, Madame Chataigne (Imogen Kogge) zu, deren Privatschatulle die 3 Millionen Dollar entstammen, mit denen sie versucht, das anklagende Zimmermädchen zum Verzicht auf eine Aussage vor Gericht zu bewegen. Dann ist da noch der gewiefte Anwalt der Chataignes, Jordan Pershing (Heikko Deutschmann), der zunächst seiner Sache ganz sicher ist, die Niederschlagung des Verfahrens erreichen zu können. Das Zimmermädchen Naomi St. Cloud (Maya Alban-Zapata), überaus beredt in seiner Suche nach Gerechtigkeit, ist gleichwohl auf die Ratschläge seiner Anwältin Elizabeth Granger (Johanna Griebel) angewiesen und zögert deshalb, den ihr angebotenen Vertrag über die 3 Millionen Dollar Schweigegeld zu unterzeichnen, die ihre bisher sehr bescheidene Existenz bis ans Lebensende sichern würden.

Man erwartet, dass es nach der Pause mit einer Darstellung von Gerichtsszenen weitergehen würde. Aber hier setzt nun die intelligente, pfiffige Alternative des Autors ein, die ihm die Waffe prinzipiell fundierter Gesellschaftskritik in die Hand gibt, ohne nur moralinsaure Randbemerkungen zu liefern. Der Millionensumme in der einen Schale von  Justitias Gerechtigkeitswaage wird in der andere Waagschale eine gleich hohe Summe von seiten einer Stiftung zugunsten verfolgter Frauen entgegen gestellt, die aber im Falle einer wahrheitsgemäßen Aussage des Zimmermädchens vor Gericht fällig wird. Weil die Realität eine solche Wendung nicht zuließ, bezeichnet der Autor das Ganze als ein „modernes Märchen“. Ein Märchen, das in vielfacher Hinsicht nachdenklich macht.

Die Szene lebt vom gekonnt formulierten Text und dem darstellerischen Geschick der abgebildeten Personen. Dietrich Adam spielt die Rolle des entlarvten Vergewaltigers souverän und in der trügerischen Gewissheit, dass der Mitteleinsatz seiner Frau ihn retten wird. Imogen Kogge als Madame Chataigne hält dies anfangs ebenfalls für sicher und wird darin von Heikko Deutschmann als renommierter Anwalt im Brustton der Überzeugung unterstützt. Maya Alban-Zapata als das bedrängte Zimmermädchen Naomi gewinnt viele Sympathien und wird bei ihrer Suche nach Gerechtigkeit von Johanna Griebel als Anwältin ihrer guten Sache zielbewußt angeleitet.

Am Schluß gibts viel Beifall vom Premierenpublikum für eine Semi-Fabel, in der endlich einmal die Macht des Geldes durch eine ebenso hohe Gegensumme neutralisiert wird.

100618
Der Mensch ist ein Abgrund
Premiere von Alban Bergs „Wozzeck“
in der Deutschen Oper Berlin

Als Georg Büchner 1837 nur 23jährig in Zürich nach schwerer Krankheit starb, war sein „Wozzeck“ ein unvollendetes Fragment. Der österreichische Schriftsteller Karl Emil Franzos bearbeitete den Nachlaß und publizierte 1879 erstmals die überarbeitete Fassung des Dramas. Alban Berg lernte den Stoff 1914 bei einer Aufführung in den Wiener Kammerspielen kennen. Das Dramenfragment des Medizinstudenten Büchner und die Opernpartitur des Komponisten Alban Berg haben eins gemeinsam: beide waren bei der Entstehung ihrer Zeit voraus.

Erich Kleiber dirigierte 1925  die Uraufführung des „Wozzeck“ an der Berliner Staatsoper Unter den Linden, und die Aufführung wurde ein großer Erfolg. Ab 1933 galt Bergs an Schönberg geschulte Kompositionstechnik als „entartet“, seine Musik wurde fortan geächtet und war erst nach 1945 wieder in der Öffentlichkeit zu hören.

Die Neuinszenierung der Deutschen Oper Berlin stützt sich auf die Franzos-Version des Büchner-Textes und entfaltet dabei, unterstützt von der hilfreichen Projektion der Übertitel, den Reiz einer dichterisch konzentrierten Szenenfolge, in der Büchners Diktion immer aufs neue durch zeitlose Modernität überrascht. Die Figur des Soldaten Wozzeck, der mit seiner Freundin Marie ein uneheliches Kind hat und sich zur Erfüllung seiner Unterhaltspflichten als Handlanger bei einem Hauptmann verdingt und sich überdies von einem selbstverliebten Arzt für medizinische Experimente heranziehen lässt, kann in ihrer düsteren Zwangsläufigkeit bereits das nahende Unheil ahnen lassen. Dabei ist diese fatale Abwärtsspirale eben nicht nur durch gesellschaftliche Repression definiert, sondern sie wurzelt zu einem guten Teil auch in der problematischen Persönlichkeit des Protagonisten, die durch depressive und wahnhafte Zustände geprägt ist. Marie läßt sich auf die Macho-Figur des Tambourmajors ein, und in Wozzeck keimt Eifersucht auf, die schließlich in die mörderische Messerattacke mündet. Als Wozzeck die Entdeckung seiner Tat fürchtet, begeht er Selbstmord.

Der norwegische Regisseur Ole Anders Tandberg verzichtet in seiner Inszenierung dankenswerterweise auf gewaltsame Brücken zur deutschen Geschichte und drückt seiner gelegentlich aufmarschierenden Volksmenge stattdessen fröhliche norwegische Fähnchen in die Hand. Das Bühnenbild von Erlend Birkeland unterstützt den raschen Wechsel zwischen den 15 Szenen der drei Akte, und das Ergebnis ist eine zügige Abfolge mit rund 100 Minuten Spieldauer. Die einzelnen Szenen werden durch einen Zwischenvorhang interpunktiert, auf den ein Porträtvideo des Wozzeck-Darstellers projiziert wird.

Die einzelnen Figuren werden klar umrissen und in konzentrierter Form stilisiert. Der Wozzeck von Johan Reuter ist kein abgerissener  Underdog, sondern er trägt einen himmelblauen Straßenanzug, der vermutlich die vergebliche Sehnsucht nach sozialem Aufstieg symbolisieren soll. Sein verquältes Grundempfinden, die verdeckte Auswirkung ständiger Demütigungen kommen in Reuters Darstellung gut heraus. Die Marie von Elena Zhidkova hat einen hellen, kraftvollen Sopran. Für die abrupte Zuwendung zum Tambourmajor findet man allerdings kaum Anhaltspunkte. Ihr Schuldbewusstsein und die mentale Flucht in Bibelzitate liefern ein glaubwürdiges Gegengewicht zur sündhaften Ausschweifung.

Den Tambourmajor spielt Thomas Blondelle mit auftrumpfender Pose. Burkhard Ulrich gibt den moralisierenden Platitüden des Hauptmanns eine klare, präzise Artikulation. Seth Carico ist ein fabelhafter Bilderbuch-Experimentator, der sich durch seine Forschungen ewigen Ruhm erhofft. Matthew Newlin ist Andres, Wozzeks Freund, der auf ihn einzuwirken versucht, aber das tragische Ende nicht aufzuhalten vermag. Die knackige Kellnerin Margret ist bei Annika Schlicht in guten Händen, und Andrew Dickinson bringt als Narr düstere Prognosen zu Gehör. Unter den Handwerksburschen bleibt vor allem die sorgfältig ausgeformte Studie von Tobias Kehrer im Gedächtnis, dessen Seele hier „nach Branntewein stinkt“.

Das tragende Gerüst für diesen sehr konzentrierten Abend liefert allerdings die Partitur von Alban Berg in der Auslegung durch den Musikchef der Deutschen Oper Berlin, Donald Runnicles. Er geleitet sein groß besetztes Orchester mit bewundernswertem Feingefühl durch die vielen verborgenen Schönheiten dieser Komposition, die er nicht nur mit dominantem Blech und Schlagzeug dokumentiert, sondern eben auch mit kammermusikalischer Finesse, die den zahllosen klangschönen Solomomenten den angemessenen Raum gibt. So bleibt der Eindruck eines auch musikalisch höchst ansprechenden, durchaus genußreichen Klanges.

Das während der gesamten Premiere mucksmäuschenstille Publikum feiert im reichlichen Schlußbeifall, den keine Mißfallensäußerung trübt, einen sehr eindrucksstarken, gelungenen Opernabend.




090918
Das Schweigen des Papstes
Premiere von Hochhuths „Der Stellvertreter“
im Schlosspark Theater Berlin

Als der junge Autor Rolf Hochhuth 1958 in Rom sein Stück „Der Stellvertreter“ vollendet hatte, wollte zunächst kein Verleger das Werk annehmen. Grund war die politische Brisanz des Stoffes, die Dramatisierung der Frage, warum Papst Pius XII., „Stellvertreter Christi auf Erden“ und höchste moralische Instanz der katholischen Kirche, zu der Deportation und Ermordung von Zehntausenden von Juden geschwiegen habe, die in den Konzentrationslagern der Hitlerdiktatur ums Leben kamen. Erst der Verleger Ernst Rowohlt nimmt es an und bietet es zur Aufführung dem gerade nach Deutschland zurückgekehrten Regisseur Erwin Piscator an, der es 1963 im Berliner Theater am Kurfürstendamm herausbringt, dem damaligen Domizil der Freien Volksbühne.

Die Öffentlichkeitswirkung des Stückes ist in der Folge explosiv im erwarteten Umfang, und neben Bewunderung und Zustimmung sind vor allem Proteste zu vernehmen. Die Meinungsäußerungen kommen von Publizisten und Philosophen, und auch die Medien bis hin zu Fernsehen und Film nehmen sich des Themas an. Umstritten ist vor allem der Umstand, daß Hochhuth einen semi-dokumentarischen Darstellungsstil wählt, in dem sich real existierende und fiktive Rollen und Positionen mischen.

Ziemlich genau 60 Jahre nach Fertigstellung des Stückes unternimmt es nun der Regisseur Philip Tiedemann im Schlosspark Theater Berlin, den ursprünglichen Fünfakter mit 45 Figuren zu einer Folge von acht Szenen für sieben Schauspieler umzuformen, was den Charakter einer Straffung und Verdichtung hat, die der Plausibilität und suggestiven Wirkung zugute kommt. Klarer als zuvor wird nun der fundamentale Antagonismus der Ideen herausgearbeitet, der letztlich für die auf den ersten Blick rätselhafte Zurückhaltung des Papstes verantwortlich war. Stephan von Wedel baut dem Regisseur eine Bühne, deren optische Wirkung von monumentalen, düsteren Bilderrahmen beherrscht wird, die sich mit Unterstützung der kleinen Drehbühne gegeneinander verschieben lassen. Reizvoll auch die Schattenspiele aus dem Bühnenhintergrund auf eine davor platzierte Projektionsfläche.

Erhalten bleiben in der neuen Fassung die beiden Leitfiguren des moralischen Widerstands, der Pater  Riccardo Fontana (Tilman Kuhn) und sein Unterstützer, der SS-Obersturmführer Kurt Gerstein (Oliver Nitsche). Beide artikulieren zunächst bei unterschiedlichen Gelegenheiten ihre Fassungslosigkeit angesichts der Auschwitzer Mordmaschine, und der Pater verheißt voreilig, er werde den Heiligen Vater zu einem lauten und vernehmlichen Protest bewegen. Der Apostolische Nuntius in Berlin (Mario Ramos) weist ein derartiges Ansinnen zurück. Erstmals treten die Eckpunkte der Haltung des Vatikans im Gespräch des Paters mit seinem Vater Graf Fontana (Joachim Bliese) und dem Kardinal (Martin Seifert) zutage. Letzterer versteht es blendend, mit als Weisheit getarnter Selbstgefälligkeit und salbungsvollen Worten die vatikanische Position zu umreißen, die vor allem der Staatsraison folgt und durch Nichtstun alle diplomatischen Türen offenzuhalten bemüht ist.

Nach der Pause dann die große Szene beim Heiligen Stuhl, in der Papst Pius (Georg Preusse) den jungen Pater zusammen mit dessen Vater empfängt. Georg Preusse, hier bar aller„Mary“-Reminiszenzen, zeichnet eine höchst selbstsichere Autorität, der diplomatisches Taktieren längst zum Leitmotiv geworden ist und die sich aus ihrer moralischen Mitverantwortung durch bescheidene Hilfsgesten zu befreien sucht.
Am Schluß des Stückes steht durch eine rasche Verwandlung aller Akteure ein Standbild, das an die Toten erinnert, die im Lager Auschwitz umkamen, ehe es durch die vorrückende Rote Armee befreit wurde.

Das Publikum quittiert die konzentrierte, mitreissend inszenierte Aufführung mit begeistertem, langanhaltenden Beifall, der sich noch steigert, als auch der inzwischen 87jährige Autor Rolf Hochhuth die Bühne betritt. Intendant Dieter Hallervorden knüpft mit dieser Präsentation an die erfolgreiche, große szenische Tradition seiner Spielstätte an.

090718
Eine Orgie der Selbstjustiz
Premiere „Michael Kohlhaas“
bei den Vaganten Berlin

Heinrich von Kleists Novelle „Michael Kohlhaas“ aus dem Jahre 1810 ist längst zum Paradigma einer heillosen Suche nach Gerechtigkeit geworden, die gänzlich aus der Proportion rutscht und am Ende ausser abstrakter Genugtuung eigentlich nur eine Kette verheerender Kollateralschäden zurücklässt. Der Handlungskern geht auf reale Begebenheiten aus dem 16. Jahrhundert zurück, aber die Analogien zu Konflikten unserer Tage sind nur allzu offenkundig.

Der brandenburgische Pferdehändler Michael Kohlhaas reist mit seinem Knecht Herse und zwei zum Verkauf bestimmten Rappen nach Sachsen. An der Landesgrenze nahe der Burg des Junkers Wenzel von Tronka wird unvermittelt ein Passierschein von ihm verlangt, und er lässt seine Pferde als Pfand zurück, während er in Dresden Klärung in der Sache sucht. Nachdem er dort erfahren hat, dass die Passierscheinpflicht frei erfunden ist, fordert er seine Pferde zurück, die aber inzwischen durch harte Feldarbeit bis auf die Knochen abgemagert sind. Kohlhaas’ Klage beim Kurfürsten von Sachsen wird auf Initiative der Familie von Tronka abgewiesen, und ein weiterer Versuch, sich Gehör zu verschaffen, endet mit dem Tod seiner Frau.

Aus  Empörung über das vergebliche Verlangen nach Gerechtigkeit und Sühne geht Kohlhaas nun den Weg der Eskalation, der rasch ins Maßlose ausufert. Er überfällt zunächst die Burg der Tronkas und tötet dort alle Bewohner bis auf den Junker Wenzel, der entkommt. Kohlhaas sammelt einen Heerhaufen, verfolgt den Junker und steckt die Stadt Wittenberg mehrfach in Brand, danach setzt er in Leipzig Feuer. Martin Luther, der ihn zunächst öffentlich für die Mordbrennerei verurteilt hatte, erwirkt ihm dann aber freies Geleit nach Dresden. Ein Johann Nagelschmidt sammelt versprengte Reste des Kohlhaas-Heerhaufens und will ihn aus Dresden befreien. Dieses Kollaborationsspiel wird allerdings von den Behörden aufgedeckt. Die Rollen wechseln: Nun vertritt der Kurfürst von Sachsen die Sache des Kohlhaas, Junker von Tronka wird zu Schadenersatz verurteilt, Kohlhaas aber wegen Landfriedensbruch zum Tode. Im Besitz von Kohlhaas ist die Notiz einer Wahrsagerin, worin Einzelheiten über das künftige Schicksal des sächsischen Königreichs genannt sind. Kohlhaas läßt auf dem Schafott diesen Zettel verschwinden, und der Kurfürst bleibt so im Ungewissen.

Regisseur Lars Georg Vogel unternimmt es bei den Berliner Vaganten, aus dem Prosatext von Kleists Novelle eine szenische Umsetzung zu destillieren, und er hat für dieses Experiment eine glückliche Hand. Geschickt mischt er kurzgefasste Situationsangaben mit wörtlichen Dialogen und stilisierten Kulminationspunkten. Sein zweiter Coup: Er läßt die handelnden Personen von vier Frauen spielen. Um den Michael Kohlhaas von Natalie Mukherjee gruppieren sich Kristin Becker, Stella Denis und Senita Huskić, die in perfekter Teamarbeit den Bilderbogen der Kohlhaas-Handlung zwischen Willkür, Intrige und Politskandal entrollen. Naturgemäß stehen hier nicht die Schlagetot-Szenen der brandschatzenden Soldateska im Vordergrund, sondern die bisweilen eher unspektakulären, dafür aber intensiv gefühlten Annäherungen und Konfrontationen in weiblicher Mentalität. Der Vorzug dieser Darstellungweise liegt darin, dass bei sparsamem Einsatz von Bühnentechnik der eigentliche rote Faden der Handlung einschliesslich seiner Konflikte, Siege und Enttäuschungen einleuchtend sichtbar wird. Der  sorgfältige Umgang mit Kleists großartiger Sprachschönheit ist ein weiterer Pluspunkt dieser Aufführung.

Viel Beifall vom Premierenpublikum, das von  dieser Umsetzung einer Kleist-Novelle erkennbar sehr angetan war.

070118
Mitreissend aufgefrischt
Premiere „Im weißen Rössl“
im Renaissance-Theater Berlin

Dieser Erfolg hat viele Väter: das „Singspiel in drei Akten“, das im Salzkammergut spielt, genauer: am Wolfgangsee, wo das Hotel „Weisses Rössl“ bis heute zu finden ist. Am Anfang stand ein Schwank von Oscar Blumenthal und Gustav Kadelburg, der 1897 in Berlin uraufgeführt wurde. Daraus wurde dann die Operette mit dem Text von Hans Müller und Erik Charell, mit den Liedtexten von Robert Gilbert und der Musik von Ralph Benatzky, die 1930 im Berliner Großen Schauspielhaus erstmals über die Bühne ging. Dies war der Beginn eines Siegeszuges, der in der Folge bis nach Paris, London und New York führte. Sechs musikalische Einlagen stammen von Robert Gilbert, Bruno Granichstaedten und Robert Stolz, und mit späteren Bearbeitungen ist dann auch noch der Name von Eduard Künneke verknüpft. Zahlreiche Film- und Fernsehfassungen haben seither die unverwüstliche Beliebtheit des Stoffes und seiner Musiknummern unterstrichen und gefestigt.

Das „weiße Rössl“ ist und bleibt ein Phänomen. Regisseur Torsten Fischer hat nun im Berliner Renaissance-Theater eine radikal entstaubte Fassung auf die Bühne gebracht, die den zündenden Charakter der wohlbekannten Musiknummern erhält und der Handlung einen flotten, plausiblen und mit einer ganzen Kette von Pointen angereicherten Verlauf gibt. Der umjubelte Premierenerfolg ist gleichermaßen dem szenischen Ablauf, der von Karl Alfred Schreiner mitreissend choreografierten Schauspielerführung und der fabelhaften, von Harry Ermer geleiteten Band zu danken, die zusammen mit der überaus gelungenen Besetzung dafür sorgten, dass die Spannung und Begeisterung an diesem Abend keinen Augenblick nachließ.

Der überlieferte Handlungsrahmen offeriert gleich einen ganzen Strauß prächtiger Rollen für spielfreudige, komödiantisch versierte Akteure. Das beginnt mit der Rössl-Wirtin Josepha Vogelhuber (Winnie Böwe) und ihrem Zahlkellner Leopold (mit angenehmer Singstimme: Andreas Bieber), der es nach zeitweiliger Entlassung am Ende bis zum Ehemann und Chef des Hauses bringt. Um die beiden herum eine präzise eingesetzte Riege exzellenter Darsteller. Allen voran der saftig berlinernde Textilfabrikant Wilhelm Giesecke (Boris Aljinović), der eigentlich das Ostseebad Ahlbeck dem österreichischen Salzkammergut vorzieht. Seine Tochter Ottilie (Annemarie Brüntjen) angelt sich aus dem Kranz der Hotelgäste den Rechtsanwalt Dr. Siedler (Tonio Arango), und der anfangs etwas schüchterne Sigismund  Sülzheimer (Ralph Morgenstern) erobert das Herz der verzagt lispelnden Professorentochter Klärchen (Nadine Schori), mit der er auch als Grotesktänzer brilliert. Klärchens sparsamen Vater Professor Dr. Hinzelmann spielt Walter Kreye, und er hat nicht nur eine eigene Songnummer im Programm, sondern er kann in einer Beinahe-Traumsequenz als Kaiser Franz Joseph auch noch der Rösslwirtin tröstliche Lebensweisheiten mitgeben. Angelika Milsters herrlich jazziger Jodel-Sopran ist immer im rechten Moment zur Stelle, und manche Schauspieler schlüpfen auch noch, blitzschnell maskiert, in andere Rollen, so Ralph Morgenstern, Tonio Arrango und Boris Aljinovic, dessen Verwandlung in ein Stubenmädchen gleich zu Beginn schon beste Laune verbreitet.

Das Publikum folgt der drolligen Handlung und den vertrauten Songs mit großer Begeisterung. Als Sigismund den Zuschauern sein „Was kann der Sigismund dafür ?“ zuruft, antworten die im Flüsterchor mit „daß er so schön ist ?“ So einhellig animiert ist die Stimmung während der gesamten Aufführung, und knappe, treffende Gags halten die Temperatur stets am Kochen. Zum Schluß viele Minuten langer, von rhythmischem Klatschen angeheizter Beifall: Dieses Rössl wird seinen Lauf mit Sicherheit eine ganze Weile fortsetzen.

062418
Mega-Sinfonik
inmitten der Naturkulisse

Eröffnungskonzert des Choriner Musiksommers
mit Gustav Mahlers „Auferstehungssinfonie“


Anmutig in eine Senke gebettet, liegt nördlich von Eberswalde die Ruine des aus dem Mittelalter stammenden Klosters Chorin. Große Teile der einstigen Klostergebäude sind erhalten oder wurden restauriert, und die hohe Halle der Klosterkirche dient heute als unvergleichlich stimmungsvoller Konzertsaal. Zum sommerlich zwanglosen Zugangsritual gehört, dass man auf der Rasenfläche des Klosterinnenhofs zum Picknick Platz nehmen kann und dann das jeweilige Konzertereignis vermischt mit Vogelgezwitscher und Babylauten zu geniessen vermag. Zum 55. Mal findet in diesem Jahr der ambitionierte Choriner Musiksommer statt, und für das Eröffnungskonzert hatte das Brandenburgische Staatsorchester Frankfurt unter seinem Generalmusikdirektor Howard Griffiths die gigantisch dimensionierte Zweite Sinfonie c-moll von Gustav Mahler, seine „Auferstehungssinfonie“, aufs Programm gesetzt.

Um es vorwegzunehmen: die Aufführung war eine imponierende Leistung und fand den überschwänglichen Beifall des Publikums im vollbesetzten Kirchensaal. Howard Griffiths hatte mit seinem Orchester und der von Rudolf Tiersch mit Sorgfalt einstudierten Großen Singakademie Frankfurt (Oder) gründliche Probenarbeit geleistet, und das Ergebnis war die durchgehend überzeugende Interpretation eines Werkes, das bei der Uraufführung 1895 in Berlin noch ein sehr geteiltes Echo gefunden hatte. Mahlers Zweite Sinfonie hat ebenso ein musikalisches wie ein philosophisches Konzept und hinterläßt, wenn man einmal über einige Manierismen hinwegsieht, einen überaus tiefen Eindruck, erhebt sie doch nichts Geringeres als das Leben und den Tod des Menschen zum Thema.

Die musikalische Gestalt fesselt durch die enorme Spannweite zwischen dröhnenden Fortissimo-Stellen und zarten, von den Streichern vorgetragenen Passagen von geradezu überirdischer Schönheit. Beim Brandenburgischen Staatsorchester waren sowohl diese sanften Streichermelodien in zweiten Satz wie die kraftvollen, überaus klaren und reinen Bläsereinsätze in besten Händen, und dank der klug disponierten, bisweilen geradezu explodierenden Gestik des Dirigenten blieb die klangliche Prägnanz der Interpretation durchgehend gewahrt. Das Gleiche gilt für die Auftritte der beiden Solistinnen Elena Tsallagova (Sopran) und Maren Favela (Mezzosopran) im dritten und vierten Satz. Selbst die Einsätze des Fernorchesters kamen punktgenau und wirkungsvoll, und vollends die Chorpassagen führten das tiefschürfende Werk dann zu einer vielbejubelten Schlußsteigerung.

061618
Ein zauberhafter Sommerspaß
Premiere „Il viaggio a Reims“
in der Deutschen Oper Berlin


Maestro Gioacchino Rossini, hochberühmter Komponist und gerade zum Leiter des Théâtre-Italien in Paris erkoren, schreibt die „Krönungsoper“ „Il viaggio a Reims“, die im Rahmen der Krönungsfeierlichkeiten für den französischen König Karl X. im Jahre 1825 uraufgeführt wird. Das Werk ist ein monumentaler Einakter, der aus neun musikalischen Nummern  besteht und es gleichwohl auf eine Spieldauer von fast drei Stunden bringt. Rossini komponiert die Oper für ein selten auf die Bühne gebrachtes Agglomerat von zehn solistischen Hauptrollen, die er mit der glänzendsten Sängerbesetzung seiner Zeit ausstattet.

Ort der Handlung ist ein fashionables Wellness-Hotel in den französischen Vogesen mit dem Namen „Zur goldenen Lilie“. Eine größere Anzahl illustrer Gäste hat sich dort eingefunden, um auf die Abreise zu den Krönungsfeierlichkeiten für Karl X. in Reims zu warten. Der Knalleffekt besteht darin, dass die im Titel verheissene Reise überhaupt nicht stattfindet, weil es im entscheidenden Moment an den erforderlichen Transportmitteln mangelt. Kurzentschlossen besinnen sich die Gäste darauf, dass es sich eigentlich auch in Paris gut leben läßt und der soeben gekrönte König Karl überdies sowieso kurzfristig in seine Hauptstadt zurückkehrt. Mit desto größerer Hingabe widmen sich die Hotelinsassen daraufhin ihren reizvollen Beziehungen und den verschiedensten Liebeshändeln.

Ein uneingeschränktes Lob verdient die Inszenierung von Jan Bosse. Er versteht es, die Vorlage vom Staub der seit der Uraufführung vergangenen 193 Jahre zu befreien, ohne dem Sujet Gewalt anzutun. Im Bühnenbild von Stéphane Laimé hebt sich der simulierte Eiserne Vorhang und gibt den Blick frei auf den weiträumigen Schlafsaal eines Sanatoriums mit nicht weniger als jeweils sechs Reihen von Patientenbetten zu  beiden Seiten des Raumes. In diesen Betten räkeln sich die Aktricen und Akteure, teils bereits mit den Kostümen bekleidet, die sie für ihre späteren Rollenauftritte benötigen. Die Wände des Schlafsaals bestehen aus dunkel getönten Spiegelflächen, die sich auch hervorragend als Projektionsgrund für unaufdringlich perfekt inszenierte Videoeinspielungen (Meika Dresenkamp) nutzen lassen.

In der geschlossenen Isolation des Sanatoriums, das entfernt mit Thomas Manns „Zauberberg“ verwandt zu sein scheint, entwickeln sich nun hingebungsvolle, gelegentlich etwas überhitzte Liebesbeziehungen. Mit der Unterstützung eines versierten Besetzungsbüros schafft es die Deutsche Oper, ein Sängerensemble zusammenzustellen, das den anspruchsvollen Vorgaben Rossinis bis ins Detail entspricht. Drei Soprane, ein Mezzosopran, zwei Tenöre und vier Bässe folgen der angesagten Spielidee, als hätten sie nie etwas anderes getan.

Die Hotelbesitzerin Madama Cortese (Hulkar Sabirova) würde am liebsten selbst verreisen, kann sich aber von ihren Alltagspflichten nicht lösen. Die Contessa di Folleville (Slobhan Stagg) vermißt zwar ihre standesgemäße Bekleidung, aber ihre Zofe Modestina (Meechot Marero)hilft ihr aus der Patsche, so gut es geht. Die polnische Contessa Melibea (Vasilia Berzhanskaya) flirtet heftig mit dem Spanier Don Alvaro  (Dong-Hwan Lee), worauf Melibeas Partner, der russische Conte di Libenskof (David Portillo), mit der gebotenen Eifersucht reagiert. Der deutsche Baron Trombonok (Philipp Jekal) ist vor allem Experte für kontrapunktische Komposition. Die römische Dichterin Corinna (Elena Tsallagova) zelebriert dichterische Extempores von höherer Warte, die sie zur Harfenbegleitung von Virginie Gout-Zschäbitz darbietet. Der englische Lord Sidney (Mikhail Kiria)ist in Corinna verliebt und gibt seiner vergeblichen Sehnsucht zur begleitenden Soloflöte von Anna Garzuly-Wahlgren beredten Ausdruck. Auch der französische Chevalier Belfiore (Gideon Poppe), eigentlich mit Madame di Folleville liiert, macht Corinna ausführliche Avancen. Drollige Kommentare zur Szenerie liefert der Italiener Don Profondo (Davide Luciano). Beim großen Abschlußdinner glänzen die Vertreter der verschiedenen Nationen mit den Hymnen ihrer Herkunftsländer, und Corinna präsentiert eine ausführliche Eloge auf den gerade gekrönten König Karl.

Was den ganzen Abend zusammenhält und ihm einen unverwechselbaren Charme verleiht, ist Rossinis feinfühlig gesetzte Musik, vom Orchester der Deutschen Oper unter der Leitung des Italieners Giacomo Sagripanti geschmeidig und ohne falsche Hast dargeboten. Diese Musik ist derart inspirierend, dass sie die ganze Inszenierung bis in die Gesten und Bewegungen der Gesangssolisten trägt und beflügelt. Das Publikum honoriert die überaus geglückte Aufführung mit ausgiebigem, begeistertem Applaus.

052918
Verhängnisvolle Rivalität
Premiere von Donizettis „Maria Stuarda“ (konzertant)
in der Deutschen Oper Berlin

Gaetano Donizettis Oper fußt auf dem Libretto von Giuseppe Bardari, das sich wiederum auf Friedrich Schillers im Jahre 1800 uraufgeführtes Drama „Maria Stuart“ stützt. Anfangs war der Erfolg dieser Oper durch mancherlei aufführungstechnische Mißgeschicke belastet. Auch die eigentliche Uraufführung 1835 am Teatro alla Scala in Mailand mit der berühmten Maria Malibran in der Titelrolle  konnte das Schicksal dieses Bühnenwerks nicht wenden, das nach der Mailänder Premiere für 123 Jahre in der Versenkung verschwand. Erst 1958 gab es quasi eine Wiedergeburt in Donizettis Geburtsort Bergamo, und diesmal wurde daraus die Initialzündung für einen Siegeszug.

Eine konzertante Aufführung, wie sie jetzt  von der Deutschen Oper Berlin ins Programm genommen wurde, hat Vorzüge und Nachteile. Ohne Kulissen, Kostüme und Masken fehlt ein guter Teil der Elemente, die normalerweise den Reiz einer Opernaufführung ausmachen. Zur Imagination der Spielorte und der Charaktere der handelnden Personen bleibt der Zuschauer ganz auf seine Phantasie angewiesen. Dafür konzentriert sich aber diese Aufführungsform auf die musikalische Gestalt des Werkes, und es entfallen  jene inszenatorischen Exkurse, die der aufgeführten Oper häufig eine ganz neue, gelegentlich sogar als fremd empfundene Gestalt geben. Man kann also ohne Übertreibung sagen, dass die konzertante Aufführungspraxis manches Mal den Zugang zum Kern des Werkes erleichtern kann, einmal ganz abgesehen von einem gewissen Entlastungseffekt für das Budget des Opernhauses.

Die Deutsche Oper wählt für ihre konzertante Aufführung eine semi-szenische Form, was dieser stark emotionalen Auseinandersetzung zwischen zwei leidenschaftlichen und machtbewußten Frauen sehr zugute kommt. Keine statischen Solistenfiguren, die
hinter ihren Notenpulten stehen und nach ihrem Auftritt wieder in der Seitengasse verschwinden, sondern quasi eine auf die Rampe reduzierte Spielfläche, auf der sich die handelnden Personen frei bewegen, wobei die beiden Thronkonkurrentinnen durch wechselnde Roben auch dem Auge des Zuschauers etwas bieten und so überdies ihre jeweilige Stimmung zusammen mit ihrem Rollenverständnis zum Ausdruck bringen.

Die Handlung wird durch den elementaren Antagonismus zwischen der englischen Königin Elisabetta I. (Jana Kurucová) und der von ihr gefangen gehaltenen schottischen Königin Maria Stuarda(Diana Damrau) geprägt. Zwischen den beiden bewegen sich Graf Leicester (Javier Camarena), Lord Talbot (Nicolas Testé) und Sir William Cecil (Dong-Hwan Lee). Marias Hofdame Anna (Amira Elmadfa) begleitet sie auf dem Weg zum Schafott. Graf Leicester überredet Elisabetta, während der königlichen Jagd im Park von Fotheringhay einer Begegnung mit Maria Raum zu geben, die zuvor von Leicester flehentlich darum gebeten worden war, sich unterwürfig zu zeigen, um ihr Leben zu retten. Das Gegenteil geschieht: beide Frauen steigern sich in ausufernde Haßtiraden, und Marias Leben scheint nun endgültig verwirkt. Elisabetta unterzeichnet das Todesurteil und bestimmt Graf Leicester, der Hinrichtung Marias beizuwohnen. Maria legt in Gegenwart von Talbot eine Generalbeichte ab und spricht ein letztes Gebet, in dem sie auch Elisabetta verzeiht.

Nach dem Grundgesetz der konzertanten Aufführungspraxis steht die musikalische Gestalt des Werkes im Vordergrund. Eine der  Überraschungen des Abends liefert die Mezzosopranistin Jana Kurucovà in der Rolle der Elisabetta. Was sie neben ihren stimmlichen Qualitäten der Rolle noch an Hoheit, Hochmut, leidenschaftlicher Zuneigung und kalter Entschlossenheit zu geben versteht, ist fesselnd und überzeugend. Ihr empfindungsstarker Widerpart ist das tragische Schicksal der Titelfigur Maria Stuarda, bei Diana Damrau mit ihrem sensiblen, ausdrucksvollen Sopran und einer reichen Palette gewandter Stimmakrobatik in besten Händen. Den ambivalent agierenden Grafen Leicester singt der mexikanische Tenor Javier Camarena mit Intensität und Hingabe. George Talbot ist der Bassist Nicolas Testé, der neben charakterlicher Aufrichtigkeit auch priesterliches Mitgefühl zu zeigen versteht. Der Bariton Dong-Hwan Lee ist schließlich mit kraftvoller Stimme der Parteigänger Elisabettas, der unverhohlen für Marias Hinrichtung plädiert.

Den entscheidenden Akzent für die ausgereifte musikalische Gestalt dieser Aufführung liefert allerdings der Dirigent Francesco Ivan Ciampa, dessen musikalische Leitungsfunktion sich hier zur regelrechten Gestaltungsrolle erweitert. Sein fein abgestimmtes Instrumentarium der Zeichengabe kann sekundenschnell von leiser Zurückhaltung zu volltönender Konsonanz von Chor und Orchester wechseln, und da er
in unmittelbarer Nähe der singenden Solisten agiert, vermag er Einsätze und Tempi in müheloser Perfektion zu koordinieren. Ein bemerkenswerter Einsatz sowohl für den Dirigenten wie für den von Jeremy Bines mit Sorgfalt vorbereiteten, besonders im letzten Akt eindrucksvoll auftretenden Chor.

Viel Beifall für einen bewegenden Opernabend mit einem hervorragend besetzten Ensemble.

051318
Ein Goldfisch als Paartherapeut
Premiere „Kasimir und Kaukasus“
im Schlosspark Theater Berlin

Der französische Erfolgsautor Francis Veber, von dem zahlreiche Bühnenstücke und Filmdrehbücher stammen, hat seine Komödie „Kasimir und Kaukasus“ 2017 im Pariser „Théâtre des Nouveautés“ vorgestellt. Dieter Hallervorden hat das Stück ins Deutsche übertragen und die deutschsprachige Erstaufführung jetzt in seinem Schlosspark Theater Berlin präsentiert. Die Inszenierung besorgte hier Holger Hauer.

Der politische Journalist Henri (Dieter Landuris) will seine Frau, die Innenarchitektin Christine (Ulrike Frank) mit einem Haustier überraschen, um seiner kriselnden Ehe einen positiven Impuls zu geben. Sie hatte sich einen Yorkshire-Terrier gewünscht, aber er bringt stattdessen einen Goldfisch im Aquarium nach Hause. Christine ist empört, droht mit Scheidung und lädt als Rache den  früheren Freund und Verehrer Hans Peter (Markus Majowski) zu sich ein, der eine tiefverwurzelte Abneigung gegen jede Art von Arbeit hat. Der Berliner Goldfisch Kasimir, der mit der Stimme von Dieter Hallervorden zu sprechen vermag, ist zunächst ständig in Gefahr, an die Tierhandlung zurückgegeben zu werden, aus der er stammt. Aber seine besondere Gabe, denjenigen zu offenen Bekenntnissen zu bringen, der vor seinem Aquarium sitzt, läßt ihn mit der Zeit zu einem echten Hausgenossen werden. Als er dem Ende nahe zu sein scheint, besorgt Christine sogar einen zweiten Goldfisch, der sich mit bayerischem Dialekt zu Wort meldet, der aber nicht über die Gabe verfügt, Menschen zu ungehemmter Beichte zu verleiten.

Die neue Offenheit durch Goldfisch-Präsenz mit Katalysator-Effekt bleibt allerdings nicht ohne Wirkung. Durch Vermittlung von Hans Peter taucht auf einmal die kaukasische Escort-Dame Dounia (Katharina Maria Abt) in der Wohnung von Henri und Christine auf. Wie sich herausstellt, hatte Henri fünf Jahre zuvor ein kurzes Techtelmechtel mit ihr, dem ein nunmehr fünfjähriger Sohn entstammt, der jetzt in der Obhut von Dounias Mutter im fernen Kaukasus Ziegen hütet. Aber auch Christines bislang erlebnisarme Lebensführung bleibt nicht unbelastet: ein Russe, dessen Appartement Christine gestaltet hat, vergewaltigt sie in seiner Hotelsuite, und Christine gewinnt dieser Attacke sogar positive Aspekte ab. Der komplexe Empfindungs-Mix klärt sich nach ausgiebigem Durcheinander in der Weise, dass Hans Peter mit der geläuterten Escort-Dame in den fernen Kaukasus zieht, während das Ehepaar Henri und Christine unter dem wundersamen Einfluß des Goldfischs Kasimir ihre Zuneigung erneuern und vertiefen.

Dieses in vieler Hinsicht kuriose Szenario wird durch treffende schauspielerische Leistungen plausibel und nachempfindbar. Heimlicher Star des Abends ist natürlich der Goldfisch Kasimir, dessen Bühnenexistenz aber keine protestierenden Tierfreunde auf die Szene ruft, denn er bewegt sich durch eine raffinierte visuelle Technik nur als gut sichtbares Hologramm in seinem Aquarium. Henri erntet Verständnis und Mitgefühl für seine Versuche, die Zuneigung von Christine wieder zu beleben. Christine ihrerseits läßt sehr konkret und glaubwürdig die Wirkungen ihres sexuellen Erlebnisses mit dem russischen Kunden in der Hotelsuite vor ihrem geistigen Auge vorüberziehen. Dounia stellt mit überzeugend pseudo-kaukasisch gebrochenem Deutsch, aber tadellosem Erscheinungsbild ihre Escort-Existenz auf die Bühne, und Hans Peter wird mit warmherziger Emotion regelrecht zum Publikumsliebling.

Am Ende viel Beifall und begeisterter Applaus für einen amüsanten Abend ohne unnötige Komplikationen.

050418
Musik generiert Stipendien
Kammerkonzert der Hindemith-Gesellschaft
im Joseph-Joachim-Konzertsaal Berlin

Es ist wahrlich kein „bedingungsloses Grundeinkommen“, das Stipendium der Berliner Paul-Hindemith-Gesellschaft für Studenten der Universität der Künste, weil es an die Bedingung herausragender Leistungen in Musik oder Schauspiel geknüpft ist. Eine Jury bestimmt, ob die Anforderungen erfüllt werden. Zur Generierung der Stipendien dienen unter anderem Stipendiatenkonzerte, in denen gegenwärtige oder frühere Stipendiaten auftreten und das Programm eines Kammerkonzerts zusammen mit Musikpartnern gestalten.

im großen Joseph-Joachim-Konzertsaal der Universität begrüßt diesmal Hindemith-Beiträten Jutta von Haase in Begleitung ihrer Beiratskollegin Renate Keil das zahlreich erschienene  Publikum, dessen Spendenfreudigkeit  zum Konzertschluß besonders gefragt sein wird. Wieder hält sie in einer großen Vase einen Strauß langstieliger Rosen als Dank für die Mitwirkenden bereit.

Am Beginn des Programms steht Ludwig van Beethovens Trio c-moll op.9 Nr.3 aus dem Jahre 1798. Dorit Essaadi spielt die Violine, Mikhail Balan die Viola und Shiri Tintpulver als Gast übernimmt den Cellopart. „Allegro con spirito“:Kraftvoll und beredt setzen Violine und Cello ein, die Viola accompagniert in der Mittellage. Eine heitere, fröhlich voran tänzelnde Melodie, von allen drei Solisten in perfektem Einklang vorgetragen. Die spielerische Violine erfindet die Motive und schickt sie über die anderen beiden Stationen, das dunkel, markant formulierende Cello und die rhythmisch akzentuierende Viola. „Adagio con espressione“: Bedachtsam Fuss vor Fuss setzend, Violine und Viola im Duett, das samten intonierende Cello grundiert. Alle drei bewegen sich in einer gemächlichen, gut abgestimmten Schrittfolge voran, wobei die Violine der Melodie leuchtende Lichter aufsetzt. Gelegentlich sind alle drei ausdrucksstark unisono zu vernehmen. Dialog zwischen Violine und Viola, ein sehr geschlossenes Klangbild, das die Violine bemerkenswert klar und rein anführt. „Allegro molto vivace“: Mit beherztem Sprung gehts in den Satz, die Violine allen voran. Ein liebenswürdiges Seitenthema wird sensibel ausgeführt. Dann wieder der rhythmisch betonte Anriss des Eingangsthemas. „Finale: Presto“: Die Violine schwingt sich mit zartem Ton in den Eingangsbogen des Finales hinein. Noch einmal leidenschaftlich betonte Akzente und rhythmisch gut ausgeformte Triofiguren. Zur Seite gehts mit einer Art Frageformulierung, für die anschliessend die Antwort gegeben wird.Violine als selbstbewußte Wortführerin, von den anderen mit vibrierender Zustimmung unterstützt. Ein ganz leichter, fast schelmischer Ausklang.

Beim zweiten Programmpunkt gibts eine Änderung. Statt des ursprünglich angekündigten Duetts zweier Sopranistinnen aus Richard Strauss’ „Arabella“ setzt sich Mélodie Regina Zhao in einem bemerkenswert eigenwilligen Abendkleid an den Steinway-Flügel und spielt zunächst die populäre, 1915 komponierte „Vocalise“ von Sergej Rachmaninow. Behutsam und leise,  verhalten mit leichtem Ritardando die Einleitung, dann kräftiger, ohne Zweifel mit persönlichem Akzent, frei von bloßer Routine. So wird das Stück zu einer verträumten Reminiszenz, einer Erinnerung mit mannigfaltig abgestuften Akzenten, auch einmal etwas markanter und in beschleunigtem Tempo. Eine leicht perlende Passage illustriert das Hauptmotiv in reizvoller Weise.

Es folgt der Pianistin eigene Bearbeitung eines Satzes aus dem Klavierkonzert „Der gelbe Fluss“ , einer chinesischen Kollektivkomposition aus dem Jahre 1968/69. Mit mächtigen Akkorden stürzt sie sich virtuos in diesen Exkurs, führt das Thema in kleinen Sprüngen weiter, als wären Stromschnellen im Spiel. Dann ein volltönendes Marschthema  mit rhythmischen Akzentuierungen, ein schneller Galopp, gefolgt von breit angelegten Akkordballungen, die mit eindrucksvoller Steigerung zu einem Hochplateau mit wild gefächerten Läufen führen, die dann in Kaskaden zu Boden rauschen. Entschiedene  Virtuosität führt zu einem kleinteiligen Galopp, der in die donnernde Finalpartie überleitet.

Nach der Pause steht Maurice Ravels Sonate für Violine und Klavier G-Dur von 1927 auf dem Programm. May Pitchayapa Lueangtawikit spielt die Violine, und Daria Goremykina sitzt am Klavier. Erster Satz „Allegretto“: Eine spielerische Pianoeinleitung, die Violine setzt sich drauf und flattert davon. Goremykina spielt nicht vom Notenblatt, sondern von einem Tabletcomputer mit kabellosem Fußschalter, der das Umblättern steuert. Intensive, romantische Abendstimmung. Wie Glockentöne vom Piano. Suggestive Violine, sanft melancholisch eingefärbt. Die Intensität der Violine nimmt zu, um dann wie in der Dämmerung zu versinken. Kurze, trockene Interjektionen des Pianos, weite Atemzüge der Violine.Verträumter Ausklang in hoher Lage. Wunderschön. Zweiter Satz „Blues“: ein Rhythmus, der in der Entstehungszeit der Komposition neu war. Pizzikato der Violine. Darauf setzt das Piano rhythmische Akzente und sorgt für das richtige Blues-Feeling, das die Violine paraphrasiert. Das Duett ist sehr genau getaktet, virtuos akzentuiert und mit raffinierten Taktverlagerungen aufgeraut. Zum Schluß „Perpetuum mobile“:Vom Piano kommt ein Ostinato-Thema, das die Violine mit sirrendem Grundton aufnimmt. Man meint, einem Insektenschwarm zu folgen. Konstanter Drive nach vorn, beide Solisten in exzellentem Einklang.

Den Abschluß dieses Konzertabends bildet Carl Maria von Webers Trio g-moll op. 63 aus dem Jahre 1819. Wieder nimmt Mélodie Regina Zhao am Flügel Platz, Xiangchen Ji spielt Querflöte und Anna Ostendorf übernimmt als Gast den Cellopart. Der erste Satz ist „Allegro moderato“ bezeichnet. Piano und Cello sind vorab zu vernehmen, die Flöte folgt und kann mit ihren Spitzentönen gleich die ersten Akzente setzen. Reizvoller Dialog Flöte- Piano, Wiederholung Eingangsthema. Den sanften, dunklen Überleitungston steuert das Cello bei. Piano souverän exakt, die beiden anderen passen sich feinfühlig an. Verschwebend leicht die Flöte. Dann der Satz „Scherzo“: Ein markantes Tanzthema, zunächst im Piano, dann von der virtuos leichten Flöte aufgegriffen. Die Melodieführung erinnert an eine Arie. Das Piano rhythmisch ausgesprochen virtuos. Der nächste Satz ist ein „Andante espressivo“ mit dem Zusatz „Schäfers Klage“, was auf ein Goethe-Gedicht Bezug nimmt, in dem ein Schäfer seiner Geliebten nachtrauert. Die Flöte eröffnet in liedhaftem Ton, das Piano wiederholt den Wortlaut.Dann tritt das Cello hinzu und steigert den dramatischen Duktus. Daraus wird dann ein Zwiegesang von Flöte und Cello mit dem Piano. Mit der Tempobezeichnung „Allegro“ ist  das Finale versehen: Das Piano setzt ein, gibt Ton und Tempo vor. Flöte und Cello folgen in flottem Allegro-Ton. Piano kraftvoll und zartfühlend in sekundenschnellem Wechsel. Hinreissend im rhythmisch forcierten Voranstürmen. Cello solo, mit Piano und Flöte. Leicht fugierte Schlußpassage, exzellent virtuos in der Ausführung.

Am Schluß ebenso wie nach den einzelnen Vorträgen lebhafter, begeisterter Beifall für einen Kammermusikabend der Extraklasse bei freiem Eintritt und weit geöffneter Spendenschatulle für Stipendienbeiträge nach eigenem Ermessen.


042918
Odyssee mit Seitensprüngen
Premiere „Die Fledermaus“
in der Deutschen Oper Berlin

Sie ist die ungekrönte Königin der Operetten, das 1874 in Wien uraufgeführte Johann-Strauß-Opus „Die Fledermaus“, ein besonders zu Silvester gern hervorgeholter Edelstein im Repertoire der führenden Opernhäuser der Welt, mit der unvergleichlich beschwingten, von Champagnerlaune erfüllten Musik des Walzerkönigs. An der Deutschen Oper Berlin hat jetzt Rolando Villazón das Los gezogen, diesem Traditionsjuwel eine neue Fassung zu geben. Der temperamentvolle Tenor, Regisseur und Moderator ist, so hofft man, für diese Rolle gewiß eine Besetzung, die einiges erwarten läßt.

Es ist mit Johann Strauß’ „Fledermaus“ im Grunde das gleiche Problem wie mit den Operetten von Jacques Offenbach: wenn man die unvergleichliche, hinreissend gelungene Musik dieser Komponisten für das heutige Publikum retten will, muss man ein szenisches Konzept finden, das die überlieferte Handlung etwas entstaubt, ohne dem Geist der Vorlage mehr als unvermeidlich Gewalt anzutun.

Rolando Villazón stürmt in dieser Richtung beherzt nach vorn, wie es seinem zupackenden Stil entspricht. Von Bühnenbildner Johannes Leiacker lässt er sich für den ersten Akt einen hübschen, halbrunden Salon mit schmucker Wandtapete bauen, den während der Schlußtakte der Ouvertüre der spätere Dr.Falke (Thomas Leman) betritt und, als Magier mit langen Nosferatu-Fingern den Kronleuchter und den Kamin entzündet, auf dessen Bildschirm dann später auch einmal die Fernseh-Wetterkarte als Bildstörung erscheint. Er deponiert  eine Einladungskarte für Rosalinde, die Gattin des Hausherrn Gabriel von Eisenstein, zum großen Ball bei Prinz Orlowsky.  Dr. Falke, der von seinem Freund Eisenstein (Thomas Blondelle) einstmals nach einem Ballbesuch im Kostüm einer Fledermaus schmählich in einem Park liegen gelassen worden war, sinnt auf Rache (weshalb das Stück ursprünglich „Die Rache der Fledermaus“ hiess) und gibt der Handlung damit den entscheidenden Startimpuls.

Vor der Szene liegt wie ein Teigfladen über zwei Stufen gebreitet eine Uhr in Salvador-Dali-Manier, an die verfliessende Zeit gemahnend. Links an der Rampe ist ein Obdachloser platziert, der mit gelegentlichen Liebesgaben oder vom Gefängnisdirektor im Hinausgehen auch mit einem Fußtritt bedacht wird. Kammerzofe Adele (Meechot Marrero) findet einen Einladungsbrief ihrer Schwester, ebenfalls für den Orlowsky-Ball. Eisenstein soll eine Arreststrafe antreten und verabschiedet sich deshalb  wortreich von seiner Ehefrau Rosalinde (Annette Dasch), die sich anschliessend mit ihrem wieder aufgetauchten Gesangslehrer Alfred (Enea Scala) tröstet, einem manisch trällernden Tenor. Gefängnisdirektor Frank (Markus Brück)  hält den Galan Alfred für den erwarteten Delinquenten Eisenstein und nimmt ihn ins Gefängnis mit.

Den zweiten Akt verlegt Villazón in eine Zeitscheibe mit DDR-Touch. Den Bühnenbild-Rahmen für den großen Maskenball liefert eine etwas düstere Kaschemme, vermutlich die Vorläuferin der späteren Club-Kultur. Es wird mächtig viel Wodka getrunken, und alle Staatsbürger sind „Brüderlein und Schwesterlein“ füreinander. An der Wand ein Konterfei von Chrutschschtow, das sich dann zum Abbild Stalins wandelt. Die Uniformen eines Teils der Belegschaft sind solchen der Volksarmee nachempfunden, und Prinz Orlowsky (Angela Brower) trägt eindeutig die Uniform der sowjetischen Besatzungsmacht. Wie aus einer anderen Welt kommend schreitet Rosalinde als ungarische Gräfin die Treppe herab.  Ihr Gatte Eisenstein erkennt sie nicht, ist aber von ihr restlos hingerissen. Eisenstein tritt als Marquis Renard auf, und Gefängnisdirektor Frank mutiert zum Chevalier Chagrin, was Gelegenheit zu etwas albernem Französisch-Kauderwelsch bietet. Rosalinde zelebriert zum Beweis ihrer ungarischen Herkunft die Romanze „Klänge der Heimat“ und luchst ihrem faszinierten Gatten dessen Taschenuhr ab, die sie später als Druckmittel einsetzt. Kammerkätzchen Adele ist jetzt „Olga“ und liefert eigene Kommentare zum Ballgeschehen. Villazón blendet aus dem Trubel (mit Chor, Ballett und Statisterie) in die Pause ab, um die Handlung danach mit der selben Einstellung fortzuführen.

Die wendige Drehbühne serviert anschließend die dritte Zeitscheibe: das Gefängnis ist in Wahrheit eine Orbitalstation, in der zunächst der Roboter Frosch ein paar philosophische Statements abliefert, ehe Direktor Frank heraufgebeamt wird. Nach und nach tauchen auch die übrigen Protagonisten auf, und der Advokat Dr. Blind (Jörg Schörner) denkt über die Verteidigung des Eisenstein nach. Stattdessen schlüpft der echte Eisenstein dann in die Rolle des Dr. Blind. Rosalinde erscheint, Erkennungs- und Verzeihungsszenen lösen sich ab, Adele stellt ihr Theatertalent unter Beweis. In der abschließenden Steigerung lösen sich sämtliche  Verstrickungen auf, und der alles verwirrende Champagner wird als der letztlich Schuldige entlarvt. Den pompösen Schlußeffekt setzt die Fanfare aus Richard Strauss’ „Also sprach Zarathustra“ und schafft so die Verknüpfung zu Kubricks Film „2001-Odyssee im Weltraum“, auf den zuvor bereits zwei Affen und ein Steinzeitmensch als Symbol der menschlichen Evolution hingewiesen hatten.

Wie man sieht, fehlte es also nicht an belebenden Elementen für das szenische Geschehen. Dennoch hatte die Musik den Vorrang, und Donald Runnicles am Pult konnte seinem Orchester zwar nicht die himmlische Leichtigkeit der Wiener Philharmoniker entlocken, lieferte aber ein solides Abbild der Johann-Strauß-Partitur. Von den Leistungen der Solisten bleiben insbesondere die Rosalinde von Annette Dasch und die mit strahlenden Spitzentönen glänzende Adele von Meechot Marrero im Gedächtnis. Thomas Blondelle war situationsgerecht elegant und albern, und Markus Brück durfte auch die Wirkungen reichlichen Champagnergenusses glaubwürdig vorführen. Jeremy Bines hatte den Chor einmal mehr vorzüglich instruiert. Lediglich die eingeblendeten Übertitel schienen die deutschen Texte streckenweise nur bruchstückhaft zu vermitteln, weshalb man in der durchgehend abgebildeten englischen Version Zuflucht suchen mußte.

Am Schluß viel Beifall für das gesamte Ensemble. Lediglich das Regieteam mit Rolando Villazón an der Spitze kassierte deutliche Buhrufe, die allerdings den sonst oftmals wütenden Unterton vermissen ließen, zumal sie der Regisseur mit der ihm eigenen unverbrüchlichen Fröhlichkeit quittierte.

042018
Eine listige Groteske
Premiere „Der Nazi und der Friseur“
bei den Vaganten, Berlin

Auf den ersten Blick wirkt es fast etwas frivol, eine solche Story  in einem Augenblick zu präsentieren, da sich vielfach die argwöhnische Mutmassung regt, der Antisemitismus könnte ausgerechnet in Deutschland erneuten Zulauf haben. Mag dieses zeitliche Zusammentreffen nun Zufall sein oder nicht - auf jeden Fall ist dieses Stück hochaktuell.

Die erste Überraschung legt sich, wenn man erfährt, dass der Autor der Romanvorlage zur Neuinszenierung von „Der Nazi und der Friseur“ bei den Berliner Vaganten, Edgar Hilsenrath, selbst jüdische Wurzeln hat, der Todesmaschinerie des Dritten Reichs entkommen ist und dann über Palästina und die USA nach Berlin gelangte, wo er heute lebt. Judith Kriebel und Gerhard Seidel haben aus dem 1977 in deutscher Sprache erschienenen Roman eine Bühnenversion erstellt, die nun in der Regie  von Hajo Förster und mit der Ausstattung von Olga Lunow auf die Bühne des kleinen Theaters an der Berliner Kantstraße kommt.

Einmal mehr ist das Bühnenbild auf das Nötigste beschränkt, um den knappen Aktionsraum nicht mehr als nötig einzuschränken. Ein paar gelbgetönte Holzrahmen in wechselnder Position sowie zwei flache Truhen genügen, um zusammen mit einer ganzen Farbpalette von  Kämmen als Requisiten die verschiedensten Spielorte und Situationen assoziativ vor Augen zu führen. Die intelligente Lichtregie unterstützt die Gliederung der Handlung.

Zwei Akteure teilen sich sehr effizient und überzeugend die szenische Hauptaufgabe, eine fiktive Geschichte in greifbare Nähe zu rücken, in der die Absurdität mancher Lebensläufe jener Jahre auf die Spitze getrieben wird. In einem schlesischen Städtchen, wo Christen, Juden und Andersgläubige friedlich zusammenleben, treffen Max Schulz und Itzig Finkelstein aufeinander, erst als Schulfreunde, später als Friseurlehrlinge. Dann kommen die dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts, und die feurige Rhetorik des Führers Adolf Hitler entfacht den stets glimmenden Antisemitismus zur hellen Flamme. Max Schulz tritt in die SS ein und tötet als Wachmann eines Konzentrationslagers seinen Schulfreund Finkelstein und dessen ganze Familie. Als er einen Weg sucht, dem Strudel des Untergangs bei Kriegsende zu entgehen, kommt er auf den Gedanken, Finkelsteins Identität anzunehmen und als nunmehr Jude nach Palästina auszuwandern. Dort sammelt er Punkte als radikaler Kämpfer für den Staat Israel und geachteter Besitzer eines Friseursalons. Während der Schiffspassage nach Palästina hatte er einen jüdischen Amtsgerichtsrat Richter kennengelernt, dem er später bekennt, der gesuchte Massenmörder Max Schulz zu sein. Das Urteil des Juristen, voll bitterem Sarkasmus: angesichts der Ungeheuerlichkeit der Mordtaten, die alle Maßstäbe einer Sühne sprengen, kommt am Ende nur Freispruch in Frage.

Oliver Dupont und Andreas Klopp stellen in springlebendiger Wandlungsfähigkeit die erforderlichen Charaktere auf die Bühne: Max Schulz und Itzig Finkelstein, den Amtsgerichtsrat und zahlreiche Randfiguren, teils im  Schweiße ihres Angesichts und mit ständiger Umbauverpflichtung. Das Ganze ergibt einen sehr eindrucksvollen Abend mit schauspielerischen Leistungen besonderer Finesse. Erneut wird dabei einem unauslöschlichen Abschnitt der deutschen Geschichte der Spiegel vorgehalten. Wer sich nicht zu erinnern wünscht, dem wird diese Aufführung eher weniger Vergnügen  bereiten. Wer aber die Konfrontation mit der Historie nicht scheut, kann Bekanntschaft schließen mit einer dialogorientierten, listigen Groteske über eine Zeit, in der die absurdesten und ethisch zweifelhaftesten Verwandlungen zum Alltag gehörten. Viel Beifall für einen fesselnden, sehr anregenden Theaterabend.

033118
Ein sehr spezielles Gottesurteil
Korngolds „Das Wunder der Heliane“
in der Deutschen Oper Berlin

Erich Wolfgang Korngolds Opus 20 „Das Wunder der Heliane“ hatte seit der Hamburger Uraufführung 1927 weitaus geringeren Erfolg als seine 1920 vorgestellte Oper „Die tote Stadt“. Immerhin gab es 1928 eine „Heliane“-Aufführung unter Bruno Walter in der Städtischen Oper Berlin, der heutigen Deutschen Oper Berlin. Nimmt man hinzu, dass dort 1983 eine Inszenierung der „toten Stadt“ vom damaligen Intendanten Götz Friedrich zu sehen war, kann man davon sprechen, dass Korngolds Werke in diesem Hause stets eine besondere Aufmerksamkeit gefunden haben. Gleichwohl ist diese Aufführung der „Heliane“ eine reizvolle Rarität, die beim internationalen Opernpublikum entsprechende Resonanz findet.

Der Kern der Handlung im Libretto von Hans Müller-Einigen ist ein  im Grunde pubertärer Eifersuchtskonflikt, an dessen Kulminationspunkt das titelgebende „Wunder“ steht. Der Text mit seiner gestelzten, bisweilen gewollt überhöhten Kunstsprache atmet diesen rührenden, emphatischen Weltverbesserungsgeist mancher Autoren der Zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, der in den Dreissigern von der Geschichte dann so markant konterkariert und in der Weltkriegs-Katastrophe der Vierziger unwiderruflich zuschanden geritten wurde. Die Gratwanderung zwischen äusserster Stilisierung und purem Kitsch führt dabei auch zu gelegentlichen Grenzüberschreitungen.

Regisseur Christof Loy erreicht an diesem Abend zwei widerstreitende Ziele: Er erzählt ohne Stilbruch einen durchaus spannenden Krimi und erreicht gleichzeitig eine bewegende Verklärung der Liebe. Seine Szene (von Johannes Leiacker) ist drei Akte lang ein repräsentativer, holzgetäfelter Gerichtssaal, in dessen Vordergrund lediglich ein schmaler Tisch und ein Stuhl stehen.

Ein wesentlicher Vorzug von Christof Loys Inszenierung besteht in der Fähigkeit des Regisseurs, die  Spannungen zwischen den handelnden Personen ebenso zwingend und unausweichlich dazustellen, wie er später im dritten Akt die Interaktionen zwischen Einzelpersonen und Gruppen des hereindrängenden Volkes fesselnd und bruchlos wiedergibt. Gleichrangig steht daneben die sorgfältige Einstudierung der Chöre durch Jeremy Bines.

Der Herrscher eines totalitären Staates (Josef Wagner), dessen grausame und gemütskalte Haltung sich längst auf sein Volk übertragen hat, will einen Fremden (Brian Jagde) am nächsten Morgen hinrichten lassen, dessen aufgeschlossenes Wesen den Geist von Widerspruch und Rebellion verbreitet. Königin Heliane (Sara Jakubiak) hat sich ihrem Ehegatten bislang verweigert und kommt nun zu dem Fremden ins Gefängnis, um ihn zu trösten. Beide kommen sich rasch näher, und aus Wesensverwandtschaft entsteht Liebe. Diese geheimnisvolle Verbindung ist enger, als es die Beziehung zwischen König und Königin je gewesen ist. Gleichwohl sieht sich Heliane, vor Gericht gestellt, weder als Dirne noch als Ehebrecherin. Der Fremde begeht Selbstmord mit einem Dolch, den Heliane zuvor von ihrem rasend wütenden Gatten bekommen hat. Der verlangt nun von seiner Frau, sie solle als Unschuldsbeweis den Selbstmörder wieder zum Leben erwecken. Als Heliane tief zerknirscht ihre wahre Schuld bekennt, den Fremden wirklich geliebt zu haben, geschieht das Wunder: Der Fremde erhebt sich von seiner Bahre, rühmt in beredten Worten Freiheit und Liebe, um dann gemeinsam mit Heliane, von Licht umflossen, der Zukunft entgegenzugehen.

Der zweite Vorzug dieser Inszenierung liegt in der darstellerisch wie stimmlich treffenden Besetzung der Solistenrollen. Neben Heliane, dem Herrscher und dem Fremden ist hier der Pförtner von Derek Welton zu erwähnen, dessen Schilderung der Wunderheilung seines Kindes durch Heliane an den Bericht Jochanaans von den Wundertaten Jesu in Richard Strauss’  „Salome“ erinnert. Okka von der Damerau ist die stramme Botin, einst kurzzeitig die Geliebte des Königs und noch heute seine Parteigängerin. Burkhard Ulrich gibt sehr überzeugend den blinden Schwertrichter, der den Prozeß der Urteilsfindung leitet. Gideon Poppe ist ein bebrillter skeptischer junger Mann, der alle Vorgänge aufmerksam verfolgt.

Dirigent Marc Albrecht läßt diese Handlung aus dem Glutfluss der Korngold-Partitur aufsteigen. Sein eminenter Klangsinn, der auch gelegentlich überlaute Fortissimi nicht scheut, verbindet musikalische Charakterzüge von Wagner, Richard Strauss, Ravel und Eduard Künneke mit - ja eben, mit Korngold zu einer durchgehend faszinierenden Klangschmelze. Selten hat man das Orchester der Deutschen Oper Berlin so homogen, in sämtlichen Instrumentengruppen so organisch und ohne Fehl agieren hören.

Einhelliger, begeisterter Beifall für ein selten zu hörendes Werk, das wie eine Botschaft aus einer anderen Zeit wirkt.

031118
Im Gewirk  der Lügen
Premiere „Die Wahrheit“
im Schlosspark Theater Berlin

Die Gesellschaftskomödie des französischen Autors Florian Zeller aus dem Jahre 2011 ist nach einem Rundflug über mehrere Berliner Theater nunmehr auf der Bühne von Dieter Hallervordens Berliner Schlosspark Theater gelandet. Das Stück hat aber seit der Uraufführung in Paris nichts von seiner frappierenden Frische und  Aktualität verloren. Sein Reiz besteht wesentlich darin, dass Paraphrasen über die Unaufrichtigkeit in der Liebe hier nicht als moralinsaure Tiefbohrung angeboten werden, sondern als durchgehend amüsante Szenenfolge ohne mahnend erhobenen Zeigefinger.

Regisseur Folke Braband hat wieder einmal alles richtig gemacht, um die raffinierte Leichtigkeit der Dialoge auch auf einer deutschen Bühne zu voller Wirkung zu bringen. Das Bühnenbild von Tom Presting stellt einfach eine Projektionswand auf die kleine Drehbühne, was einen raschen Wechsel des jeweiligen Szenenhintergrunds ermöglicht. Überdies ist hier die Auswahl eines sehr homogenen Ensembles gelungen, dessen Akteure  in der Zeichnung von Beziehungslinien hervorragend und gleichwertig zusammenwirken.

Michel (Michael von Au) und Alice (Katharine Mehrling) treffen sich seit ein paar Monaten in wechselnden Hotelzimmern zu Liebes- und Leibesübungen. Der Haken: beide sind verheiratet, er mit Laurence (Katharina Abt), sie mit Paul (Oliver Dupont), Michels bestem Freund. Mit der Dauer der Beziehung wächst der Wunsch bei Michel und Alice, statt einiger Stunden auch einmal ein Wochenende gemeinsam zu verbringen. Also erfindet Michel einen Kundentermin in Bordeaux, und Alice schwindelt ihrem Gatten einen Besuch bei der Tante in Chartres vor. Natürlich trägt dieses Lügengespinst nur wenige Meter weit, dann verheddert man sich in Widersprüche, und Michel darf am Telefon mehr schlecht als recht die Stimme der Chartreuser Tante simulieren. Immer wichtiger wird die Frage, wer zu welchem Zeitpunkt die Wahrheit über das Quartett der Seitensprünge gewusst hat und wer für eisernes Schweigen oder stattdessen für rückhaltlose Offenheit eintritt. Ganz nebenbei erfährt Michel, dass sein bester Freund Paul schon geraume Zeit ein gleichfalls geheimgehaltenes Verhältnis mit Michels Frau Laurence unterhält. Nun ist es an Michel, in einer dummdreisten Flucht nach vorn reihum erst seinen Freund, dann seine Geliebte und am Ende seine Frau heimtückischer Machenschaften und mangelnder Wahrheitsliebe zu bezichtigen. Wie Michael von Au hier allmählich begreift, dass er in Wahrheit der hinters Licht geführte Seitenspringer ist, läßt sich  in nahezu mathematischer Konsequenz verfolgen, zum größten Vergnügen des Publikums.


Insgesamt ein überaus unterhaltsamer Abend mit gut inszenierten Dialogen und Pointen. Das Publikum dankt mit reichem Applaus, der sich zu rhythmischem Beifall steigert.

022218
Irrwege der Liebe
Premiere von Cileas „L’Arlesiana“ konzertant
in der Deutschen Oper Berlin

Für manche Auguren sind konzertante Opernaufführungen überhaupt die Präsentationsform der Zukunft. Zwar wäre eine solche Entwicklung wohl für das Berufsbild der Kostümschneider und Maskenbildner ziemlich verheerend, aber sie könnte ein Ausweg sein, wenn Opernhäuser eines hoffentlich fernen Tages  auf öffentliche Zuschüsse und finanzkräftige Sponsoren verzichten müssten.

Die konzertante Premiere von Francesco Cileas Oper „L’Arlesiana“ in der Deutschen Oper Berlin offenbarte aber noch in anderer Hinsicht die Ambivalenz einer weiteren Eigenart konzertanter Aufführungen: es entfällt die Notwendigkeit, für eine als szenisch problematisch empfundene Handlung eine bühnenwirksame Realisierung zu finden, die nicht wieder als „Regietheater“ vom Publikum abgelehnt wird. Die konzertante Praxis ist solchen Zwängen nicht ausgeliefert und kann sich ganz der musikalischen Gestalt des wiederzugebenden Werkes widmen. Mag die Presseresonanz hierauf etwas geringer sein: Ein reines, ungetrübtes Vergnügen ist von einem solchen Ereignis vielleicht sogar eher zu erwarten als von einer allzu streitbaren Inszenierung.

Cileas „L’Arlesiana“ wurde 1897 in Mailand uraufgeführt und erlebte danach mehrere Bearbeitungen. Aus den zunächst vier Akten wurden drei, und 1912 entstand eine dritte Fassung mit Ouvertüre, die nun auch in Berlin zu hören war. Alles Bemühen des Komponisten hat aber die Aufführungspraxis nicht wesentlich beleben können, so dass die musikalisch durchaus fesselnde, stilistisch in Puccini-Nähe angesiedelte Partitur  seither vor allem konzertant zu hören ist.

Das liegt gewiss zu einem Teil an der für den heutigen Geschmack etwas verstiegen wirkenden Handlung, die auf ein Sujet von Alphonse Daudet zurückgeht. Rosa Mamai hat zwei Söhne: den geistig zurückgebliebenen jüngeren L’innocente und Federico. Letzterer ist unsterblich in ein Mädchen aus Arles verliebt, über deren Lebenswandel zunächst nichts weiter bekannt ist. Mutter Rosa favorisiert aber Vivetta, die ihrerseits Federico liebt. Rosa bittet ihren Bruder Marco, etwas über die geheimnisvolle Arlesierin herauszufinden, und der legt daraufhin seiner Schwester nahe, den Heiratsplänen Federicos zuzustimmen.  Ein Liebhaber der Arlesierin namens Metifio stellt seiner Geliebten allerdings ein schlechtes Zeugnis aus, worauf Federico zutiefst betroffen reagiert.

Der alte Schäfer Baldassare, ein Freund der Familie von Rosa Mamai, rät Federico, seinen Kummer durch Arbeit zu vertreiben, was dieser aber ablehnt. Vivetta
gesteht ihm ihre Liebe, und Federico wendet sich vom Traumbild der entfernten Arlesierin ab und will nun Vivetta heiraten. Metifio taucht auf und plant, die leichtlebige Arlesierin zu entführen. Nachts wacht L’innocente auf und ist auf einmal klaren Geistes. Stattdessen verdunkelt sich das Seelenleben von Federico: er meint in seinem Wahn, die Entführung der Arlesierin zu sehen, klettert auf den Heuboden und stürzt sich dort aus dem Fenster.

Die konzertante Aufführung in der Deutschen Oper stand unter einem denkbar glücklichen Stern und kompensierte durch die musikalische Perfektion alle Bedenken, die sich gegen die streckenweise etwas unglaubwürdige Handlung wenden mochten. Ein wesentlicher Angelpunkt der klugen Klangregie war der Dirigent Paolo Arrivabeni, der gleich mehrere Tugenden eines hervorragenden Operndirigenten miteinander verband: gründliche Partiturkenntnis, ausgeprägten Sinn für die Erfordernisse der Klanggestaltung und eine wohldosierte, ökonomische Zeichengebung, die immer noch Reserven für entscheidende Impulse im musikalischen Verlauf besitzt.

Auf der kontinuierlich ausgezeichnet disponierten Orchesterleistung ruhte die Qualität der Solostimmen, die bestens aufeinander abgestimmt waren und sich zu einem organischen Ganzen verbanden. Der Mezzosopran von Dolora Zalick in der Rolle der Mutter Rosa Mamai beeindruckte durch Kraft und leidenschaftlichen Ausdruck. Den Federico von Joseph Calleja kann man getrost unnachahmlich nennen, was vor allem seinem charakteristischen Timbre zu danken ist. Seine Romanze im zweiten Akt, mit strömender Klangfülle vorgetragen, brachte ihm minutenlangen Szenenapplaus ein. Der Sopran von Mariangela Sicilia in der Rolle der Vivetta strahlte gleichermaßen durch hingebungsvollen Ausdruck wie durch außergewöhnliche Klangschönheit. Markus Brück war als Schäfer Baldassare hörbar aufs Beste in seinem Element und  glänzte durch kraftvolle Spitzentöne. Seth Carico war als Metifio mit dunkel getöntem, punktuell geschärftem Bassbariton bei jedem Auftritt ein bemerkenswerter Akzent, der vielleicht auch zur Geltung  kommt, wenn er einmal den Scarpia in der „Tosca“ gestaltet. Den Bruder Marco sang Byung Gil Kim mit schönen, klarem Bass, und den anfangs behinderten L’innocente
gestaltete die Sopranistin Meechot Marrero mit schöner Stimme und einfühlsamer Mimik. Die überaus stimmungsvoll eingesetzten Chöre hatte Jeremy Bines sehr sorgfältig einstudiert.

Der Lohn der guten Vorbereitung war der reiche Applaus des Publikums mit allen Zeichen der Begeisterung für die Leistung des gesamten Ensembles.

022118
Idylle im Zerrspiegel
Brechts „Die Kleinbürgerhochzeit“
im Schloßparktheater Berlin

Ursprünglich hiess  das Stück, das der 21jährige Student Bertolt Brecht schrieb, einfach „Die Hochzeit“, und es hat vor allem den vordergründigen Reiz eines gelungenen Bühnenjuxes, wobei der scheinheiligen Idylle der Bürgerlichkeit ein Zerrspiegel vorgehalten wird. Von der Lehrhaftigkeit späterer Brecht-Stücke und ihrer Stilisierung als „Episches Theater“ ist hier noch nichts zu spüren. Die Uraufführung fand 1926 in Frankfurt am Main statt.

Im Berliner Schloßpark Theater hat nun eine Inszenierung von Philip Tiedemann Asyl gefunden, die aus der Zeit von Intendant Claus Peymann am Berliner Ensemble stammt. Im derzeitigen Spielplan des Theaters am Schiffbauerdamm hatte diese Aufführung keinen Platz mehr gefunden, ließ sich aber mit der Zustimmung von Claus Peymann und Schloßpark-Theaterchef Dieter Hallervorden dorthin transferieren. Durch diese ungewöhnliche Revitalisierung bleibt eine  Aufführung greifbar, die sonst aus der aktuellen Berliner Theaterszene verschwunden wäre.

Leider kann man bei näherer Betrachtung dieses Theaterabends nicht ohne Einschränkung sagen, dass sich die Transplantation tatsächlich gelohnt hätte. Dabei präsentiert die Bühne von Etienne Pluss zunächst eine originelle szenische Lösung für die Hochzeitsgesellschaft: Eine lange, quergestellte Tafel in einem Raum, der in seiner drangvoll fürchterlichen Enge mehr an eine Dachkammer als an einen Festsaal denken läßt. Im weiteren Verlauf wird der pfiffige Trick an dieser Lösung offenbar: die Hochzeitstafel nimmt nur die obere Hälfte des Bühnenraums ein, während darunter und dahinter die Beine von Personen zu sehen sind, die gerade die Szene verlassen haben und stattdessen allerlei Allotria treiben. Wenn sich der Vorhang öffnet, erscheint ein weiterer Vorhang: die Abbildung von Picassos Friedenstaube als Reminiszenz an das verflossene Berliner Ensemble. Folgerichtig begleiten Musikfetzen aus „La Paloma“ karikierend die gesamte Aufführung.

Was sich aber als Nachteil erweist, ist das Regiekonzept von Philip Tiedemann aus dem Jahre 2000, das den studentischen Einakter von Brecht, von Hause aus eher ein Leichtgewicht zwischen Farce und Groteske, zu einer (mit Pause ) zweistündigen Handlung zerdehnt, in die Brechts Textelemente nur eingestreut werden. Was eigentlich eine zügig sich steigernde Parodie auf die bürgerliche Idylle sein sollte, verbreitet nun unterwegs streckenweise einfach nur Ödnis.

Dabei sind die schauspielerischen Leistungen auf dem Weg in die Bankrotterklärung durchaus ansehnlich. In Erinnerung bleibt, wie Carmen-Maja Antoni als Mutter der Braut den Kabeljau präsentiert und später als ein Häufchen Elend unter dem Tisch landet. In der Rolle der bereits schwangeren Braut artikuliert Charlotte Müller beredt die Zerknirschung über die mißglückte Hochzeitsfeier. Ihre Schwester mit blondem Bubikopf ist Anke Engelsmann. Pointierte, präzise artikulierte Kommentare und ein ansteckendes Lachen liefert Krista Birkner als „die Frau“. Die Riege der männlichen Tischgäste führt Martin Seifert als Vater der Braut an, der die gesamte Korona mit seinen allseits bekannten Geschichten mehr quält als unterhält. Den Bräutigam, der alle Möbel selbst geformt und mit einem stinkenden Leim zusammengefügt hat, gibt Boris Jacoby. Sein Freund ist Winfried Peter Goos, und dann gibt es da noch den Mann der Frau, gespielt von Michael Rothmann, sowie einen jungen Mann in Gestalt von Jörg Thieme.

Das Premierenpublikum sah allerdings seine Erwartungen erfüllt und spendete reichlichen Applaus. Für das Ensemble gab es Blumensträuße aus der Hand des Intendanten Dieter Hallervorden.

021918
Ein gnadenloser Seelenstrip
Premiere „Wer hat Angst vor Virginia Woolf“
im Renaissance-Theater Berlin

Es ist das bekannteste Stück des amerikanischen Autors Edward Albee, uraufgeführt 1962 in New York. Der Titel bezieht sich in Art eines assoziativen Wortspiels auf das Kinderlied „Who’s afraid of the big bad wolf ?“ Noch berühmter als die Bühnenversion ist der Film von Mike Nichols aus dem Jahre 1966 mit Liz Taylor und Richard Burton. Die deutsche Erstaufführung des Stückes fand 1963 in Berlin statt: unter der Regie von Boleslaw Barlog spielten damals Maria Becker und Erich Schellow die Rollen von Martha und George.

Im Berliner Renaissancetheater wählt Regisseur Torsten Fischer für seine Neuinszenierung die Übersetzung von Alissa und Martin Walser. Das  Bühnenbild von Herbert Schäfer und Vasilis Triantafillopoulos wird im  Vordergrund von zwei mehrsitzigen, einander gegenüberstehenden Ledersofas dominiert, während der Zuschauer hinter einer geteilten Jalousie noch  die verheissungsvoll ausgeleuchtete Flaschenbatterie einer Bar wahrnimmt, die wiederum von einem drohenden Clownsgesicht überwölbt wird.

Das szenische Milieu ist amerikanische Mittelschicht in einer kleinen, vom College geprägten Stadt. Martha (Simone Thomalla) und George (Klaus Christian Schreiber) kommen spät von einer Party bei Marthas Vater nach Hause, beide schon stark alkoholisiert. George ist Geschichtsprofessor am College. Seine Frau Martha, die Tochter des Collegedirektors, hat ungeachtet der vorgeschrittenen Stunde noch Gäste eingeladen, den Biologiedozenten Nick (Emre Aksizoğlu) und seine Frau Süsse (Karla Sengteller). Zunächst duellieren sich Martha und George mit blitzenden Dialogen: sie attackiert ihn als Versager und Nichtskönner, er revanchiert sich, indem er sie als alkoholabhängige Schlampe tituliert. Von der Zuneigung, die beide einstmals zueinander geführt hat, ist längst nichts mehr übrig. Ihr Verhältnis ist von den Ernüchterungen des Alltags verschlissen. Beíde schenken sich nichts in ihrem zerstörerischen Wortgefecht. Es klingelt, die Gäste sind da.

Weiterhin bestimmt die Allgegenwart von Brandy und Bourbon das sich steigernde und zuspitzende Dialogniveau. George entlockt Nick das Geständnis, dass der seine Frau Süsse wegen einer Scheinschwangerschaft geheiratet hat, die inzwischen in eine Kette von Übelkeitsanfällen bei Süsse übergegangen ist. Aber auch Martha hat eine angreifbare Schwachstelle: sie hat sich, in Wahrheit kinderlos, seit Jahren in die Fiktion hineingesteigert, mit George einen Sohn zu haben, dessen einundzwanzigster Geburtstag nun bevorstehe.

Schliesslich nimmt George die ganze Kraft seiner Frustration zusammen und nutzt die Kenntnis der psychischen Schwächen seiner Sparringspartner für ein perfides Gesellschaftsspiel. Zuerst verspottet er Nick wegen seiner scheinschwangeren Frau. Aber damit nicht genug: mit einem entschlossenen Schwertstreich zerstört er auch das psychische Refugium seiner Frau Martha, indem er gnadenlos den Unfalltod des erfundenen Sohnes verkündet. Nun ist der Scherbenhaufen aufgetürmt und alle Kraft der Bosheit ist verpufft. Nick und Süsse verlassen den Kampfplatz, und Süsse erklärt, sich nunmehr wirklich ein Kind zu wünschen. Martha und George finden gemeinsam zu einer versöhnlichen Haltung: sie bekennt, nunmehr „Angst vor Virginia Woolf“ zu haben - Angst vor einem Leben ganz ohne Illusionen.

Viel Beifall für eine gut abgestimmte, zügig ablaufende Ensembleleistung.  Simone Thomallas von Drinks beflügelte Ausfälle halten ihren Mann auf Distanz, aber im seelischen Zusammenbruch angesichts der Realität gelingen ihr später auch anrührende Momente. Klaus Christian Schreiber ist der souveräne, hundsgemeine und heimtückische Moderator, der aus langjährig gewachsener Zurücksetzung  zu immer neuen Anläufen der Hinterlist findet. Emre Aksizoğlu und Karla Sengteller sind sehr überzeugend das junge Paar, das nichtsahnend in die Mühlen einer nächtlichen Enthüllungsparty gerät.


020918
Wie war er, der Prophet ?
Premiere „The Who and the What“
in der Vagantenbühne Berlin


Es ist ein geschickt gemachtes Stück, dieses “The Who and the What” vom 1970 in New York geborenen Ayad Akhtar, Sohn pakistanischer Einwanderer, Pulitzerpreisträger und furchtloser Aufbereiter eines ebenso anspruchsvollen wie höchst explosiven Glaubenskonflikts für die Möglichkeiten einer kleinen Bühne. Die deutsche Erstaufführung im Hamburger Schauspielhaus ist gerade mal ein Jahr her. Die behutsame Dialogregie von Bettina Rehm arbeitet nun bei den Berliner Vaganten sowohl die locker-amüsanten Partien wie die konfliktgeladenen Dispute instinktsicher heraus.Die dramaturgische Begleitung übernahm diesmal Valeska Graffé. Am Schluss bleibt bei aller Dramatik anstelle eines Trümmerhaufens sogar eine weise, versöhnliche Pointe.

Die Ausstattung von Lars Georg Vogel kommt mit sparsamsten Mitteln aus. Auf der obersten Stufe einer Treppe steht der Drehsessel des alles beherrschenden Vaters Afzal (Jürgen Haug). Davor gruppieren sich in verändernden Positionen mehrere Schemel. Die Szene wird aus dem Hintergrund von Leuchtflächen in wechselnder Farbe erhellt und auf beiden Seiten durch eine Papierfläche begrenzt, die mit Fotos und Notizzetteln bedeckt ist.

Vater Afzal ist das Haupt einer konservativen muslimischen Familie. Als Inhaber eines florierenden Taxiunternehmens im amerikanischen Atlanta ist er frei von materiellen Sorgen und kümmert sich nach dem Tode seiner Frau mit Hingabe um das Leben seiner beiden Töchter, die er verheiraten möchte. Was er nicht weiss: Tochter Zarina (Natalie Mukherjee) schreibt an einem Roman über das Leben des Propheten Mohammed. Darin schildert sie ihn weniger als göttlich inspirierten Asketen. Vielmehr ist Mohammed bei ihr ein glühend liebender Mensch, der seiner inneren Stimme folgt - ein Sakrileg erster Ordnung und in strenggläubiger Umgebung ein todeswürdiges Verbrechen. Ihre Schwester Mahwish (Sabrina Amali), gleichfalls kein Kind von Traurigkeit, wird gleichwohl in das Geheimnis des Mohammed-Romans zunächst nicht eingeweiht.

Vater Afzal hat ein Porträt von Zarina ins Internet gestellt, und daraufhin spricht der junge Eli (Björn Bonn) bei der Familie vor, wo sich zunächst Vater Afzal auf ihn stürzt, um ihm auf den Zahn zu fühlen. Eli ist Konvertit und jetzt Imam einer muslimischen Gemeinde, aber er liebt Zarina und hat weniger patriarchalische Einstellungen als ihr Vater. Aber die Zeitbombe explodiert: Afzal findet das Manuskript von Zarinas Roman in der Aktentasche von Eli und liest mit wachsender Empörung, welches Bild seine Tochter vom geheiligten Propheten zeichnet. Er verstößt seine Tochter, die mit Eli in eine andere Stadt zieht.

Bei den Schauspielern ist die Darstellung der zugespitzten Konflikte in guten Händen. Jürgen Haug ist überzeugend der erzkonservative Muslim, seine beiden Töchter folgen ihm zwar gehorsam, haben aber sehr viel weltläufigere Ansichten. Beide füllen ihre Rollen mit Temperament und der Offenherzigkeit der Jugend aus. Björn Bonn als Eli ist in erster Linie der nette junge Mann, dem man die Liebe zu seiner Zarina durchaus abnimmt.

Lebhafter Premierenbeifall für eine gelungene Aufführung, die ein komplexes Thema unterhaltsam offeriert.


012118
Ein exemplarisches Missverständnis
Premiere der Neuinszenierung von Bizets „Carmen“
an der Deutschen Oper Berlin

Sie ist ein Kuriosum in der Opernliteratur, George Bizets 1875 in der Pariser Opéra Comique uraufgeführte Oper „Carmen“. Die Erstvorstellung war ein Misserfolg. Zwei Monate später starb der Komponist und konnte nicht mehr miterleben, wie sich das Schicksal wendete und aus seiner Oper jener Welterfolg wurde, der das Werk bis heute auf Spitzenplätzen des internationalen Musiktheaters hält, ganz zu schweigen von den vielen Adaptionen im Film und auf der Schallplatte. Das Publikum hatte anfangs diese „Opéra comique“ abgelehnt, deren realistische Darstellung und unausweichliche Tragik sie entgegen der Tradition eher zu einem Vorläufer des „Verismo“ werden liess. Der Einstellungswandel in den folgenden Jahren rückte die Frauenfigur der Carmen mit ihrem unbändigen Freiheitsdrang und ihrem Beharren auf dem Primat der Empfindung in den Vordergrund, und auf einmal wurde daraus ein frühes Paradigma weiblicher Emanzipation.

Der norwegische Regisseur Ole Anders Tandberg, durch erfolgreiche Inszenierungen wie die „Lady Macbeth von Mzensk“ 2015 in diesem Hause legitimiert, hat sich zweifellos mit der Vorlage, der Novelle von Prosper Mérimée und dem Libretto von Meilhac und Halévy eingehend beschäftigt. Leider hat er daraus  die falschen Schlüsse gezogen. Die Annahme, dass der Opernregisseur unserer Tage dem Publikum die notfalls gewaltsame Herstellung aktueller Zeitbezüge schulde, beruht auf einem Missverständnis und führt ins Abseits. Was hier bewiesen wird.

Das beginnt bei der Hauptfigur. Diese Carmen ist bei ihm einfach ein junges Mädchen in leuchtend roter Robe, das auf dem Recht der freien Wahl ihrer Liebhaber bis zum verderblichen Ende besteht. Von der unterschwelligen Dämonie dieser Figur, ihrer geheimnisvollen Neigung zu okkulten Riten, ihren dunklen Ahnungen und ihrem Fatalismus bleibt kaum etwas übrig. Stattdessen installiert er sexuelle Vergröberungen wie in den Soldatenszenen und läßt Escamillo die Hoden eines getöteten Kampfstiers entfernen, die er anschliessend der gefaßt reagierenden Carmen als Liebesgabe dediziert, was auf offener Szene die ersten Unmutsäußerungen des Publikums provoziert. Leutnant Zuniga muss sich die Entfernung seiner Nieren gefallen lassen,  und im dritten Akt spielen Carmen, Frasquita und Mercédès nicht etwa Karten, sondern sie sortieren extrahierte Herzen aus Petrischalen in Thermobehälter - die Schmuggler entnehmen nämlich geeigneten Opfern gewaltsam die kostbaren Spenderorgane, mit denen sie dann einen schwunghaften Handel treiben. Andere szenische Details wie die Auftritte von Kindern, die Leuchtkugeln in Händen halten, oder die mehrfachen Trippelschritt-Paraden schwarzgekleideter Mantilla-Trägerinnen mit Handtasche bleiben, abgesehen vom optischen Reiz, ohne sinnfällige Verbindung zur Handlung.

Das Bühnenbild von Erlend Birkeland ist ebenso simpel wie praktisch: ein hoch aufragendes, auf die Drehbühne gestelltes Amphitheater, dessen Rückwand gleich als Dekor für die auf der Vorderbühne spielenden Szenen dient.

Das Paradox der Aufführung besteht darin, dass sie musikalisch ziemlich nahe an die absolute Erfüllung heranreicht. Die Carmen mit dem Mezzo von Clémentine Margaine lässt stimmlich keine Wünsche offen. Charles Castronovo absolviert sein Rollendebüt als Don José mit Auszeichnung und erreicht in der Schlußszene mit Carmen eine stimmliche und darstellerische Intensität, die kaum zu übertreffen ist. Tobias Kehrers  Leutnant Zuniga  fesselt mit wohlfundiertem Baß, und bei den Damen sind dIe Frasquita von Nicole Haslett und die Mercédès von Jana Kurucová  auch kostümlich reizvolle Carmen-Doubletten. Als Micaëla, die verschmähte Partnerin des Don José findet Heidi Stober ebenso nachdenkliche wie leidenschaftliche Töne. Marcus Brück gibt dem Stierkämpfer Escamillo mit dem Torerolied das wuchtige Profil, wobei die Stimme in den tiefen Lagen etwas matt klingt. Ya-Chung Huang als Remendado und der elegant-bewegliche Dean Murphy als Dancairo mischen das Schmugglermilieu etwas in Richtung „Opéra comique“ auf. Die Chöre sind mit Sorgfalt und feiner Klangabstimmung einstudiert.  Ivan Repušić am Pult des Orchesters der Deutschen Oper leitet sein Ensemble eingangs etwas knallig, hat aber auch das nötige Feingefühl für die leiseren und die solistischen Passagen von Bizets Partitur.

Viel Beifall zum Schluß für Solisten, Chor und Orchester. Und kräftige Buhrufe für den Regisseur samt Team.

010118
Mimi halbszenisch
„La Bohème“ zu Silvester
in der Deutschen Oper Berlin

Wassermangel ist eine Not. Mit Wasser im Überfluss geht es aber nicht viel anders. Das widerfuhr der Deutschen Oper Berlin, als am Heiligabend des Jahres 2017 aus derzeit noch ungeklärter Ursache die Sprinkleranlage des Hauses losbrach und den gesamten Bühnenraum unter Ströme von Wasser setzte. Ein Feuer hatte es zum Glück nicht gegeben, aber was diese Wasserflut auslöste, war nicht viel besser. Auf einen Schlag waren alle technischen Funktionen lahmgelegt, die man für eine gut funktionierende Opernaufführung benötigt. Zum Glück dauerte die Schrecksekunde nur eine kurze Frist, dann waren die Nothelfer im Einsatz und unternahmen erste Schritte zur Trockenlegung. Einige Vorstellungen mussten abgesagt werden. Für andere, darunter die Silvesteraufführung von Puccinis „La Bohème“, wurde eine als „halbszenisch“ bezeichnete Lösung gefunden. Die Geistesgegenwart, mit der diese Spielplanänderung bewältigt wurde, ist ein Ruhmesblatt in der Geschichte des Hauses an der Bismarckstraße.

Wir haben uns die Nachmittagsvorstellung ausgesucht, weil das besser in unsere Tagesplanung paßt und wir die Erfahrung gemacht haben, dass diese vorgezogenen Aufführungen von gleicher Qualität wie die Bühnenereignisse des folgenden Abends sind. Intendant Dietmar Schwarz tritt persönlich vor den Vorhang und erinnert noch einmal an den Schicksalsschlag mit dem Wasserschaden. Er kann aber auch mitteilen, dass es den gemeinsamen Anstrengungen der Helfer gelungen ist, nahezu alle dadurch verursachten Mängel wieder zu beheben, bis auf das Funktionieren der Scheinwerfer aus der Höhe des Bühnenturms. Von der angekündigten, wie auch immer definierten „halbszenischen“ Produktion bleibt demnach fast nichts übrig - lediglich auf ein allerletztes Glanzlicht von oben muss eben verzichtet werden.

So entrollt sich nun die 119. Aufführung von Götz Friedrichs Inszenierung aus dem Jahre 1988 unter der auffrischenden Spielleitung von Gerlinde Pelkowski und bezaubert von Anfang an in bewährter Weise. Das Orchester unter der Leitung von Nicholas Carter agiert in großer Besetzung, wirkt bisweilen etwas knallig laut, bringt aber auch die zarten, die leidenschaftlichen Passagen von Puccinis stimmungsvoller Partitur einfühlsam zur Geltung. Im ersten Bild, dem Atelier in der Mansarde, ist von Lichtmangel nichts zu bemerken. Das zweite Bild mit dem bunten Treiben vor dem Café Momus lässt allenfalls für Experten erkennen, an welcher Position womöglich ein Scheinwerfer fehlt. Lediglich die am Ende durchmarschierende Wache, so meint man, wurde vor der Sintflut noch etwas besser aus der Höhe ausgeleuchtet. Das nächste Bild am Stadtrand ist sowieso von etwas düsterer Stimmung bei Schnee und Kälte geprägt, und das vierte Bild spielt wieder in einer Mansarde, die allerdings etwas anders aussieht als zu Beginn. Aber auch hier ist kein Lichtmangel festzustellen.


Die heimliche Überraschung dieser Vorstellung ist die Besetzung der Hauptpartien. Mimi ist Dinara Alieva, aus Aserbaidschan stammend, ein wunderbar klarer, hell und warm getönter Sopran, der auch die herzbewegenden Augenblicke dieser Partie überzeugend und mit dem erforderlichen Nachdruck zu vermitteln vermag. Die Rolle ihres Partners Rodolfo singt der Armenier Liparit Avetisvan, hierorts ebenfalls ein vergleichsweise neuer Name, der aber auch schon in Sydney und London seine Meriten gesammelt hat. Die ersten Einsätze kommen eher etwas zurückhaltend, aber mit der Arie „Che gelida manina“ erweist sich, welch glänzendes Los das Publikum hier gezogen hat : ein echter Tenor, dessen tiefere Lagen eher etwas verhalten ansprechen, der aber über eine strahlend aufblühende, gleichwohl warm timbrierte Höhe verfügt, die zu keiner Zeit eng wird, sondern sich mit größerer Intensität immer mehr öffnet. Den beiden zur Seite die Bohemiens Schaunard (elegant und beweglich: Dean Murphy), Marcello (Noel Bouley) und Colline (mit der bewegenden Mantel-Arie)Ievgen Orlov), die treffend das Milieu der großen Worte und kleinen Mahlzeiten verkörpern. Den Mieteneintreiber Benoit singt Jörg Schörner, und Alexandra Hutton wird eins mit der Figur der leichtlebigen Musetta, die am Ende der sterbenden Mimi einen rasch erworbenen Muff schenkt. Musettas etwas ältlichen Verehrer Alcindoro spielt mit bewährter Präsenz Peter Maus, der diese Rolle noch in der folgenden Abendvorstellung ein zweites Mal verkörpern darf. Die von Thomas Richter einstudierten Chöre aller Altersklassen absolvieren ihren Part ohne Tadel.

Am Ende gibts reichen Beifall für ein gut abgestimmtes und spielfreudiges Ensemble und eine Aufführung, die den Launen der Technik erfolgreich trotzt und alle Vorzüge von Puccinis Werk überzeugend zum Klingen bringt.

122217
Ein nacktes, zweigebeintes Tier
Premiere „König Lear“
im bat-Studiotheater Berlin

Der „King Lear“ ist eine komplexe, sehr tiefgründige Tragödie aus dem Jahre 1605 von William Shakespeare. Fünf Akte, zahlreiche Personen, mehrere Handlungsstränge, zu allem Überfluss auch noch zwei verschiedene Textfassungen. Wenn nun Evgeny Titov im bat-Studiotheater der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ eine „König Lear“-Version von 100 Minuten Spieldauer ankündigt, muss er  sich auf bestimmte Aspekte dieses umfangreichen Dramas beschränkt haben. Es wird darauf ankommen, ob diese Aspekte so ausgewählt sind, dass  ein wesentlicher Teil der Persönlichkeit von König Lear skizziert wird und davon eine zwingende Bühnenwirkung ausgeht.

Regisseur Titov löst das Mengenproblem geschickt und entschlossen. Er präpariert aus den mannigfaltigen Handlungsfäden der Shakespeare-Vorlage einen Strang heraus, der sich mit der Person von König Lear und mit der existentiellen Frage beschäftigt, was eigentlich des Menschen unabdingbarer Besitz sei.  Dabei bleibt die deutsche Übersetzung von Frank Günther erhalten, und deren sprachlicher Reiz trägt erheblich zur Wirkung der Inszenierung bei. Vor den kahlen, grau getönten Wänden der Guckkastenbühne von Katharina Grof umstehen eingangs die drei Töchter des Königs, spannungsreich im Dreieck postiert, eine Anzahl schwarzer Plastiksäcke, die den Besitz des Königs symbolisieren. Die Regie unterstreicht die Endzeitstimmung durch lange Gänge und ausgedehnte Pausen. Der König (Moritz Carl Winklmayr) ist alt, resignierend, will sich aus der Regierung verabschieden. Zuvor verteilt er Anteile seines Reiches und Besitzes an die beiden liebedienerischen Töchter Goneril (Janine Meißner) und Regan (Antonia Scharl). Da die dritte Tochter Cordelia (Lara Feith) den geforderten Liebesbeweis schuldig bleibt, enterbt sie der König und verstößt sie vom Hof.

Anschließend verfällt er in Wahnsinn. Nur der Narr (vorzüglich und mit weiß geschminkter Ganzkörper-Maske: Henning Flüsloh) teilt seine Einsamkeit und bläst ihm in immer neuer Serie sarkastische Lebensweisheiten ein, die aber hinsichtlich ihrer Relevanz ebenso hinfällig sind wie alle Besitzgegenstände und alle einst wirksamen Befugnisse des Königs. Dann agiert im Hintergrund noch Edmund (entsagungsvolle stumme Rolle, die Maximilian Gehrlinger aber konzentriert und mit guter Bühnenpräsenz absolviert). Der nutzt die Faszination, die er auf die beiden Erbtöchter ausübt, für allerlei pittoreske Spielchen.

Des Königs Wahnsinn verhilft ihm kurioserweise zu einer letzten, zutiefst resignativen Einsicht, dass der Mensch auf die Narrenbühne der Welt als „armes, nacktes, zweigebeintes Tier“ gestellt wird, dem von allem, was es auf dem Lebensweg erwirbt, nichts wirklich gehört. Nur die grenzenlose Einsamkeit und der Zustand des  Wahnsinns sind des Menschen ganzer Besitz. Zur Bestätigung dieser heillosen Diagnose türmt Edmund am Ende die entseelten Leiber des Königs und seiner Töchter samt den vererbten Besitztümern wie einen Scheiterhaufen in der Bühnenmitte zusammen.

Viel Beifall vom Premierenpublikum für eine sehr konsequente, durchaus überzeugende Variante des uralten, von ernüchternden Wahrheiten erfüllten König Lear-Mythos.






120317
Freigebigkeit schlägt Habgier
Premiere von „Mosca und Volpone“
im Schloßpark-Theater Berlin

Die Ahnenreihe des Stückes reicht weit zurück: der „Erfinder“ der Volpone-Figur, der englische Bühnenautor und Dichter Ben Jonson, war ein Zeitgenosse William Shakespeares und lebte von 1572 bis 1637. Eine Bearbeitung von Stefan Zweig wurde 1926 zu dessen größtem Bühnenerfolg. Im Berliner Schloßpark-Theater hatte jetzt eine wiederum freie Bearbeitung der Stefan Zweig-Vorlage von Thomas Schendel Premiere. Schendel führte auch Regie. Die Zeichnung der einzelnen Personen wie auch der szenische Stil orientieren sich konsequent an der italienischen Commedia dell’Arte. Die verbindende Musik, die sich geradezu ideal in den Ablauf des Stückes einfügt, stammt von Jacques Offenbach.

Volpone (Mario Ramos) ist ein venezianischer Kaufmann, der es sich in den Kopf gesetzt hat, seine im Kaufmannsleben erworbenen Schätze zu verwenden, um die unverhohlene Habgier einiger seiner Mitbürger zu entlarven. Dabei soll ihn sein Diener Mosca (Dieter Hallervorden) als raffinierter Strippenzieher  unterstützen, der die notwendigen Aktionen ersinnt und seinem Herrn die ausgesuchten Opfer in die Arme treibt.

Das Stück hebt an, indem der Thespiskarren einer Schauspielertruppe auf die Bühne rollt und der spätere Mosca die Akteure vorstellt. Volpone hat zuerst Gelegenheit, verächtliche Äußerungen über die schlechten Eigenschaften venezianischer Prominenz vorzutragen, und Mosca, der ihm ewige Treue und Ergebenheit gelobt hat, unterbreitet erste Vorschläge, wie man die ausgesuchten Opfer vorführen könnte. Es klopft an der Tür, und schon nimmt der Tanz der Habgierigen seinen Anfang.

Volpone liegt scheinbar sterbenskrank zu Bett, und Mosca verbreitet die Legende, jeder der Besucher könne gegen eine angemessene Gabe im fälligen Testament zum Alleinerben Volpones bestimmt werden. Moscas Raffinesse erreicht es, dass jeder Bewerber in dem Glauben ist, der einzige zu sein, dem diese Chance geboten wird, und demzufolge ein angemessenes Investment für den Schlüssel zu dieser Erbschaft zu halten. Der Notar Voltore (Oliver Nitsche) geht als erster auf den Leim. Der Pfandleiher Corbaccio (Thomas Schendel) zögert nicht, seinen Sohn zu enterben, um der Schatztruhe Volpones habhaft zu werden. Der Kaufmann Corvino (Karsten Kramer), eigentlich die Inkarnation der Eifersucht, zögert nicht, seine Frau Colomba (Anja Gräfenstein) dem Volpone zuzuführen, um mit Moscas Hilfe zum Alleinerben aufzusteigen. Die Kurtisane Canina (Franziska Troegner) wiegt sich in der Hoffnung, auf ihre alten Tage Volpone ehelichen zu können, um an sein Geld zu kommen.

Corbaccios Sohn Capitano Leone (Jonathan Kutzner) erfährt von seiner Enterbung, und Mosca schleust ihn bei Volpone ein, damit er sich heimlich von dem dortigen Geschehen überzeugen kann. Corvino bringt seine Frau Colomba zu Volpone, und sie legt ihre Hand auf seine Stirn, was seine sofortige Gesundung zur Folge hat und alle Lebensgeister weckt. Der lauschende Leone wittert Verschwörung und versuchte Vergewaltigung. Nach einigem Hin und Her ziehen alle vor den Richter Tafano (Georg Tryphon), der anhand der Zeugenaussagen feststellt, dass niemand Colomba zu nahe getreten ist.

Volpone will all den Erbschleichern einen Streich spielen und setzt Mosca als Alleinerben in das Testament, das dem Richter übergeben wird. Als sich die Täuschung offenbart, zweifeln zunächst alle die Gültigkeit des Testaments an, bis Mosca verspricht, alle Geprellten zu entschädigen, wenn sie die Gültigkeit des Testaments anerkennen. Mosca seinerseits stellt keine Ansprüche, sondern verschenkt das geerbte Kapital an die Armen.

Thomas Schendels Inszenierung läuft flott und ist ausgesprochen unterhaltsam.
Hausherr Dieter Hallervorden ist nicht nur der (ungeachtet seines Alters) springlebendige und pfiffig-verschlagene Diener, der gelegentlich mit seinem Herrn hadert wie Leporello in Mozarts „Don Giovanni“. Er ist auch ein kundiger Maître de plaisir, der im rechten Moment immer mit einer Handvoll Konfetti einen bezaubernden Akzent liefert. Seine Schlußsequenz setzt im Geiste Charlie Chaplins das Negative außer Kraft und stellt ihm großzügige Menschlichkeit entgegen.

Viel Beifall vom begeisterten Premierenpublikum. Man muss kein Prophet sein, um dieser Aufführung eine lange Laufzeit vorherzusagen.


120117
Die ungefähre Annäherung
„Heisenberg“ im
Renaissance-Theater Berlin

Ein herrliches Stück Theater zum Nachdenken. Der Physiker und Nobelpreisträger Werner Heisenberg tritt allerdings nicht als Person in Erscheinung. Die von ihm formulierte Unschärferelation dient lediglich sinnbildlich als Ausdruck für das Verhältnis zweier Menschen und den Zufall, der beide zusammenführt. Simon Stephens Schauspiel wurde 2015 in New York uraufgeführt. Die deutsche Version von Barbara Christ war  2016  im Düsseldorfer Schauspielhaus erstmals zu sehen. Regie bei der Berliner Präsentation hat Antoine Uitdehaag. Die Bühne von Momme Röhrbein wird von halbhohen übereinander getürmten weissen Blöcken beherrscht, die jeweils zum Szenenwechsel gegeneinander verdreht werden und so stets eine neue Position zueinander einnehmen. Auf den Bühnenhorizont werden als Intervallsignal gleichzeitig Videosequenzen von laufenden Menschengruppen projiziert.

Georgie Burns (Susanna Simon) ist 42, Alex Priest (Walter Kreye) 75. In einem Londoner Bahnhof küsst sie ihn auf den Nacken mit dem Argument, sie habe ihn mit ihrem verstorbenen Mann verwechselt.  Lauter kleine Schwindeleien wie diese eine führen die beiden näher zusammen. Sie ist weder Killerin noch Kellnerin, sondern Sekretärin in einer Londoner Schule, und er ist Metzger, aber durchaus wohlhabend. Nun umkreisen die beiden einander bei wechselnden Anlässen und gewinnen so schrittweise Kontur, indem sie wie in einem Puzzle immer weitere erklärende Details über ihr Leben offenbaren. Georgie tut dies mit etwas mehr Temperament und verwandelt sich äusserlich durch wechselnde Frisuren und Kostüme, Alex wahrt die Form und leistet sich später lediglich mal eine Jeansjacke. Die Annäherung der beiden vollzieht sich in mehreren Stufen, die Vertrautheit nimmt zu, überschreitet aber nie ein gewisses Maß. Sex steht dabei keineswegs im Vordergrund, auch wenn er natürlich nicht zu kurz kommt.

Schliesslich stellt sich heraus, dass Georgie doch nicht ganz ohne Plan vorgeht. Sie hat einen Sohn, der nach Amerika ausgewandert ist und dort geheiratet hat. Sie bekam von ihm einen Abschiedsbrief aus New Jersey. Nun erbittet sie von Alex eine Geldsumme, um nach USA fliegen und dort nach dem verschwundenen Sohn suchen zu können. Beide unternehmen diese Reise, finden den Gesuchten aber nicht. Stattdessen bleibt die Frage nach ihrer Beziehung offen. Mehr als die bisherige unverbindliche Annäherung kommt dabei aber nicht heraus. Das Stück endet, wie es begann: zufällig.

Mittelpunkt und Impulsgeberin ist die Figur der Georgie, und Susanna Simon gibt diesem Charakter mit seiner Mischung aus Leichtsinn und Berechnung eine absolut glaubwürdige Form. Walter Kreye  ist ihr ruhiger, toleranter und hilfsbereiter Sparringspartner, der nicht einmal dann aus der Haut fährt, wenn ihm klar wird, dass Georgie seine langjährigen Tagebuchaufzeichnungen durchstöbert hat. Beide lassen in bewunderungswürdiger Einigkeit die spezielle Atmosphäre dieser Beziehung entstehen, die aus Zufällen geboren ist und nie in festgeschriebene Verpflichtungen mündet.

Viel Beifall vom aufmerksam lauschenden Publikum für das Schauspielerduo und die suggestive Inszenierung.

113017
Die Spur des Werwolfs
Premiere „Das Geheimnis der Irma Vep“
bei den Vaganten Berlin

Es ist eine in jeder Hinsicht haarsträubende Geschichte, die hier in der Berliner Vagantenbühne von zwei Vollblut-Verwandlungskünstlern dargeboten wird. Lieferant der Fabel ist der amerikanische Schauspieler und Dramatiker Charles Ludlam, der von 1943 bis 1987 vor allem in New York lebte. Die deutsche Übersetzung stammt von Frank Günther. Regisseur der Aufführung ist Jan Bolender, die Ausstattung besorgte Marcel Teske. Das Bühnenbild besteht einfach aus einem quadratischen Drahtkäfig, dessen Boden mit einer Auswahl drolliger Kuscheltiere bedeckt ist. In die Rückwand eingehakt sind verschiedene Regalelemente, die gleichfalls mit ein paar Kuscheltieren bestückt sind. Ach ja, und in einem Fall mit einem Jugendbildnis der titelgebenden Irma Vep.

Lord Edgar Hillcrest ist Ägyptologe und Besitzer des Guts Mandacrest. Nach dem Tode seiner geliebten Frau Irma Vep hat er die Schauspielerin Enid Hillcrest geehelicht. Dann gibt es auf dem Gut noch die Haushälterin Jane Twisden und den Stallknecht Nicodemus Underwood, die zunächst die Handlung beherrschen. Damit nicht genug: Anika Lehmann und Thomas Bartholomäus schlüpfen an diesem Abend in die Gewänder von jeweils vier verschiedenen Figuren, und sie tun das mit derart perfektem Timing, dass ihre Verwandlungen nahtlos aneinander anschließen. 

Aus der ersten Begegnung von Jane und Nicodemus entwickelt sich nun eine flott voranschreitende Story, die ziemlich genau dem schmalen Grat zwischen Satire und Klamotte folgt. Die etwas unheimliche Atmosphäre auf Gut Mandacrest verbreitet sich mit Augenzwinkern über die Szene, und die ersten Verwandlungen der beiden Schauspieler belegen schon ihr souveränes Können in der Typisierung der jeweiligen Figuren. Neben dem Ableben der Irma Vep gibt auch der Tod des kleinen Sohnes Rätsel auf. Verschwörungstheorien lösen einander ab, eine abstruser als die andere, und auch vom Wüten eines Werwolfs  sowie von blutsaugenden Vampiren ist die Rede.

Als verschiedene Alternativen auf dem Gut durchgespielt sind und sowohl Anika Lehmann als Lord Edgar wie Thomas Bartholomäus mit Perücke als Lady Enid ihre Wandlungsfähigkeit demonstriert haben, bricht der ägyptologische Lord zu einer Expedition ins Land der Pharaonen auf, was der Handlung einen originellen Schub verleiht. Daran knüpft sich wieder eine ganze Serie von skurrilen Situationen und überraschenden Wendungen. Schließlich manifestiert sich sogar der Geist der verblichenen Irma Vep, und in einer turbulenten Szenenfolge gelingt den beiden Akteuren ein fabelhafter Sprint in Zeitlupe.

Das verträumte Ende der Gruselkomödie soll hier nicht verraten werden. Das Publikum ist  jedenfalls mit der Aufführung  hochzufrieden und spendet animierten  Jubel in allen heutzutage üblichen Tonlagen und Lautstärken.

112717
Opulentes vor historischem Horizont
Première von Giacomo Meyerbeers „Le prophète“
in der Deutschen Oper Berlin

Wenn man Richard Wagner als Ahnherrn der modernen Filmsinfonik bezeichnet, kann man auch seinen Zeitgenossen Giacomo Meyerbeer als Erfinder des Breitwand-Spektakels auf der heutigen Filmleinwand apostrophieren. Meyerbeers ‚Grand Opéra‘ „Le prophète“ riss das Publikum in Paris schon 1849 zu Bewunderungsrufen und Begeisterungsstürmen hin, als Wagner gerade einmal an seinem „Ring“ zu arbeiten begann. Seither fand Meyerbeers ausufernde Story vor dem Hintergrund der Münsteraner Wiedertäuferbewegung den Weg in die europäischen Opernhäuser des 19. Jahrhunderts, ehe das Werk angesichts des zur Aufführung erforderlichen opulenten Aufwands dann auch wieder daraus verschwand, begleitet von Wagners späterer antisemitisch begründeter Meyerbeer-Gegnerschaft.

Die Deutsche Oper Berlin hat es nun unternommen, das monumentale Opus mit dem Libretto von Eugène Scribe und Émile Deschamps aus dem Strom der Zeit herauszufischen und auf die Charlottenburger Bühne zu stellen. Regisseur Olivier Py verzichtet darauf, der Ungeduld des zeitgenössischen Zuschauers durch modische Kürzungen der Originalvorlage entgegenzukommen. Religiöser Fundamentalismus, ein bedrängendes Thema unserer Tage, bildet den Hintergrund der Handlung, die ansonsten eine Liebesgeschichte erzählt und überdies die These illustriert, dass Macht korrumpiert. Einziges Zugeständnis: Ort und Zeit der Handlung befinden sich nun „irgendwo im 20. Jahrhundert“.

Die Inszenierung stellt die umfängliche Handlung in das flexible, leicht zu variierende Bühnenbild von Pierre-André Weitz, das sich auf die Drehbühne stützt und von graugetönten Häuserfassaden und verschiedenen Lichteffekten beherrscht wird.

Während Berthe (Elena Tsallagova) auf ihren Verlobten, den Gastwirt Jean (Gregory Kunde) wartet,
erscheint dessen Mutter Fidès (Clémentine Margaine), und beide erleben das Auftreten der drei Wiedertäufer Jonas (Andrew Dickinson), Mathisen (Noel Bouley) und Zacharie (Derek Welton). Die Drei rufen das Volk zur Revolte auf. Landesherr Graf Oberthal (Seth Carico) vertreibt sie, vergreift sich aber auch an Berthe. Die drei Wiedertäufer wollen Jean zum Anführer ihrer Bewegung machen, was dieser zunächst ablehnt. Berthe kann der Gefangenschaft des Grafen entfliehen, Fidès ist Geisel seiner Häscher. Voller Haß auf den Grafen willigt Jean ein, Prophet der Wiedertäufer zu werden. Ein erster Angriff der Wiedertäufer auf Münster wird abgeschlagen. Der neue Prophet kann das zögernde Heer mit flammender Rede für einen neuen Sturm begeistern.

Als Jean dann im Münsteraner Dom zum König der Wiedertäufer gekrönt wird, steht auf einmal Fidès vor ihm, die ihren Sohn erkennt. Jean verleugnet sie, und Fidès akzeptiert das, um ihn nicht zu gefährden. Berthe will den Propheten töten, dem sie die Schuld am vermeintlichen Tod ihres Verlobten Jean gibt. Schliesslich nähern sich feindliche Truppen der Stadt, um die Herrschaft der Wiedertäufer zu beenden. Aus der verträumten Hoffnung von Jean, Berthe und Fidès auf ein glückliches Leben auf dem Lande wird nichts: der gescheiterte Prophet gibt sich selbst den Tod.

Meyerbeers Musik fesselt seltsamerweise nicht durchgehend. Manche Wendung, die sich am italienischen Stil orientiert, wirkt allzu gewollt und konstruiert. Immerhin sind einige Motive wohlbekannte Angelpunkte der Partitur: etwa die Melodie der Wiedertäufer-Hymne „Ad nos, ad salutarem undam“, von Franz Liszt wenige Jahre später für eine heute wohlbekannte Orgelfantasie genutzt, der Krönungsmarsch oder das erfreulicherweise beibehaltene Ballett „Les Patineurs“, aus dem hier allerdings eine getanzte Revue von Kriegsgreueln wird.

Diese „Grand Opéra“ wirft alle Trümpfe der Opernbühne in die Schlacht um die Gunst des Publikums. Zu den Solisten und den von Jeremy Bines vorzüglich instruierten Chören kommen Tänzerinnen und Tänzer, die umfangreiche Statisterie und eine bald verborgene, bald sichtbar platzierte Bühnenmusik.

Dirigent Enrique Mazzola leitet sein hellwach agierendes Orchester sensibel und mit klarer Zeichengebung. Unter seiner Leitung verbindet sich der perfekt austarierte Orchesterklang mit den exakten Einsätzen der Chöre und den pantomimischen Beiträgen der Tänzer zu einem durchweg beeindruckenden Bild- und Klangerlebnis.

So richtig groß wird der Abend allerdings vor allem durch die herausragende Leistung zweier Frauen: Clémentine Margaine in der Rolle der Fidès, dichtauf gefolgt von Elena Tsallagova als Berthe. Was Clémentine Margaine hier an beherrschender Mezzo-Stimmpracht einsetzt, fesselt und begeistert durchgehend. Ihr ebenbürtig und besonders in den Duettpassagen buchstäblich hinreissend ist Elena Tsallagova, die ihre Leistung im Laufe des Abends sogar noch steigern kann. Demgegenüber hat Gregory Kunde als Jean, der Prophet stimmlich nicht seinen besten Tag erwischt. Sein Tenor wirkt streckenweise sehr angestrengt.

Der reiche Schlußapplaus konzentriert sich vor allem auf die beiden Solistinnen, würdigt aber auch das gesamte riesige übrige Ensemble ausgiebig. Von Mißfallensäußerungen der gewohnten Art ist praktisch nichts zu hören, was auch für die Leistung des Regisseurs gilt, der sich fröhlich in die Riege der umjubelten Solisten einreiht.

112517
Tango reisst die Seele auf
Cuarteto SolTango im
Piano Salon Christophori Berlin

Diese Uferhallen in einer (zumindest abends) relativ dunklen Ecke des Weddings haben nicht nur einen unverwechselbaren Charme, sondern sie sind unter der Regie ihres Initiators Christoph Schreiber inzwischen zu einer Exzellenzadresse für Kammermusik  mit international gerühmten Solisten geworden. Das Themenfeld reicht von der Klassik über Jazz bis zu Tango-Spezialitäten, diesmal vom renommierten Cuarteto Sol Tango dargeboten.

Die Örtlichkeit hat den etwas abgerissenen Charakter der Beiläufigkeit, als solle vermittelt werden, dass es bei wirklich guter Musik nicht auf die polierte Oberfläche ankommt, sondern einfach auf exorbitante, exzellente Qualität. Man betritt eine von einigen Stehlampen eher schummrig beleuchtete ehemalige Abstellhalle für Omnibusse, die  durch ein paar von oben herabhängende Leuchter  das Ambiente eines Trödelmarkts bekommen hat. Darin eine Reihe recht dicht hintereinander platzierter Stuhlreihen, vorn die Bühne mit mehreren Konzertflügeln, die zu den im Piano-Salon restaurierten Exemplaren gehören. Ein Klavierstimmer geht mit Akribie seiner Profession nach, die ihn bis unmittelbar vor Konzertbeginn beschäftigt.

Dann kommen die Solisten des Cuarteto SolTango auf die Bühne, zwanglos und fröhlich wie die Beatles. Kurze Verbeugung, dann elektrisiert der erste Tango die Zuhörer. Das Quartett: das sind Thomas Reif, Violine, Karel Bredenhorst, Violoncello, Andreas Rokseth,Bandoneon und der Pianist Martin Klett, der sich auch als gewandter Moderator erweist. Sie spielen Kompositionen von Weill bis Piazolla sowie Konzerttangos von Aníbal Troilo,Lucio Demare und Horacio Salgán.

Das Musikgenre des Tango hat sich in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts von Argentinien und Uruguay in die Welt verbreitet und dabei eine immer größere Vielfalt der Stile und eine immer weiterreichende Perfektion des Vortrags erreicht. Heute sind vor allem drei Ausprägungen zu unterscheiden: der ursprüngliche Tango im 4/8-Takt, die Milonga im 2/4-Takt und der Vals im 3/4-Takt. Zwei Strömungen bestehen nebeneinander: die traditionelle ist an den klassischen Tango angelehnt, eine zweite sucht nach neuen Möglichkeiten, wobei die Instrumente des Tango-Orchesters auch teilweise polyphon geführt werden.

Was das Cuarteto SolTango an diesem Abend präsentiert, ist diese ganze Palette verschiedener Kompositions- und Vortragsstile. Dabei offerieren die jungen Musiker eine begeisternde Hingabe und mitreissende Perfektion, die sich insbesondere in den tangotypischen Betonungen und in äußerster rhythmischer Akkuratesse auswirkt. Die Zuhörer werden mit kundiger Künstlerhand durch ein Wechselbad der Gefühle geführt: die Skala reicht von melancholischer Grundstimmung über buchstäblich fetzige Rhythmen bis zu verträumter Gedankenwanderung, die an die besten Momente klassischer Kammermusik anschließt. Die Dialoge von Violine und Bandoneon, die klangsatte Kommentierung durch das Cello und nicht zuletzt der brillante Pianopart zeichnen ein überaus farbkräftiges Bild des gesamten Genres.

Kein Wunder, dass die Zuhörer dieses animierende Quartett nicht einfach unter brausendem Beifall ziehen lassen wollen, nachdem der Hausherr Christoph Schreiber jedem der Solisten zum Dank ein Blumengebinde überreicht hat. Ein paar Zugaben von gleicher Qualität runden die musikalische Bilanz ab, bei der sogar  der Bariton von Harish Shankar, normalerweise 1. Kapellmeister am Theater Vorpommern Stralsund/Greifswald,
eine Vorstellung davon vermittelt, wie Tango-Songs mit musikalischer Grundierung klingen.
 

111017
Komplize Publikum
Premiere „Hinter der Fassade“
im Renaissance-Theater Berlin

Mit seiner ergänzenden Import-Politik hatte das Berliner Renaissance-Theater in letzter Zeit immer Glück. Neuestes Beispiel ist die Berliner Premiere der Komödie „Hinter der Fassade“ vom französischen Literaten Florian Zeller, einer Aufführung, die im Hamburger St.-Pauli-Theater am 5. Dezember des Vorjahres erstmals zu sehen gewesen war. Vom selben Autor stammt „Der Vater“, schon zuvor mit Erfolg auf der Charlottenburger Bühne gezeigt. Überdies ist in der deutschen Erstaufführung von Zellers  2015 veröffentlichtem Stück  jetzt mit Herbert Knaup einer der bekanntesten deutschen Fernsehdarsteller live zu erleben.
 
In Florian Zellers Stück „Hinter der Fassade“ (Originaltitel „L’envers du décor“) wird „laut gedacht“ - ein ebenso einfacher wie frappierend wirksamer Trick, den er bei seinem Landsmann Pierre de Marivaux studiert haben dürfte. Auf diese Weise werden die kleinen Alltagslügen pausenlos und zum großen Vergnügen des Publikums entlarvt. Wer sich fragt, ob dieser Kniff denn einen ganzen Theaterabend trägt, kann sich hier vom amüsanten Funktionieren der Methode überzeugen.

Daniel (Herbert Knaup), Verlagslektor und ein Weichei mit Macho-Fassade, versucht seiner Frau Isabelle (Cristin König) beizubringen, dass er sich hat breitschlagen lassen, seinen Freund Patrick (Stephan Schad) samt dessen neuer Freundin Emma (Sinja Dieks) zum Essen einzuladen. Daniel erwartet, dass seine Frau dies als eklatante Taktlosigkeit ablehnen wird, da sie mit Patricks bisheriger Frau Laurence eng befreundet war. Sofort setzen die zur Seite gesprochenen Kommentare ein, die das jeweils eben Gesagte konterkarieren und als scheinheilige Taktik entlarven. Beim Publikum findet diese Doppelgleisigkeit  sofort großes und mit Applaus bedachtes Verständnis. Zur Überraschung von Daniel schlägt Isabelle aber selbst vor, das neue Paar gleich am nächsten Samstag einzuladen, und sie hat damit den Gang der Handlung wieder im Griff. Es kommt, wie es kommen muss: Patrick stellt die neue Flamme vor, und Daniel empfängt von der jungen Blondine sofort erotische Impulse. Isabelle ihrerseits lehnt sie anfangs erwartungsgemäß ab, entwickelt aber später im Gespräch ein gewisses Verständnis. Stattdessen entwickelt Daniel schrittweise eine Abneigung gegen seinen langjährigen Freund Patrick und seine Emma. Am Ende kann Isabelle augenzwinkernd verkünden, dass sie als Siegerin aus dem ganzen Geplänkel hervorgegangen ist.

Die Inszenierung von Ulrich Waller läuft flott und ohne Brüche. Das geschickt konstruierte Zweizimmer-Bühnenbild von Raimund Bauer ist dabei eine gute Unterstützung. Natürlich hat Herbert Knaup als Daniel die dankbarste Rolle, die er mit Geschick und Temperament gestaltet, wobei ihm die manchmal im Maschinengewehrtempo hervorgestoßenen Seitenhiebe besonders treffend gelingen. Cristin König entwickelt mehr den intellektuellen Charme einer Lehrerin. Stephan Schad bringt die überwältigende Lust an Emma sehr überzeugend zum Ausdruck, und Sinja Dieks ist in Bestform dieses Paradebeispiel von verführerischer Jugendlichkeit mit Kaninchenjacke und einem Kleid aus durchbrochenem Stoff, der viel Durchblick erlaubt.

Das Publikum ist während des ganzen Stückes quasi der Komplize der Akteure und zeigt größtes Verständnis für die taktischen Winkelzüge. Gutgelaunter, reichlicher Beifall für das gesamte Ensemble.

110817
Mit Erfolg gefördert
Kammerkonzert der Hindemith-Gesellschaft
im Joseph-Joachim- Konzertsaal der UdK Berlin

Spenden, die sich nicht irgendwo verlaufen, sondern ausgesuchten Talenten unmittelbar zugute kommen: dafür steht seit 1966 die Berliner Paul-Hindemith-Gesellschaft e.V., die sich als „Verein zur Förderung von Musik und Schauspiel an der Universität der Künste Berlin“ bezeichnet. Eines ihrer Instrumente zur Spendengewinnung sind Konzerte, bei denen die geförderten Stipendiaten gemeinsam mit Kammermusikpartnern auftreten und das Publikum am Schluß einen Obolus nach eigenem Ermessen entrichtet.

Das jüngste dieser Konzerte fand Anfang November 2017 im Joseph-Joachim-Konzertsaal der UdK an der Bundesallee in Berlin statt. Gemeinsam mit ihrer Beirats-Kollegin Renate Keil begrüßt Hindemith-Vorstandsbeirätin Jutta von Haase das Publikum, das den Saal bis auf den letzten Platz füllt. Programmatische Klammer für diesen Abend, so ist dabei zu erfahren, soll die Zweierbeziehung sein: Zwei Celli, zwei Flöten und zwei Sopranstimmen liefern dafür den Beleg.

Der Abend beginnt mit barocken Klängen vom französischen Komponisten Jean Baptiste Barièrre. Seine Sonate G- Dur für zwei Violoncelli aus dem Jahre 1740, die vierte von sechs derartigen Kompositionen aus dem 4. Buch, setzt mit einem Andante ein, dem ein sehr harmonisch gestaltetes Adagio folgt. Die beiden Cellistinnen Yejin Ahn und Norika Yamaguchi haben auf diese Weise ausführliche Gelegenheit, sich in schön abgestimmtem Duett auf das abschliessende Allegro prestissimo vorzubereiten, das sie sehr virtuos und mit fein intoniertem rhythmischen Drive exekutieren.


Zwei Soprane sind als nächste an der Reihe. Stelina Apostolopoulou trägt zuerst zwei Lieder der 1952 geborenen finnischen Komponistin Kaija Saariaho aus dem Jahre 2007 vor, für die der 1926 verstorbene finnische Dichter Eino Leino den Text geliefert hat. Die beiden Kompositionen „Abendgebet“ und „Friede“ entstammen einer ähnlichen, sanften und nachdenklichen Grundstimmung. Flirrender Klang und  zarte Intonation sind die angemessene Ausdrucksform dafür.  Die Sängerin setzt ihren sensibel geführten, hellen Sopran mit schönem Klangsinn ein und gibt den Stimmungsbildern sinnliche Farbe.

Das folgende Duett, von den beiden Sopranistinnen Stelina Apostolopoulou und Mengqi Zang und von Burak Çebi am Flügel begleitet, stammt von Georg Friedrich Händel und hat die Nummer 189 im Hoboken-Verzeichnis. Es ist ein sehr reizvolles Duett, in dem die beiden Soprane wechselseitig glänzen können und sich hervorragend und rhythmisch präzise ergänzen. Wie schon beim vorigen Solo ist der Pianist Burak Çebi ein souveräner und aufmerksamer Begleiter, der den beiden Solistinnen ein sicheres Geleit gibt. Viel Applaus und Rosen zum Dank.

Ein Instrumentalduo der besonderen Art ist die Sonate für zwei Violoncelli vom Komponisten Boris Blacher, der von 1903 bis 1975 lebte und unter anderem auch an der Spitze der Berliner Hochschule für Musik gestanden hat. Ein ungewohnter Tempoverlauf: die Sonate beginnt lebhaft und zügig, um sich zum Schluss im Ausklang Andante zu verabschieden. Wieder sind die beiden Cellistinnen Norika Yamaguchi und Yejin Ahn auf der Bühne, und sie führen mit ihren Instrumenten einen überaus farbigen, nicht nur auf Konsens gestimmten Dialog, der sie durch recht verschiedene Harmoniefelder führt - mit Bogenstrich und Pizzikato. Beide absolvieren die anspruchsvollen Passagen kunstfertig und mit Hingabe. Die zart intonierten Takte des Schlusssatzes entfalten einen besonderen Zauber bei intensiver Klangfarbe. Viel Applaus und Dankes-Rosen aus der Hand von Jutta von Haase belohnen den Auftritt.

Zwei schon sehr erfolgreiche Pianisten der jüngeren Generation übernehmen den nächsten Programmbeitrag: Marcel Mok und Aurelius Braun, beide Schüler von UdK-Professor Klaus Hellwig, interpretieren Seite an Seite die Fantasie f-moll D940 von Franz Schubert. Eine erzählende Ouvertüre als Einstieg, von beiden in gut gewähltem stilistischen Einklang vorgetragen. Markante Akkordeinsätze folgen, in vierhändig kraftvollem Klang   ausgeführt, die mit wieder leiserer Schrittfolge abwechseln. Das Ganze hat Liedcharakter, wie so oft bei Schubert. Dann ein Mittelteil mit härter gefügten Akkordfolgen, beide in glänzendem Einklang, dem sich ein zart verzierter Erzählteil anschliesst, eine Bewährungsstrecke für das Feingefühl der beiden Pianisten. Dann zum Ausklang eine Folge sprungkräftiger Deskriptionen, flott intoniert  und nach Fugenart verschränkt. Noch einmal die Rückkehr zum zarten, dialogisch ausgeführten Erzählstil, dann eine dramatisch gesteigerte  Finalpassage mit nachdenklichem Ausklang. Eine ebenso brillante wie farbenreiche Interpretation, die  vom Publikum mit lebhaftem Beifall belohnt wird. Rosen gibts zusätzlich.

Nach der Pause  dann zwei Flöten mit Pianobegleitung : Die Rigoletto- Fantasie der Brüder Franz und Karl Doppler, ihr Opus 38 aus dem Jahre 1878, ausgeführt von den beiden Flötistinnen Xiangchen Ji und Sohee Kim, begleitet von der sehr versierten Pianistin Daria Goremykina. Das Klavier eröffnet mit ein paar entschiedenen Schritten. Dann intonieren die beiden Flöten unisono ein erstes Thema, in reizvoller klanglicher Ergänzung, die insbesondere in virtuosen Glissandi eine überraschende Klangfülle entfaltet. Nacheinander werden auch andere Themen aus der Verdi- Oper zitiert, mit jeweils hohem Wiedererkennungs-Bonus. Die beiden Solistinnen erreichen dabei einen besonders eindrucksvollen Gipfel instrumentaler Zweisamkeit, vom Piano respektvoll flankiert. Die Arie „Teurer Name“ gibts als Walzer mit hübscher  Synkopierung. Nach dem schwungvollen Ausklang lebhafter Applaus für alle drei Instrumentalistinnen und natürlich die obligaten Dankesrosen.


Höhepunkt und Abschluss des Abends: César Francks zu Recht sehr berühmte Violinsonate A-Dur aus dem Jahre 1886, hier in einer kurze Zeit später entstandenen Version für Cello und Piano von Jules Desart, noch von Franck autorisiert. Emilia Viktoria Lomakova übernimmt den Cellopart, und der angenehm zurückhaltende, technisch überaus versierte Eran Sulkin ist ihr Klavierpartner - hier wäre die Bezeichnung „Begleiter“ einfach zu wenig. Allegretto ben moderato: Das Klavier setzt  mit einem in seiner  Harmonik typischen César Franck-Thema ein, das   Cello folgt mit einer ersten sanglichen Kommentierung. Grundstimmung optimistisch mit einem eingewebten melancholischen Faden. Eran Sulkin am Klavier trifft diesen Zwischenton sehr genau und gibt dem Cello den passenden Hintergrund. Lebhafter wird’s im folgenden Allegro, das in Kaskaden herabstürzt. Im sanfteren Mittelteil zeigt sich, dass die Melodieführung sich für die Ausdrucksskala des Cellos sehr gut eignet und kräftige Farbakzente ermöglicht.
Darauf wieder ben moderato: eine behutsam suchende Variante des Eingangsthemas, dann das entschlossene Rezitativ: beide Solisten sind absolut einig im Vortragsstil -trotz geöffnetem Schalldeckel drängt sich das Piano nicht vor. Das Eingangsthema ist wieder da, jetzt in der fiebrigen Intensität des Cellos. Anmutig plaudernd dann der Einstieg ins Finale, das beide Solisten noch einmal zu grandioser Form führen.

Kräftiger und dankbarer Applaus nebst den Dankeschön-Rosen zum Abschluss eines Konzerts mit eigenem Charme und überzeugenden Leistungsbeweisen junger Solisten.






101517
Smile
Premiere „Ein gewisser Charles Spencer Chaplin“
im Schloßpark-Theater Berlin


Er war unvergleichlich, eine Ikone des Stummfilms, schließlich auch im Tonfilm erfolgreich. Er kam aus einfachsten Verhältnissen, wurde zum Liebling des Publikums und erhielt am Ende zahllose Ehrungen, darunter 1975 den Ritterschlag von der Hand der britischen Königin Elisabeth II. Er wollte einfach nur ein liberaler Weltbürger sein und polarisierte gleichwohl auch auf der politischen Ebene wie wenige vor ihm. Der französische Schriftsteller Daniel Colas hat aus den Lebensdaten dieses Künstlers eine Szenenfolge für die Bühne zusammengestellt, die vom Hausherrn des Schloßpark-Theaters Dieter Hallervorden ins Deutsche übertragen wurde. Dieses Stück „Ein gewisser Charles Spencer Chaplin“ hatte dort jetzt seine deutschsprachige Erstaufführung.

Die Bühne des Schloßpark-Theaters hat keine große Tiefe, aber dafür eine gut funktionierende Drehbühne, die in der Inszenierung von Rüdiger Wandel diesmal zum Dreh- und Angelpunkt der Szene wird. Das Bühnenbild von Jan A. Schroeder suggeriert auf engstem Raum wechselnde Spielorte, deren genaue Bezeichnung mit Jahresangabe auf ein Tableau projiziert wird. So lassen sich wichtige Ereignisse und Phasen aus Charlie Chaplins beispiellosem Weg zum Welterfolg einleuchtend aneinanderreihen.

Anfangs war er ein Niemand. 1889 kam er nach eigenem Bekunden als Kind zweier Varietékünstler in London zur Welt und stand schon in jungen Jahren wie auch sein Halbbruder Sidney in MusicHall-Shows auf der Bühne. Der Impresario Fred Karno bot ihm die Chance einer Amerikatournee, die sehr erfolgreich war und Chaplin den ersten Kontakt zum Filmstudio von Mack Sennet einbrachte. Über die Jahre wuchs die Publikumsresonanz ebenso wie die Honorareinnahmen, und die Erfindung der Figur des „Tramp“ mit abgewetztem Anzug, schäbigen Schuhen und einer Melone auf dem Kopf ebnete ihm den Weg in die Herzen der Kinogänger. Die Drehbücher seiner Filme mischen Kalkül und Gefühl auf instinktsichere Weise. Schliesslich bringt er es zu eigenen Filmstudios in Los Angeles. Meisterwerke wie „Lichter der Großstadt“, „Moderne Zeiten“ und „Der große Diktator“ entstehen.  Aber sein politisches Image bringt ihn in Konflikt mit den puristischen Intentionen der McCarthy-Ära. 1952 wird ihm die Wiedereinreise in die USA verweigert, und er siedelt nach Corsier-sur-Vevey am Genfer See in der Schweiz über. Bei der Verleihung des Ehren-Oscars 1972 spendet ihm das Publikum zwölfminütigen Applaus - ein beispielloses Ereignis in der Geschichte dieser Trophäe. Chaplin starb mit 88 Jahren 1977.

Es ist gewiss nicht ganz einfach, aus der Fülle der Ereignisse im Leben dieses Kult-Künstlers diejenigen Momente herauszupicken, die eine plausible Kontinuität vermitteln und auch etwas vom Charakter des Menschen Charlie Chaplin vermitteln. Das geschickte Bühnenbild auf der Drehbühne ermöglicht mit Unterstützung flinker Helfer rasche Szenenwechsel, wobei Musik vom Band aus der Swing-Ära ein passendes Zeit-Feeling vermittelt. Während die Handlung anfangs etwas spröde einsetzt, entwickelt sie sich im weiteren Verlauf zunehmend flüssig und endet mit einem szenischen Geniestreich, der alle Elemente noch einmal zusammenfasst.

Die Hauptlast der Wiedererweckung des Charlie-Mythos hat Wolfgang Bahro in der Titelrolle zu tragen, und er löst seine Aufgabe bravourös. Er schafft das vor allem dadurch, dass er sich nicht auf die Momente der Charlie-Imitation allein verlässt, sondern eben auch den Menschen Charles Spencer Chaplin vor den Augen der Zuschauer aufleben lässt. Gleichwohl gelingt ihm der Nonsens-Song aus „Moderne Zeiten“ ganz besonders glücklich, weil er hier auch noch Charlies Stimme erstmals erklingen lassen kann, die dem Publikum bis dahin im Stummfilm verborgen geblieben war.

Eine herausgehobene Stellung im Leben des Vielbewunderten hatten die Frauen. Judith Wegner verkörpert unter anderem Paulette Goddard, die Chaplin 1936 heimlich geheiratet hatte. 1942 wurde diese Ehe wieder geschieden. Dann lernte Chaplin seine spätere Frau Oona O’Neill kennen, die Tochter des renommierten Dramatikers Eugene O’Neill, hier dargestellt von Elinor Eidt. Charlies Mutter Hannah Hill, genannt Lilly Harley, wird mit Hingabe und unter viel Applaus von Brigitte Grothum verkörpert. Chaplins Bruder Sydney, sein kaufmännischer Geschäftsführer, ist Karsten Kramer. Jörg Westphal übernimmt die Rolle von Al Reeves, dem Leiter der Chaplin-Studios. Besonders einprägsam agiert Oliver Nitsche als FBI-Chef J. Edgar Hoover, der in Chaplin einen verkappten Kommunistenfreund und getarnten Juden meint bekämpfen zu müssen. In mehreren Rollen von Jack bis zum Schiffskapitän ist Herbert Schöberl zu sehen, und als Ballett-Tänzerin bringt Viktoria Feldhaus pantomimische Atmosphäre auf die Bühne.

Das Publikum feiert die ausführliche Chaplin-Revue mit viel Applaus, und das gesamte Ensemble wird zum Dank mit Blumensträußen bedacht.

101117
Ein äusserst amüsanter Abend
„Mord auf Schloß Haversham“
im Renaissance-Theater Berlin

Nüchtern betrachtet ist die Idee ja nicht ganz neu, eine x-beliebige, eigentlich für Profi-Schauspieler gedachte Handlung von Laien exekutieren zu lassen, die dann mit schlafwandlerischer Sicherheit von Panne zu Panne taumeln. Im Bühnenstück von Henry Lewis, Jonathan Sayer und Henry Shields mit dem Originaltitel „The Play That Goes Wrong“ (uraufgeführt 2012 in London) bekommt dieser Handlungskern allerdings eine raffinierte zweite Ebene, denn die Akteure spielen nur Laien, sind aber in Wahrheit ausgepichte Profis, bei denen jeder Gag vielmals geprobt ist und jede scheinbar zufällige Wendung zielbewusst und präzise herbeigeführt wird. Was da jetzt auf der eigentlich kleinen Bühne des Renaissance-Theaters zu sehen ist, steigert sich zu einem äusserst amüsanten Abend.

Zur Abwechslung ist hier einmal an erster Stelle das Bühnenbild zu rühmen, das von einer ganzen Schar technischer Helfer im Hintergrund zum Funktionieren gebracht wird. Angeblich aus Elementen des Fundus von 1957 zusammengesetzt, bietet es Spielorte in zwei Stockwerken und kann sogar mit einem veritablen Fahrstuhl aufwarten, der unter Donner und Qualm seinen Dienst versieht. Da gibt es einen Kaminaufsatz, der einfach nicht an seinem Platz haften will und später durch helfende Hände ersetzt wird, und es gibt Wandbilder, die unvermittelt herunterfallen, später aber nach längerem Festhalten wieder in der alten Position an der Wand haften. Im Laufe des Abend stürzen Teile des Bühnenbildes in wohlkalkulierten Phasen herunter, und was für Augenblicke katastrophal wirkt, erweist sich als wohldisponierter Effekt.

In der Übersetzung von Martin Riemann ist die fiktive Evangelische Ernst-Reuter-Platz Gemeinde Theatergruppe (EERPGT) Träger der Handlung. Folgerichtig tritt Klaus Christian Schreiber als Pfarrer Christian T. Schleifer in den schlecht ausgerichteten Scheinwerferkegel vor dem Vorhang und hält in herrlich salbungsvollem Ton eine Begrüßungsansprache, ehe er sich wenig später in den Inspektor Carter verwandelt.

Wenn sich der Vorhang öffnet, liegt Charles Haversham (Regisseur Guntbert Warns) scheinbar leblos auf einem samtroten Sofa, und vom weiteren Gang der Handlung soll hier garnichts verraten werden. Es genügt der Hinweis, dass es zwei Damen mit feuerroter Perücke gibt ( Anna Thalbach und Anna Carlsson), die sich mit wechselndem Glück um liebevolle Kontakte bemühen. Boris Aljinović ist in einem hochmodischen Knickerbocker-Ensemble und herrlich trockenem Humor Thomas Colleymore, der Bruder von Perückenträgerin Florence Colleymore. Thomas Schendel ist der fabelhafte Perkins, hingebungsvoller Butler auf Schloß Haversham. Cecil Haversham, den Bruder von Charles, spielt Martin Schneider, der später auch der Gärtner ist (übrigens nicht der Mörder). Als Trevor Bohnenkamp, der Licht- und Tontechniker der Gruppe, agiert Guido Föhrweisser, der in der Vorbereitung auch für das Fechttraining sorgte.


Den ganzen Abend über ist des Vergnügens kein Ende, weil auch die allesamt fabelhaften Akteure buchstäblich über sich hinauswachsen. Ganz zu Recht tritt aber am Schluss zuerst die Riege der Bühnentechniker an die Rampe, der es zu danken ist, dass die optischen und akustischen Überraschungen Knall und Fall aufeinanderfolgen und jede neue Panne ein genau eingesetzter Gag ist. Das begeisterte Publikum feiert das gesamte Ensemble mit rhythmischem Applaus. Von irgendwelchen Unpäßlichkeiten im Laufe der Vorstellung wird lediglich über gelegentliche Lachkrämpfe berichtet.

100917
Erfolg mit Traumbildern
Uraufführung von Aribert Reimanns „L’Invisible“
in der Deutschen Oper Berlin

Maurice Maeterlinck war Belgier, schrieb als bedeutender Vertreter des Symbolismus in französischer Sprache beispielsweise das von Debussy vertonte Drama „Pelléas et Mélisande“ und bekam 1911 den Literatur-Nobelpreis. Aribert Reimann verknüpfte die drei Maeterlinck-Texte „L’intruse“, „Intérieur“ und „La mort de Tintagiles“ unter dem Titel „L’invisible“ zu einem von ihm vertonten Libretto mit der Bezeichnung „Trilogie lyrique“. Die Atmosphäre der drei Szenarien ist von Traumsequenzen, von Todesnähe und von rätselhaften Erscheinungen geprägt. Mehr als die vordergründige Handlung zählen häufig Empfindungen und Ahnungen.

Die Handlung setzt ein mit „L’intruse“ (Der Eindringling). Eine Familie sitzt zusammen bei Tisch. Die Mutter hat kürzlich ein Kind bekommen, aber es war eine schwere Geburt, und das Neugeborene hat bisher noch kein Lebenszeichen erkennen lassen. Stattdessen ist die Mutter noch immer bettlägerig und dem Tode nahe. Der blinde Großvater spürt die Ankunft eines unheimlichen Fremden, den die anderen einschliesslich der Dienerin (Ronnita Miller)  aber nicht wahrnehmen. Das Neugeborene läßt sich mit einem Schrei vernehmen, und im selben Moment stirbt die Mutter.

Nahtlos schliesst sich die zweite Episode mit dem Titel „Intérieur“ an. Der Alte und der Fremde beobachten durch das Fenster eine Familie. Der Fremde hat im Fluss die Leiche einer der Töchter gefunden, die sich vermutlich das Leben genommen hat. Die beiden Männer zögern, der Familie die Todesnachricht zu überbringen. Marie, eine Enkelin des Alten, kommt hinzu und berichtet, dass die Dorfbewohner sich bereits mit der Toten dem Haus nähern. Ihre Schwester Marthe drängt den Alten, ins Haus zu gehen und die Familie zu informieren. Schliesslich überbringt der Alte die Todesnachricht, und die anderen beobachten ihn dabei durch das Fenster.

Der dritte Teil der Trilogie ist „La mort de Tintagiles“ (Der Tod des Tintagiles) überschrieben und handelt, kurzgefasst, von den Möglichkeiten, sich eines unliebsamen Thronprätendenten schon im Kindesalter zu entledigen. Keiner hat die Königin bisher gesehen, die vermutlich auch dem jungen Tintagiles nach dem Leben trachtet. Seine Schwestern Ygraine und Bellangère wollen ihn zusammen mit dem alten Vertrauten Aglovale vor Attacken schützen. Bellangère hat drei Dienerinnen der Königin belauscht, die eine Entführung Tintagiles planen. Einmal gelingt die Abwehr dieses Zugriffs, aber beim zweiten Mal sind sie erfolgreich, und der Knabe kommt zu Tode.

Aribert Reimanns Musik umgibt diese Szenen vom Wirken unsichtbarer Einflüsse mit illustrativem Klang, dessen dramatische Akzente Chefdirigent Donald Runnicles seinem Orchester durch klare, intensive Zeichengabe weitergibt. Mal sind es die markant eingesetzten Streichergruppen, die der Handlung begleitende Impulse geben, mal treten in der dritten Episode massiv gesetzte Blechbläser hinzu. Insgesamt unterstreicht die Instrumentierung den geheimnisvollen, von unheimlichen Effekten gekennzeichneten Charakter der Bühnenhandlung.

Die Inszenierung von Vasily Barkhatov ist konzeptionell intelligent und technisch absolut überzeugend. Besonders das Nebeneinander von realen Personen und projizierten Schattengestalten, die das Handlungsbild erweitern, erscheint als wirkungsvoll und angemessen. Die Bühne von Zinovy Margolin läßt sich ohne übertriebenen Aufwand den unterschiedlichen Handlungsräumen anpassen.

Diese Oper kommt einmal ohne Chor aus, aber desto bedeutungsvoller ist die Rolle der Gesangssolisten. Allen voran ist Rachel Hamisch zu rühmen, deren warmer, in großen Gesangsbögen geführter Sopran den Gestalten von Ursula, Marie und Ygraine Kontur und Farbe gibt. Annika Schlichts kraftvoller Mezzo interpretiert mit lebhafter Intensität die Rollen von Marthe und Bellangère. In der Familienrunde der ersten Szene ist Seth Carico der Vater, Stephen Brock gestaltet den seherischen blinden Großvater und später den Alten und den Vertrauten Aglovale, Thomas Blondelle ist sowohl der behende Onkel wie der zaghafte Fremde im zweiten Teil, und der Junge Salvador Macedo schlüpft mit klar artikuliertem französischen Sprechtext in die Rolle von Tintagiles. Die drei Countertenöre Tim Severloh, Matthew Shaw und Martin Wölfel sind in fantastischen Kostümen (Olga Shaishmelashvili) die Dienerinnen der unsichtbaren Königin.

Das Publikum spendet begeisterten Applaus, der ohne den geringsten Schatten eines Mißfallens auch dem Regieteam und dem Komponisten Aribert Reimann gilt.



100717
Blut statt Kreide
Brechts „Der kaukasische Kreidekreis“
im Berliner Ensemble

Er ist ein vergleichsweise später Brecht, dieser „Kaukasische Kreidekreis“, ein Vorspiel und fünf Akte, entstanden 1944/45 im amerikanischen Exil des Autors, 1948 in Northfield/Minnesota auf englisch uraufgeführt und erst 1954 am heutigen Spielort, dem Berliner Theater am Schiffbauerdamm, erstmals auf deutsch gezeigt - mit Helene Weigel in der Rolle der Magd Grusche.  Das  Stück ist ein reifes Beispiel für Brechts episches Verstandestheater, das die Illusion durch Verfremdungseffekte stört und stattdessen lehrhafte Nutzanwendungen anbietet.

Dem Regisseur Michael Thalheimer steht der Sinn nicht nach einem trockenen Lehrstück mit solchen dezent dialektischen Nutzanwendungen. Er setzt mehr aufs derb Vordergründige, lässt das Spiel einleiten und begleiten durch grob-grelle E-Gitarrenriffs, animiert die Akteure zu betont vernehmlicher Artikulation und macht schließlich aus dem im Urtext allenfalls  sanft karikierten Dorfrichter Azdak eine hemmungslos dilettierende, von Kunstblut übergossene Klamaukfigur.

Was aber nicht heissen soll, dass der Abend nicht doch eine ganze Reihe bemerkenswerter schauspielerischer Leistungen zu bieten hätte. Allen voran die naiv mütterliche Magd Grusche (Stefanie Reinsperger),  die mit ihrem natürlichen Mitleidsempfinden zwischen die Fronten gesellschaftlicher Fixierungen und festgefügter Rollenbilder gerät. Klar umrissen und in seiner Haltung stets verständlich: Nico Holonics als Grusches Verlobter Simon Chachawa. Er zieht in den Krieg und findet bei seiner Rückkehr die Verlobte Grusche entgegen der Absprache mit einem Kind vor. Ihrem Verlobten sagt sie, das sei nicht ihr Kind, aber als der Verlust des Kindes droht, erklärt sie es zu ihrem eigenen, weil sie es aufgezogen und versorgt habe. Dabei ist der kleine Michel eigentlich der Sohn des bei Unruhen umgekommenen grusinischen Gouverneurs und seiner Frau Natella Abaschwili (Sina Martens), die sich aber als verwöhnte Oberklassen-Vertreterin lediglich für schöne Kleider und ihre häufige Migräne interessiert.

Beide Frauen finden sich vor dem Richterstuhl des Intuitiv-Richters Azdak (Tilo Nest) wieder, der eher per Zufall zu diesem Amt gekommen ist und nach ausführlicher Selbstdarstellung nun entscheiden soll, welcher von beiden das Kind zugesprochen wird. Sein Urteilsspruch ist höchst unkonventionell: jede der beiden Frauen soll versuchen, das Kind zu sich herüberzuziehen. Ein Kreidekreis wird für diese Prozedur nicht gezogen. Stattdessen waten die beiden Konkurrentinnen durch das schwappende Kunstblut zum Richter, wo der Azdak eine flüchtige Kreislinie gezogen hat. Zweimal lässt Grusche sich dabei den Wickel mit dem Kind entgleiten, und eben deswegen wird ihr das Kind am Ende vom Azdak überraschend zugesprochen. Anschliessend sucht der Dorfrichter das Weite, wird nimmer gesehen und lebt nur im Volke als Legende fort.  Von der einstigen Moral, die  Brecht mit dem Richterspruch verband, bleibt hier nichts übrig.

Die Rolle des kommentierenden Sänger-Erzählers übernimmt (mit zeitweiliger Mikrofonverstärkung) der verdienstvolle Ingo Hülsmann. Ein Panzerreiter mit argwöhnischen Feststellungen ist Carina Zichner. In der Rolle des nahezu sterbenden, dann überraschend wiederbelebten Aushilfs-Gatten der Grusche glänzt Veit Schubert, und den beredten Bruder der Grusche spielt Sascha Nathan. Als kauzige Schwiegermutter steuert Peter Luppa ein paar komödiantische Akzente bei.

Das Publikum spendet anerkennenden Applaus. In dessen Verlauf mischen sich dann ein paar zaghafte Buhrufe (aus dem Parkett!), die andeuten, dass diese Sicht auf Brecht wohl doch nicht jedermann zusagt.




100217
Katharine ist Judy
Wiederaufnahme von „End of the Rainbow“
im Schloßpark-Theater Berlin


Dieses Stück von Peter Quilter, 2005 in Sydney uraufgeführt, vielfach preisgekrönt und 2012 erstmals im Schloßpark-Theater Berlin zu sehen, kommt nun als Wiederaufnahme dort erneut auf die Bühne. Sein Gegenstand sind die letzten Lebensmonate der amerikanischen Schauspielerin und Sängerin Judy Garland, die 1969 im Alter von nur 47 Jahren in London starb. So geschickt das Stück gebaut und geschrieben ist, es steht und fällt mit der Besetzung der Titelrolle. Katharine Mehrling verkörpert in unübertrefflicher Weise den Film- und Bühnenstar Judy Garland, und wie sie das macht, ist ebenso faszinierend wie mitreissend. Sie kann nicht nur die Wesenslage und quälende Lebenssituation des einstigen Hollywoodstars Judy Garland überzeugend vermitteln, sondern vor allem nicht weniger als 15 ihrer wirkungsvollsten Songs mit präziser Ergänzung durch eine exzellente Begleitband so hinreissend mit dem richtigen Jazzfeeling über die Rampe bringen, dass ein Teil des Publikums diese Vorstellung als Kult empfindet und sie zu wiederholten Malen besucht.

Als einer der Stars der Produktionsgesellschaft MGM war Judy Garland in den dreißiger und vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts zu großem Ruhm aufgestiegen.  Allerdings war sie dem seelischen Druck der Studioarbeit auf Dauer nicht gewachsen und litt unter Depressionen, Angstgefühlen und Wutausbrüchen, die sie mit Tabletten und Alkoholexzessen zu bekämpfen suchte.  Sie war fünfmal verheiratet, darunter auch mit Vincente Minelli. Die gemeinsame Tochter Liza Minelli wurde 1946 geboren. Ihren letzten Ehemann Mickey Deans heiratete sie 1969 in London, wo sie die meisten ihrer späten Lebensjahre zubrachte.

Die Berliner Inszenierung von Folke Braband verbindet die Bühnenhandlung aus Judy Garlands Privatleben geschickt mit wirkungsvollen Songszenen. Eine perfekte Unterstützung ist dabei die fabelhafte Showband mit Gitarren, E-Piano und Posaune, Bass und Saxophon, Flöte, Trompete und Schlagzeug. Katharine Mehrling, vom Publikum schon mit Auftrittsbeifall begrüßt, ist die beherrschende Figur der Szene. Ihren Verlobten Mickey Deans, der sie zur Sicherung ihrer Auftritte und der lukrativen Einnahmen mit Alkohol und Tabletten füttert, spielt Torben Krämer. Pianist Anthony, der um Judys Gunst mit ihrem Verlobten wetteifert, ist Christoph Schobesberger mit viel Energie und persönlichem Einsatz.

Die bewunderungswürdigen Highlights der Aufführung sind aber die Judy Garland-Songs, in denen Katharine Mehrling mit frappierender Souveränität und in gänzlicher Identifikation mit der Vorbildfigur brilliert. Dazu gehören so bekannte Titel wie „Puttin’ on the Ritz“, „Chicago“, „Dancing in the Dark“ und „Swanee“. Dabei gelingt es ihr, den Vortragsstil der Garland bis in die Stimmführung so genau zu adaptieren, dass man bisweilen das Original zu hören meint.  Den gefühlvollen Schlußpunkt bildet das sehnsüchtige „Somewhere over the Rainbow“, das auch den Stücktitel lieferte.

Das Publikum feiert Katharine Mehrling, die übrigen Akteure und die fetzige Band mit frenetischem Applaus.
 

092317
Paraphrase über ein Leben
Turrinis „Sieben Sekunden Ewigkeit“
im Renaissance-Theater Berlin

Das Berliner Renaissance-Theater hat bei der Spielplangestaltung eine glückliche Hand. So wird die Reihe der erfolgreichen Eigenproduktionen durch gelegentliche Importe aus anderen Theatermetropolen ergänzt, die interessante Einblicke in die dortige Szene ermöglichen. Jetzt wurde vom Wiener „Theater in der Josefstadt“ die Uraufführungsinszenierung  von Peter Turrinis Stück über den Hollywoodstar Hedy Lamarr mit dem Titel „Sieben Sekunden Ewigkeit“ übernommen, die dort im Januar dieses Jahres erstmals zu sehen war.

Turrini gestaltet diese ausführliche Lebensbeichte der einstmals „schönsten Frau der Welt“ nicht als akribische Dokumentation, sondern eher als intelligente, poetische Paraphrase über ein Leben, das an reizvollen Momenten ebenso reich war wie an der  von Whiskydunst geschwängerten resignativen Einsamkeit des Alters. Das Einpersonenstück lebt im wesentlichen von der bemerkenswerten Gestaltungskraft der Schauspielerin Sandra Cervik. Sie kann der Figur Hedy Lamarr nicht nur suggestive Präsenz geben, sondern den Text ihrer Rolle auch anderthalb Stunden lang mit brillanter sprachlicher Artikulation bis in die letzte Reihe verständlich machen.

Die Bühne wird anfangs durch einen Szenenvorhang verdeckt, auf den technische Zeichnungen zur Erläuterung des Frequenzsprungverfahrens projiziert werden, das Hedy Lamarr zusammen mit dem Musiker George Antheil im Jahre 1940 zum USA-Patent für die störungsfreie Steuerung von Torpedos entwickelt hatte und dessen Prinzip noch in den heutigen Smartphones Anwendung findet. Später öffnet sich die Bühne und gibt den Blick frei auf eine Rampe, zu deren Seiten verschiedene Schaufensterpuppen mit Perücken und Kostümen aus Hedy Lamarrs Rollenrepertoire zu sehen sind. Die Rückwand der Bühne wird als Projektionsfläche für Filmausschnitte genutzt. Das Bühnenbild stammt von Miriam Busch, die Regie führt Stephanie Mohr.

Hedy Lamarr hiess eigentlich Hedwig Eva Maria Kiesler und heiratete den reichen Wiener Waffenhändler Fritz Mandl, der das jüdische Mädchen zum katholischen Glauben übertreten liess. 1933 trat sie in dem Film „Ekstase“ mit einer Nacktszene, jenen „sieben Sekunden Ewigkeit“, in Erscheinung und löste einen Skandal aus.  Vor der Herrschsucht ihres Gatten floh sie zunächst nach London, wo sie den Filmregisseur Louis B. Mayer kennenlernte. Der nahm sie für MGM unter Vertrag und gab ihr den Künstlernamen Hedy Lamarr. Viele Filme folgten, in denen sie als „schönste Frau der Welt“ vermarktet wurde, der letzte 1958. Sie war insgesamt sechsmal verheiratet, lebte sexuell freizügig und hatte zahlreiche Affären. Die späten Jahrzehnte bis zu ihrem Tode im Jahre 2000 verbrachte sie zurückgezogen in Altamonte Springs, Florida.

Peter Turrini geht in seinem Stück mit den Details von Lamarrs Leben recht freizügig um. Er lässt sie quasi eine Lebensbeichte gegenüber einem fiktiven Polizisten ablegen, den sie bittet, nach ihrem Tode ihre Asche in der Wiener Höhenstrasse zu verstreuen, wohin sie behauptet mit zwölf Jahren geflohen zu sein, um antijüdischen Pogromen im slawischen Raum zu entgehen. In ihrer Schlußvision empfängt Gott sie an der Pforte des Paradieses und bietet ihr ein Glas Whisky an.

Das Publikum folgt der lebendig vorgetragenen Erzählung gespannt und aufmerksam. Am Ende gibts langanhaltenden Applaus für die geschlossene, überzeugende schauspielerische Leistung von Sandra Cervik.

091417
Lebensgefühl Traurigkeit
Berliner Premiere von „Bonjour Tristesse“
im Renaissance-Theater Berlin

Er war eine literarische Sensation, der Roman „Bonjour Tristesse“, 1954 veröffentlicht von der damals 18jährigen Französin Françoise Sagan, von größter Anziehungskraft für das Lesepublikum. Gewiss nicht nur des Stils und der Story wegen, sondern eben auch wegen der dort geschilderten erotischen Freizügigkeit - eine für die Zeitgenossen noch ungewohnte Milieuskizze von einem ganz neuen Persönlichkeitsbild und Lebensgefühl.  Der Sohn der Autorin hat kürzlich das Hamburger St. Pauli-Theater autorisiert, die von Ulrich Waller erarbeitete Bühnenfassung der Romanvorlage in einer Koproduktion mit den Ruhrfestspielen Recklinghausen herauszubringen. Diese Ur-Aufführung ist nun im Berliner Renaissance-Theater zu sehen.

Auf den spezifischen Reiz der französischen Sprachmelodie muss man in der Übertragung allerdings verzichten. Was von der Romanhandlung übrig bleibt, ist eine längere Folge kurzer Szenen, die jeweils durch Blackout voneinander getrennt sind. Eingangs und am Schluß steht ein Chanson in französischer Sprache, das gleichfalls auf den Begriff der „Tristesse“ Bezug nimmt und von der Schauspielerin der Elsa, Anneke Schwabe, vorgetragen wird. Unterwegs im Spiel setzt ein Instrumentaltrio aus Baritonsaxophon, Querflöte und Schlagzeug behutsam disponierte musikalische Akzente. Das Bühnenbild ist vergleichsweise einfallslos und besteht eigentlich nur aus Gazevorhängen und einer Fototapete. Regisseurin ist Dania Hohmann.

Die Konstruktion der gesamten Handlung ist ebenso einfach wie raffiniert. Schauplatz ist eine Villa an der südfranzösischen Mittelmeerküste. Josephin Busch ist die 17jährige Cécile, die mit ihrem Vater Raymond in einer „fast inzestuösen Vater-Tochter-Beziehung“ lebt, wie Übertrager Ulrich Waller im Programmheft formuliert. Raymond (Uwe Bohm) ist der geborene Frauentyp, und seine oft mit frühreifem Sarkasmus monologisierende Tochter bezeichnet ihn und sich selbst als „Nomaden“. Aus Paris hat Raymond Elsa (Anneke Schwabe) mitgebracht, zu der er sich  hingezogen fühlt, obwohl er solche Beziehungen nach einigen Monaten wieder zu lösen pflegt. Cécile lernt ihrerseits den jungen Cyril (Metin Turan) kennen, der sich später für eine amouröse Intrige bestens einsetzen lässt.

Das Trio aus Cécile, Raymond und Elsa lebt in heiterer Belanglosigkeit vor sich hin, bis sich Anne (Annika Mauer) ansagt, eine frühere Freundin Raymonds aus verflossener Beziehung. Rasch entwickelt sich aus dieser Besuchssituation ein neues Techtelmechtel, das die angestammte Vater-Tochter-Beziehung zu gefährden beginnt. Auf einmal erklären Raymond und Anne, dass sie heiraten wollen, und nun läuten bei Cécile die Alarmglocken. Sie fädelt eine Verschwörung ein, indem sie absichtsvoll Elsa und Cyril miteinander flirten läßt in der berechtigten Erwartung, dass Vater Raymond es nicht ertragen wird, dass ein anderer seine Freundin Elsa besitzt und sich stattdessen ihr wieder zuwendet. Damit wäre die ältere, von Cécile als gouvernantenhafte Bevormunderin erlebte Anne aus dem Spiel, und das bisherige Leben könnte fortgesetzt werden.

Gesagt, getan. Alles geschieht wie geplant. Anne streicht daraufhin empört die Segel und steigt zur Heimfahrt ins Auto. Wenig später erhält Raymond die telefonische Nachricht, dass Anne bei einem Autounfall tödlich verunglückt ist. Die fatale Intrige hat funktioniert, aber an ihrem Ende herrscht Trauer und einer Rückkehr zu einem letztlich als öde empfundenen, allseits gesicherten Leben in gänzlicher, auch sexueller Freiheit steht nichts entgegen.

Im Mittelpunkt des Romans steht die junge Cécile, hinter der man wohl ein frühes Selbstporträt der Autorin Françoise Sagan vermuten darf. Ihre erfrischende, einigermaßen hemmungslose Lebensphilosophie war in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts als beispiellos revolutionär erschienen, und das seinerzeit als „Tristesse“ bezeichnete Grundgefühl ist bis heute in der jüngeren Generation  anzutreffen. Wem in jungen Jahren alle Annehmlichkeiten des Lebens zufallen, ohne darum kämpfen zu müssen, sieht im weiteren Leben bisweilen eine von tiefer Traurigkeit geprägte Sinnlosigkeit.

Viel Beifall vom Publikum der Berliner Premiere für eine Aufführung mit gut ausgewählten, treffend besetzten Schauspielern und eine reizvolle Begegnung mit einem Roman, der vor mehr als einem halben Jahrhundert die öffentliche Moral im katholisch geprägten Frankreich erheblich touchiert hat.


091117
Liebe, Geld  und Vorurteil
„Die Kameliendame“
im Schloßpark-Theater Berlin

Steckt in diesem Romanerfolg des Alexandre Dumas aus dem Paris des Jahres 1848 wirklich mehr als die Kontur eines klassischen Tränenziehers, umweht von der Aura der legendären Sarah Bernhardt, die einst in der Bühnenfassung des Romans Triumphe feierte ? Oder strahlt der ungebrochene Glanz von Verdis „La Traviata“ auf die literarische Quelle zurück ? Einerlei: Es gibt eine Neubearbeitung des Stoffes von Ulrich Hub, die jetzt in der Regie von  Philip Tiedemann am Berliner Schloßparktheater Premiere hatte.

Marguerite Gautier (Anouschka Renzi) ist eine in Paris stadtbekannte Lebedame, die von den Zuwendungen ihrer Liebhaber lebt. Der Begriff „Liebe“ ist für sie eng mit dem Geld verbunden, das sie für ihre Dienste erhält. Um sie herum Arthur de Varville (Fabian Stromberger) und der Modedesigner Gaston Rieux (Oliver Nitsche). Bis Marguerite den jungen Armand Duval (Arne Stephan) kennenlernt, der ihr mit wirklicher, tief empfundener Liebe begegnet und damit zum ersten Mal ähnliche Empfindungen in ihr selbst erweckt. Das Glück der beiden wird lediglich durch die Intervention von Armands Vater Georges Duval (Joachim Bliese) getrübt, der eine solche Verbindung als für seinen Sohn nicht standesgemäß ablehnt und Maguerite zwingt, sich unter dem Vorwand von Armand zu trennen, daß ihre Zuneigung zu ihm nicht echt sei und sie ihn nicht mehr liebe. Diese Wendung ins Tragische wird noch dadurch potenziert, dass Marguerite an Tuberkulose leidet und nicht mehr lange zu leben hat. Erst kurz vor ihrem Tode erkennt Vater Georges sein Fehlurteil und schätzt ihr Bündnis mit seinem Sohn nun ebenso hoch ein wie dieser selbst. In der Sterbestunde sind alle vier Männer in Reue und Bestürzung um ihr Lager versammelt.

Die Inszenierung von Philip Tiedemann auf der durch Gazevorhänge und kluge Lichtregie intelligent genutzten Bühne (Stephan von Wedel) hält die Handlung flüssig in Gang und vermeidet alles nur Weinerliche. Viele Dinge werden nur angedeutet, statt sie in aller Breite auszuwalzen.  Auch ein schwarzer Flügel liefert auf der kleinen Drehbühne in der Mitte der Szene ein paar dramaturgische Akzente.

Anouschka Renzi gibt der Figur der Marguerite anfangs den oberflächlichen Leichtsinn einer Lebedame, auch wenn dabei das mondäne Flair einer stadtbekannten „femme fatale“ etwas auf der Strecke bleibt. Desto besser gelingt ihr die Wandlung zur wahrhaft Liebenden und vor allem der Ausdruck der Qual, diesem Gefühl entsagen zu müssen, der sie mit einem Aufschrei hinter der Szene Ausdruck gibt. Auch ihre Sterbeszene meistert sie bewegend und dezent. Arne Stephan ist der feurige, später enttäuschte junge Liebhaber aus dem Bilderbuch. Sein Rivale Fabian Stromberger kann sich hinreissend aufregen über die schwankende Zuneigung Marguerites, und Oliver Nitsche gibt seiner Rolle mit trefflich sarkastischen Randbemerkungen die richtige Farbe. Joachim Bliese spielt vortrefflich den anfangs hochmütigen, später reumütig zerknirschten Vater Duval.

Viel Beifall vom Premierenpublikum und ein Blumenbukett aus der Hand des Intendanten Dieter Hallervorden für das ganze Ensemble. Das Stück verdient ohne Zweifel die Achtung, die man einem Klassiker entgegenbringt, der in dieser Bearbeitung  sein Existenzrecht auch im Sprechtheater einleuchtend bewiesen hat.


090817
Psychogramm einer Vorahnung
„Der Untertan“ nach Heinrich Mann
in der Vagantenbühne Berlin

Am Vorabend des Ersten Weltkriegs hat Heinrich Mann seinen Roman „Der Untertan“ publiziert. Das Kaiserreich war noch unmittelbar präsent, den Begriff „Nazis“ gab’s noch nicht, und welche fürchterlichen Gaben das Füllhorn der Geschichte für die nächsten Jahre bereithielt, war allenfalls visionären Propheten in Umrissen erkennbar. In dieser Situation hatte Heinrich Manns Roman den unschätzbaren Wert einer kühl analysierenden Prognose. Wolfgang Staudtes Filmversion von 1951 war ein fulminanter Versuch, die Romanversion in eine Folge einprägsamer Bilder zu übersetzen.

Lars Georg Vogel, der sowohl für die Bühnenversion des Romans wie auch für Regie und Ausstattung der Aufführung im kleinen Theater der „Vagantenbühne“ verantwortlich ist, greift entschlossen in die Kiste theatralischer Möglichkeiten und schlägt Kapital aus der unmittelbaren Nachbarschaft zum kaiserlichen Prachtbau des 1896 eröffneten „Theater des Westens“ und läßt dem Publikum vor Beginn der Aufführung Kopfhörer aushändigen, um die ersten Spielszenen im Hof hinter dem Theater gut verfolgen zu können. Hier ist der Antagonismus der Phrasen in einer Art Exposition zu verfolgen: der Kaiser verkündet Pathetisches aus einem höhergelegenen Fenster, Diederich Heßling gibt mit ersten hohltönenden Donnerworten seine politische Visitenkarte ab, und ein rebellischer linksgerichteter junger Arbeiter wird von Schüssen niedergestreckt. Danach wandern die Zuschauer ins hell erleuchtete Foyer vom „Theater des Westens“, hören erstmals von Lohengrin und König Heinrich als Figuren einer „deutschen Kunst“ und bewundern den Glanz der Kristall-Lüster. Sie verlassen diesen Ort zu den eingespielten Klängen des „Badenweiler Marsches“ über die seitliche „Kaisertreppe“ und gelangen erst dann in den Zuschauerraum der „Vagantenbühne“, um der eigentlichen Bühnenhandlung zu folgen. Diese „Hinführung“ im doppelten Wortsinn vermittelt bereits nützliche Impressionen vom zeittypischen Umfeld der Romanhandlung. Mobilität als Prinzip wird auch weiter kultiviert, als der zweite Teil nach der Pause erst auf einem Podest im Foyer startet, bevor die Zuschauer wieder ihre zuvor belegten Plätze im Saal einnehmen dürfen.

Nun schliessen sich Szenen aus dem Leben des Papierfabrikanten Diederich Heßling (Joachim Villegas) an, dessen markige kaisertreue Stärke eigentlich aus seiner Schwäche und Unterwürfigkeit resultiert. Die einzelnen Momentaufnahmen sind der Romanvorlage mit Geschick entnommen und gewinnen dadurch überzeugende Präsenz. Zwei Frauen kreuzen Heßlings Weg, die eher sanft romantische Agnes Göppel (Senita Huskić) und die praktische, dominante Guste Daimchen (Samira Julia Calder). Heßling dient sich empor, beim Militär wie in der kommunalen Hierarchie, wird Stadtverordneter und kann reichliche Aufträge für seine Papierfabrikation ergattern. Ein junger Mann mit Engelsflügeln (Lawrence Jordan) übernimmt die Rolle des Erzählers.

Je mehr der Erfolg Heßling Recht zu geben scheint, desto mehr verfestigt sich seine rechtskonservative Haltung, die Sozialdemokraten, Juden und materiell Schwache gleichermaßen entschieden ablehnt. Jugendfreund Wolfgang Buck (Andreas Klopp) setzt gelegentlich abweichende Akzente. Die Elterngeneration in Gestalt von Agnes’ Vater Göppel und Bucks Vater, einem inzwischen angepaßten Alt-Revolutionär, ist bei Jörg Zuch in besten Händen. Auch das karikaturistische Element findet Eingang in die Szenenfolge: glänzend der Dialog zwischen Heßling und dem einflußreichen Strippenzieher Vater Buck, der seinen eigenen Vorteil mit dem Allgemeinwohl bemäntelt, oder die Verhandlung über Grundstücksfragen: Heßling in der Mitte, links der sich windende Bürgermeister, rechts ein verknöcherter Anwalt. Heßling drischt weiter seine rechtsdrapierten Phrasen und verfällt am Ende in des Führers rhetorische Diktion. Die Zuschauer werden entlassen mit einem sehr bedenkenswerten Satz: „Der würde nicht gelebt haben, der ausschließlich in der Gegenwart lebt.“

Viel Beifall für die gelungene, bis in die Sprache sorgfältig erarbeitete Adaption eines berühmten, zeitkritischen Romans.

082017
Mozart von Currentzis
„La clemenza di Tito“ in einer Aufzeichnung
von den Salzburger Festspielen auf 3Sat

In aller Eile sei diese letzte Oper von Wolfgang Amadeus Mozart entstanden, nachdem Salieri den Auftrag nicht angenommen hatte, ein Werk zu Ehren der Krönung von Kaiser Leopold II. zum König von Böhmen zu schreiben. Noch in der Reisekutsche von Wien nach Prag, gewissermaßen auf den Knien, habe Mozart daran gearbeitet. Uraufführung im September 1791 am Prager Ständetheater. Das Libretto von Pietro Metastasio, vielfach vertont, unter anderem auch von Gluck, hat Caterino Mazzola nach Mozarts Vorgaben bearbeitet. Im 19. Jahrhundert war „Titus“ ähnlich beliebt wie die „Zauberflöte“. Erst in jüngster Zeit findet das Werk wieder verstärkte Aufmerksamkeit. Die Handlung berichtet vom römischen Kaiser Titus, der trotz heimtückischer Intrigen und menschlicher Enttäuschungen mit Großmut und Nachsicht reagiert und den Beschuldigten Verzeihung gewährt.

Vor den großartigen Bogengängen der Salzburger Felsenreitschule präsentiert der Dirigent Teodor Currentzis, inzwischen durch Gesamtaufnahmen von „Le nozze di Figaro“, „Cosi fan tutte“ und „Don Giovanni“ als Mozart-Interpret sui generis ausgewiesen, mit seinem Orchester „Musica Aeterna“ und dem Chor aus Perm im Ural-Vorland einen Mozart-Sound, der wie eine Neugeburt wirkt. Wie hier größte Vitalität und kraftvolles Zupacken mit feinster Klangsensibilität verbunden werden, kann man ohne Übertreibung als singulär bezeichnen. Die unvergleichliche Leistung dieses Ensembles verbindet sich mit der glücklichen Auswahl exzellenter, junger Stimmen, die besonders in den Sopran- und Mezzopartien faszinieren und begeistern.

Currentzis legt gewissermaßen eine Neukonfiguration des „Titus“ vor, indem er die überlieferten Rezitative großenteils fortläßt und andererseits feinfühlig ausgewählte Partien aus der „Maurerischen Trauermusik“ und der Messe c-moll KV427 einfügt, die er für überaus stimmungsvolle Chorszenen nutzt, die das Opernhafte der Handlung betonen und eine überaus stimmige Wirkungsverstärkung erreichen. Der fragende Einwand, ob ein solches Vorgehen legitim sei, verblaßt vor dem großen künstlerischen Ernst und der unglaublichen handwerklichen Perfektion, mit der hier zu Werke gegangen wird.

Die Regie hat Peter Sellars, und ihm gelingen ohne unnötigen Aufwand an Requisiten reihenweise überzeugende Szenen mit anhaltender Faszinationskraft. Eine besondere Hervorhebung verdient der  MusicAeterna-Chor, der aus lauter Sänger-Darstellern besteht, deren ausdrucksvolle, jederzeit hochkonzentrierte Gesichter die lupenreine Klangpräsenz wirkungsvoll unterstützen.

Der Tenor Russell Thomas singt den Tito mit großem Engagement und zunehmenden Stimmvolumen bis zum bitteren Tod am Ende der Oper. Die Soprane von Golda Schultz (Vitellia) und Christina Gansch (Servilia) überzeugen ebenso wie der hinreissende Mezzo von Marianne Crebassa (Sesto) und der kraftvolle Sopran von Jeanine De Bique (Annio).

Am Schluß eines in jeder Hinsicht packenden Opernabends gibt es reichen, hochverdienten Applaus, und als Teodor Currentzis auf die Bühne kommt, scheint sein Gesichtsausdruck noch eine besondere Art von Verklärung zu spiegeln.

072817
Im Lichte der Geschichte
Wagners "Die Meistersinger von Nürnberg“
in einer Aufzeichnung von den Bayreuther Festspielen 2017
auf 3Sat

Da war er wieder, der unvermeidliche Hinweis in der Programmankündigung: es werde „Die Meistersinger von Nürnberg“ gezeigt, ein Werk Richard Wagners, das die Nazis ausdrücklich willkommen geheissen hätten. Als ob nicht offenkundig wäre, dass dieses Werk sowohl die verfehlten Denkschemata in den Schriften Wagners als auch die zum Glück gescheiterte Politik seiner Nachfahren wie Phönix aus der Asche überstanden hat. Ein schweizerischer Dirigent und ein jüdischer Regisseur sind wohl selbst die lebendigen Beweise dafür, dass der künstlerische Gehalt sowohl der Musik wie der Szene die Kraft hat, alle vorangegangenen Vereinnahmungsversuche abzuschütteln und hinter sich zu lassen, ohne die Geschichte zu ignorieren. Aber - reicht das aus ?

Barrie Kosky hat von Anfang an eine beneidenswerte Lockerheit, sich dem vielfach von Geschichte und tausend kleinen Randnotizen belasteten Stoff und Stück zu nähern. Er verquickt mit leichter Hand Überliefertes und Hinzugedachtes zu pseudo-dokumentarischer Dichte, ohne der Szene leichtfertig Gewalt anzutun. Seine Mischung von respektvoller Annäherung und andererseits entschlossenem Verzicht auf jede Art von Weihrauch öffnet das Fenster für eine lebhafte, realistische, auch mal leicht überzeichnete, aber stets fesselnde Darstellungsweise, die von nur routiniertem Opernpomp meilenweit entfernt ist. Wie er im ersten Aufzug die ganze Handlung kurzerhand in Wagners Haus Wahnfried verlegt und historische Figuren wie Wagner selbst, seine Frau Cosima, Franz Liszt und den jüdischen Dirigenten Levy in ein quasi-dokumentarisches Familienleben bei Familie Wagner einführt, wie sich dann Liszt in Veit Pogner verwandelt und aus dem Juden Levy ganz zwanglos der glänzend gespielte Beckmesser wird, die ganze Debatte über Beckmesser als Judenkarikatur souverän aushebelnd, das ist schon höchst anerkennenswert. Aus Wagner selbst wird Hans Sachs - aber auch in anderen Figuren wie David steckt viel von Wagner.

Im zweiten Aufzug wird aus der Guckkastenbühne eine durchaus überzeugende Wiese, auf der sich die ausführlichen Dialoge zwischen Pogner und Evchen, Eva und Sachs, Stolzing und Eva mit dem lauschenden Sachs und dem Nachtwächterhorn im Hintergrund abspielen. Stets sind die Details der Szene sehr sorgfältig einstudiert. Das zeigt sich um so komödiantischer in dem ungleichen Sangesstreit zwischen dem Schuhnägel hämmernden Sachs und dem gequälten Minnesänger Beckmesser, das dann in die prächtige Massenprügelei des Nürnberger Volkes mündet. Und dann steht da als Verknüpfung zur neuzeitlichen Geschichte wieder der mahnende amerikanische Soldat, und eine Karikatur des häßlichen Juden tanzt. Sachs, an den Rand gedrängt, sieht mit Entsetzen, wie sich diese aufrührerische Prügelei entwickelt hat - eine Chiffre für die Raserei der Judenverfolgung.

Zu Beginn des dritten Aufzugs wird dem Publikum mit einem Blick in den Gerichtssaal des Nürnberger Prozesses der Spiegel der Geschichte vorgehalten, und Sachs sitzt vor gedecktem Tisch in diesem Saal. Hier führt Koskys Regie nun entschlossen aus dem Zeitbezug der „Meistersinger“ heraus und lenkt zu den weihevollen Klängen des Vorspiels die Gedanken auf die nach-wagnerische deutsche Geschichte. David kommt herein, und der angestammte Ablauf des dritten Aufzugs nimmt seinen Fortgang, immer mit dem mahnenden Gerichtssaal als Hintergrund, auch bei Sachsens „Wahnmonolog“, der nun wie ein vorausgreifendes Plädoyer im späteren Nürnberger Prozeßverlauf wirkt. Ob ein solcher chirurgischer Eingriff am Körper der „Meistersinger“ legitim und zulässig sei, mag der Kritiker nicht entscheiden. Dass er hier intelligent platziert ist, soll nicht bezweifelt werden.

Musikalisch ist die Aufführung mit Philippe Jordan am Pult eine geschlossene Gesamtleistung, die mit zügigen Tempi und zupackendem Dirigat jede überhöht weihevolle Wirkung zu vermeiden sucht. Die Auswahl der singenden Darsteller verdient höchstes Lob, angefangen mit dem vorzüglichen Sachs (Michael Volle), Veit Pogner (Günther Groissböck), dem überaus spielfreudigen Johannes Martin Kränzle als Beckmesser, Klaus Florian Vogt als Walther von Stolzing mit erfreulich frischer stimmlicher Präsenz und Daniel Behle in der Rolle des Lehrbuben David, dazu Anne Schwanewilms als Wettbewerbspreis Eva und Wiebke Lehmkuhl als ihre Amme.

Diese Inszenierung, die sich nicht um die in der späteren Geschichte so verhängnisvoll wirksamen Anfänge herummogelt, mit dem ewigen Juden in vielfacher Verkörperung, nimmt die „Meistersinger“ streckenweise eher als Gelegenheit für eine Psychoanalyse. Als Beckmesser den Text des Preislieds übernimmt, wird die Ambivalenz dieser Figur noch einmal schonungslos offenbar. Die These: Man kann die „Meistersinger“ nicht mehr aufführen, ohne zuvor ins Geschichtsbuch geschaut zu haben. Das ist eine Zäsur in der Aufführungsgeschichte, und dass sie bei den Bayreuther Festspielen stattfindet, verstärkt die Bedeutung dieses Vorgangs. Eindrucksvoll und überzeugend der versöhnliche Schlußverweis auf die „deutsche Kunst“: gemeint ist Wagners Werk samt Chor und Orchester.

070217
Bruckner mit Vogelstimmen
Brandenburgisches Staatsorchester Frankfurt
beim 54. Choriner Musiksommer

Zu den Freuden des Sommers zählen open-air-Konzerte, und im Berliner Raum haben sich hierfür vor allem zwei Orte als Schwerpunkte herausgebildet: die Berliner Waldbühne am Olympiagelände und die romantische Kirchenruine des Klosters Chorin, wo jetzt zum 54. Mal der „Choriner Musiksommer“ stattfindet, der sich Jahr um Jahr eines lebhaften Besucherinteresses erfreuen kann.

Das Konzert des Brandenburgischen Staatsorchesters Frankfurt unter Leitung seines Chefdirigenten Howard Griffiths lockte ein sehr zahlreiches Publikum in die sorgfältig restaurierte Klosteranlage, die sich wahrhaft lieblich in die Landschaft nahe Eberswalde einfügt. Auch das diesmal etwas unfreundliche Wetter aus verhangenem Regenhimmel hatte den Zustrom der Gäste nicht vermindert.

Zum Auftakt Felix Mendelssohn Bartholdys e-moll-Violinkonzert aus dem Jahre 1844, das heitere Leichtigkeit verbreitet. Solist ist der deutsch-indonesische Geiger Iskandar Widjaja, der in Berlin an der Hochschule „Hanns Eisler“ und an der Universität der Künste studiert hat und heute zu den profiliertesten Instrumentalisten seiner Generation gehört. Sein Vortragsstil gibt sowohl den vitalen wie den nachdenklich-innigen Passagen des Violinparts den angemessenen Ausdruck und setzt die Spitzentöne immer besonders zart an. Howard Griffiths geleitet sein Orchester mit aufmerksamer Zeichengabe durch den Dialog mit der Violine. Für den reichen Beifall dankt Widjaja mit einer perfekt exekutierten Zugabe für Violine solo.

Nach der ausgiebigen Pause, die gemäß der Tradition für den Verzehr der mitgebrachten Picknick-Utensilien genutzt wird, kehrt wieder Ruhe ein. Howard Griffiths hebt den Stab für Anton Bruckners Neunte Sinfonie d-moll WAB 109, uraufgeführt 1903 in Wien. Bruckners unverwechselbare Tonsprache, hier besonders ernst und feierlich geprägt, wird vom Orchester in glücklicher Ausgewogenheit und mit klug gesetzten Instrumentalsoli wiedergegeben. In den brucknertypischen Generalpausen klingen gelegentlich Vogelstimmen durch die unverglasten Fenster herein. Lediglich im Scherzosatz, dem zweiten des mit drei Sätzen unvollendet gebliebenen letzten sinfonischen Werk Bruckners, wirkt sich die Akustik der Konzertkirche etwas nachteilig aus, weil die Streicher gegenüber den sehr kräftigen Bläsern in dem prägnant formulierten Dialog beider Instrumentengruppen etwas blass bleiben. Alle Einwände sind vergessen im dritten und letzten Satz, dessen getragener Duktus in einem Schlußakkord von buchstäblich überirdischer Schönheit gipfelt. Es mag danach eine gefühlte Minute gedauert haben, bis der Beifall einsetzt - mehr nachwirkende Ergriffenheit hätte sich auch ein Herbert von Karajan nicht wünschen können.

061817
Bewegender Bilderbogen
Premiere „Boris Godunow“
an der Deutschen Oper Berlin

Die letzte Premiere der Saison an der Deutschen Oper Berlin entstand in Kooperation mit dem Royal Opera House Covent Garden in London, wo die Aufführung im Vorjahr erstmals zu sehen war. Modest Moussorgskis dramatischer Bilderbogen aus Russlands mittelalterlicher Zeit geht auf ein Drama von Alexander Puschkin zurück und läßt sich auch von einem Geschichtswerk des Nikolai Karamsin inspirieren. Die szenische und musikalische Form hat seit der Moskauer Uraufführung 1869 verschiedene Bearbeitungen erfahren. Die Fassung der Berliner Premiere geht auf den „Ur-Boris“ von 1869 zurück.

Moussorgskis Werk ragt wie ein erratischer Block aus der Opernliteratur hervor und ist  einzigartig sowohl in seiner Darstellungsweise als auch in seiner musikalischen Gestalt. Die Inszenierung von Richard Jones präsentiert nicht vier durch Pausen getrennte Akte, sondern eine Folge von sieben Bildern, die in 135 Minuten ohne Pause über die Bühne gehen.

Nach dem Tode Iwans des Schrecklichen wird der Bojar Boris Godunow zum Zaren gewählt, nachdem er anfangs gezögert hatte, den Königsmantel zu akzeptieren. Das Volk jubelt ihm zu. Dann die Schlüsselszene für die folgende Handlung: Im Kloster schreibt der Mönch Pimen an einer Chronik der russischen Geschichte. In Gegenwart des jungen Novizen Grigorij Otrepjew beschuldigt Pimen den Boris Godunow des Mordes an Zarewitsch DImitrij, dem Sohn Iwans des Schrecklichen. Als Grigorij erfährt, dass der Zarewitsch ihm ähnlich gesehen und gleichaltrig gewesen sei, beschließt er, sich als dieser auszugeben und den Thron zu beanspruchen. Die nächste, eher burleske Szene spielt in einer Schenke nahe der polnisch-litauischen Grenze. Grigorij flieht vor einer Grenzpatrouille. Dann trauert Boris’ Tochter Xenia um ihren verstorbenen Verlobten. Der intrigante Fürst Schuiskij berichtet vom Auftreten eines jungen Mannes in Polen, der behauptet, Zarewitsch Dimitrij zu sein. Boris wird von seinen Schuldgefühlen verfolgt, die sich in der wiederholten Mordszene am Kind Dmitrij abbilden. Vor der Basilius-Kathedrale kommentiert das Volk den Kirchenbann gegen Otrepjew. Ein Gottesnarr tritt auf, und Kinder stehlen ihm seine einzige Kopeke. Darauf bittet er den anwesenden Boris, die kleinen Diebe ebenso zu töten, wie er den Zarewitsch getötet habe. Die Schlußszene spielt im Kreml: Boris, verfolgt von seinen Wahnvorstellungen, empfängt den Mönch Pimen, der ihm von einem Wunder am Grab von Zarewitsch Dmitrij berichtet. Boris bricht zusammen, nimmt Abschied von seinem Sohn Fjodor und stirbt.

Die Inszenierung von Richard Jones versteht es meisterhaft, den archaisch-düsteren Charakter dieser Handlung durchzuhalten, die von der überaus eigenwilligen, gelegentlich schroffen, dann wieder elegisch dahinfliessenden Musik Moussorgskis wie in weiten Bögen getragen wird. Eine besonders markante Rolle spielt das Volk, das sich in seiner dumpfen Hörigkeit über eindrucksvolle Chöre (Einstudierung Raymond Hughes) artikuliert. Eine gute Unterstützung gibt das Bühnenbild von Miriam Buether, dessen Raumaufteilung nach Art russischer Ikonen zusammen mit der ausgewogenen Lichtregie den szenischen Rahmen liefert.

Unter der Leitung von Kirill Karabits schafft das Orchester der Deutschen Oper mit einfühlsamer Intensität das musikalische Fundament dieser Aufführung. Abgesehen von einigen Momenten dramatischer Verdichtung herrscht vor allem der weite Atem ausgeprägt russischer Melodik vor, in dem bisweilen das Zeitgefühl zur Nebensache wird und ein lähmender Fatalismus vorherrscht, aus dem vor allem die Not und Rechtlosigkeit des Volkes hervorscheint.

Der zweite Vorzug dieser Aufführung besteht in der sorgfältigen Auswahl der Solostimmen. Hier sind in erster Linie der machtvolle Bass von Ain Anger in der Titelrolle und die suggestive Charakterfigur des Mönchs Pimen von Ante Jerkunica zu nennen. Ihnen gleichrangig der Grigorij Otrepjew von Robert Watson und, besonders einprägsam, der Gottesnarr von Matthew Newlin. Dem Fürsten Schuiskij von Burkhard Ulrich hätte man vielleicht noch etwas mehr intrigante Farbe gewünscht. Die Frauenrollen kommen in diesem historischen Bilderbogen etwas kärglich weg, aber die Xenia von Alexandra Hutton und die üppige Ronnita Miller als ihre Amme bleiben ebenso im Gedächtnis wie die Schenkwirtin Annika Schlicht mit ihren nützlichen Informationen für Grigorij. Der Boris-Sohn Fjodor des jungen Philipp Ammer demonstriert brav seine Schulkenntnisse und behauptet sich gegen die Klangkraft des Orchesters.

Nach der Schlußszene mit dem Tod des Boris belohnt das Publikum die geschlossene Gesamtleistung mit ausdauerndem Applaus für alle Beteiligten. Vom Regieteam war allerdings nichts zu sehen, was bei dem reichen Beifall ohne den geringsten Mißfallenston eigentlich ein bißchen schade war.

060517
Erfolg auf der heiteren Linie
Premiere "Willkommen"
im Renaissance-Theater Berlin

Es greift mit leichter Hand hinein ins volle Menschenleben, das neue Stück von Lutz Hübner und Sarah Nemitz, uraufgeführt am 4. Februar dieses Jahres im Düsseldorfer Schauspielhaus, jetzt im Renaissance-Theater Berlin in der Regie von Torsten Fischer mit Geschick auf Berliner Örtlichkeiten und Befindlichkeiten umgesetzt. Thematisch wird hier ein ganzer Strauss von widerstreitenden Haltungen und Empfindungen präsentiert: Einblicke in den Miniaturkosmos einer Wohngemeinschaft, emphatische Weltverbesserung und verkrusteter Rassismus, Offenheit und Angst, rücksichtsvolle Schonung und heimliche Feigheit. Das alles geschieht erfreulicherweise nicht durch trockenes Dozieren mit erhobenem Zeigefinger, sondern in dramaturgisch abwechslungsreicher Szenenfolge, deren federnde Spannung während des ganzen Abends erhalten bleibt. Die erfolgsgewohnte Routine des Autorenduos erringt einmal mehr den Sieg über alle denkbaren Sperrigkeiten der Materie.

Das ist neben der feinfühlig komponierten Vorlage natürlich vor allem den hervorragend ausgewählten Darstellern zu danken. Herbert Schäfer und Vasilis Triantafillopoulos bauen ihnen eine Bühne, die allen szenischen Erfordernissen gerecht wird. Schon vor Beginn blickt der Zuschauer durch die Segmente einer später beiseite geschobenen Glaswand ins Speisezimmer einer dort tafelnden WG. Da ist Dozent Benny (Klaus Christian Schreiber), ein bißchen bi und eigentlich schwul, der seine Mitbewohner mit der Nachricht überrascht, daß er einen Ruf nach New York erhalten habe, dem er für ein Jahr folgen wolle. Sein Zimmer möchte er, der als Helfer bei der Essensausgabe in einem Flüchtlingsheim das Elend der Isolation dieser Menschen gesehen hat, so lange syrischen Flüchtlingen überlassen. So jedenfalls sein Vorschlag, den er zur Diskussion stellt. Als erste begeistert sich seine Freundin Sophie ( Judith Rosmair) für diese Aussicht und tritt mit flammender Rede für die Integrationsübung ein. Andere sehen das wieder ganz anders : allen voran die eher konservative Doro (Imogen Kogge), deren Statement auch deutliche Vorbehalte erkennen lässt, die an Rassismus grenzen.

Dann kommt Anna (Laura Kiehne) zu Wort, die ihre gesamte Korona mit der Neuigkeit überrascht, dass sie schwanger ist und den Vater des künftigen Kindes zunächst geheim hält. Schliesslich fügt sie aber noch hinzu, das sei nicht der agile junge Bank-Azubi Jonas (Benno Lehmann) mit dem Faible für Tischtennis, sondern ein Sozialarbeiter und Chef einer Neuköllner Fahrradwerkstatt, die als Beschäftigungsprojekt geführt wird. Sein Name sei Achmed- ein Türke ( Emre Aksizoglu), der Minuten später auch schon vor der Tür steht. Er sieht zwar aus, wie man sich einen Vertreter dieses Landes vorstellt, aber sein gewandtes Auftreten entspricht beileibe nicht den Klischees, die über radebrechende Ausländer im Schwange sind. Die restriktive Doro und den begeisterungsfähigen Jonas erobert er im Sturm, aber nun hat Sophie ihrerseits wieder verschiedene Bedenken. Als Sophie, die eigentliche Eigentümerin der ganzen Wohnung, dann noch ihren Vater (eingespielt: Jürgen Thormann) per Videoverbindung um Rat bittet, kommt von dort die wenig hilfreiche Aufforderung, endlich erwachsen zu werden und das ganze Beherbergungsvorhaben fallen zu lassen. Am Ende wird daraus mit dem schliesslich  erreichten Konsens aller Beteiligten die Absicht, das freiwerdende Zimmer als Gästezimmer zu nutzen und auf weitere WG-Mitglieder zu verzichten.

Am Schluß sitzen Doro und Sophie in der erstaunlich stabilen Hängematte, die, von Kies umgeben, auf der Vorderbühne als Kuschelecke Platz gefunden hat, und ziehen das Resümee mit dem Satz „Et kütt, wie et kütt“, einem „alten syrischen Sprichwort“.

Viel Beifall vom durchweg angenehm unterhaltenen Publikum. Der langanhaltende Applaus gilt sowohl den Akteuren wie dem Regieteam und steigert sich bis zu rhythmischem Händeklatschen.




051917
Unschuldig schuldig
Racines „Phädra“ in Schillers Übertragung
am Deutschen Theater Berlin

Jean Racines fünfaktige Tragödie „Phèdre“ besteht aus 1654 paarweise gereimten Alexandrinern, einem vor allem im Barock verwendeten Versmaß. Sie wurde 1677 in Paris uraufgeführt und von Friedrich Schiller in deutschsprachige Prosa übertragen. Die Figuren entstammen weitgehend der griechischen Mythologie; Racine bezieht sich mit Schwerpunkt auf die Tragödie „Der bekränzte Hippolytos“ aus der Feder des griechischen Dichters Euripides.

Regisseur Stephan Kimmig stellt die Aufführung am Deutschen Theater Berlin in ein Bühnenbild von Katja Haß, das aus monumentalen weißen Blöcken mit teils davor gesetzten begehbaren Rampen besteht. Man kann auf diesen Rampen halsbrecherische Gratwanderungen vollziehen, zornig oder im Gefühlsüberschwang gegen die Wände anrennen oder  sich auf einem der Vorsprünge zu spannungserfüllten Sitzgruppen zusammenfinden.

Während in der Mythologie die Gefühlslage der Phädra, der Gattin des Theseus,  auf eine Verzauberung zurückgeführt wird, der die Verzauberte hilflos ausgeliefert ist, hebt Kimmigs Regiekonzept die Ambivalenz von Gefühl und Affekt hervor. Folgerichtig muss sich der Zuschauer eingangs durch eine etwas langatmige Textprojektion zur Natur des Affekts hindurchknabbern, ehe dann Hippolyt (Alexander Khuon), Sohn des Theseus, König von Athen, und von dessen erster Frau Antiope, zusammen mit seinem Vertrauten Theramen (Jeremy Mockridge) den ersten Auftritt hat. Theseus ist von einem Feldzug nicht zurückgekehrt und gilt als verschollen. Phädra (Corinna Harfouch) beichtet ihrer Vertrauten Oenone (Kathleen Morgeneyer), dass sie insgeheim und tiefinnerlich Hippolyt liebt - eine Regung, die sie sowohl als verwerflich wie als unausweichlich erlebt. Als sie mit Hippolyt zusammentrifft, ereignet sich eine der faszinierendsten, auch schauspielerisch mitreissendsten Szenen des ganzen Stücks: wie Phädra sich zu Hippolyt buchstäblich gewaltsam hingezogen fühlt und vergeblich versucht, sich gegen diese Regung zu stemmen, ist grandios vorgeführt.

Der totgeglaubte Theseus (Bernd Stempel) kehrt unerwartet zurück und trifft rundum („Welch seltsamer Empfang“) auf betretene Gesichter. Phädra steht das peinliche Empfinden ihrer ehebrecherischen Neigung ins Gesicht geschrieben, und Hippolyt, der diese Zuwendung ablehnt, liebt stattdessen Aricia, eine Königstochter aus dem Geschlecht der einst von Theseus besiegten Pallantiden (Linn Reusse), was dieser nun mit Befremden zur Kenntnis nimmt. Oenone will Phädra vom Verdacht des Ehebruchs befreien und behauptet, Hippolyt habe Phädra vergewaltigt.  Nach dem Chaos verwirrender, widersprüchlicher Behauptungen hält im fünften Kapitel der Tod reiche, auf tragische Weise klärende Ernte. Der von Theseus voreilig angerufene Gott Neptun schickt ein Meeresungeheuer, das die Pferde des Kriegswagens von Hippolyt scheuen lässt. Der junge Held verwickelt sich in den Zügeln des Gespanns und wird vor den Augen seines Vertrauten Theramen zu Tode geschleift. In einem fesselnd vorgetragenen Botenbericht schildert Theramen den Hergang dieses Unglücks. Phädra kann sich von der Last ihrer verwerflichen Liebe nicht befreien, bekennt sich schuldig und gibt sich selbst den Tod durch Gift.

Die Inszenierung von Stephan Kimmig hat den Vorzug der Konzentration auf die wesentlichen dramatischen Elemente. Vor dem strahlend weissen Hintergrund des allgegenwärtigen Bühnenbildes haben die Akteure alle Möglichkeiten, plausible Charakterbilder und zutreffende Signale ihrer Interdependenz zu entwickeln. Die Wirkung hängt zum guten Teil auch vom Umgang mit Schillers anspruchsvoller Sprache ab. Das gelingt am überzeugendsten Corinna Harfouch in der Titelrolle, dicht gefolgt von Bernd Stempel als Theseus. Bei ihm versteht man jedes Wort, und seine verschiedenen Auftritte in verblüffend wechselndem Habit bis zu Sommeranzug und Sonnenbrille verbreiten den erforderlichen szenischen Reiz. Unübertrefflich der Schlusseffekt von Phädras Sterbeszene in blutrotem Reifrock vor weissem Hintergrund.

Das Publikum honoriert den Ausflug in die griechische Mythologie mit anhaltendem Applaus, der die schauspielerischen Leistungen angemessen würdigt.

050817
Sentas Traum und Eriks Qualen
Premiere „Der fliegende Holländer“
in der Deutschen Oper Berlin

Richard Wagners Libretto zum „Fliegenden Holländer“ nimmt die Sage vom niederländischen Kapitän Bernard Fokke auf, der nach einem Streit mit Gott und den Naturkräften dazu verdammt wurde, auf ewig mit seinem Geisterschiff (schwarzer Mast und blutrote Segel) auf den Weltmeeren zu kreuzen. Wagner verarbeitete hier Eindrücke von eigener stürmischer Seereise und fügte der Holländer-Erzählung von Heinrich Heine die Figur des Erik hinzu, des realen Geliebten der weiblichen Hauptfigur Senta, die sich zwischen ihm und der geheimnisvoll-romantischen Figur des Holländers hin- und hergerissen fühlt. Wagners lebenslang verfolgtes Motiv der Erlösung durch eine liebende Frau steht hier erstmals im Mittelpunkt. Das Werk wurde 1843 am Königlichen Hoftheater in Dresden uraufgeführt und 1860 vom Komponisten überarbeitet, wobei die Ouvertüre und der Schluß verändert wurden.

Christian Spucks Neuinszenierung an der Deutschen Oper Berlin verzichtet auf verlockende Umdeutungen der alten Fabel. Kein gesellschaftspolitischer Nachhilfeunterricht im Börsensaal, kaum eine Kritik an Vater Dalands offenkundiger Neigung, aus der Verheiratung seiner Tochter Senta goldglänzendes Kapital zu schlagen. Stattdessen liegt der Akzent von Anfang an auf dem tragischen Schicksal des jungen Jägers Erik und Sentas heilloser Zerrissenheit zwischen dem Treueschwur, den sie einst Erik gegeben hatte, und der träumerischen Begeisterung, mit der sie nun dem finsteren Holländer die Treue bis in den Tod gelobt. Folgerichtig beherrschen dunkle Farbtöne und dämonische Erscheinungen das Bühnenbild von Rufus Didwiszus, in dem das Motiv des Meeres mit einer Wasserzeile im Hintergrund angedeutet ist und verschiedene Schiffsmodelle die Assoziation mit der Seefahrt herstellen. Die Mannschaft des Holländerschiffs ist mit dem Auftritt vermummter Untoter immer dann präsent, wenn das Holländer-Ambiente gefordert ist. Die Verwandlung der anfänglichen Küstenszenerie in die Spinnstube des zweiten Aufzugs erfolgt durch das Aufziehen eines Zeltdachs aus einem verschnürten Textilpaket, und am Ende suggerieren  große Tuchbahnen tatsächlich die Segel von Dalands Schiff, dessen geisterhafter Kontrapunkt im Bühnenhintergrund verborgen bleibt. Insgesamt gelingt es dieser Szenerie aber überzeugend, das ständige Schwanken zwischen Fiktion und Realität zu verdeutlichen, woraus sich die Faszination der Holländer-Handlung speist. Die zusammenfassende Klammer für das Geschehen ist die ständige Präsenz des verschmähten Erik, der alles mit ansehen muss und  vergeblich versucht, seine Geliebte von ihrer verhängnisvollen Entscheidung abzuhalten. Senta gibt sich hier am Ende in einer letzten Aufwallung ihres Opferwillens selbst den Tod. 

Die Besetzung erfüllt an diesem Abend nahezu sämtliche Wünsche. Allen voran sind die Chöre zu nennen, von Raymond Hughes wirkungsvoll einstudiert und von der Regie aus der statischen Positur herausgeholt und  in dynamischer Choreographie inszeniert. Die Wucht von Sentas leidenschaftlicher Ballade im zweiten Aufzug bläst die schwatzhaften Zuhörerinnen buchstäblich zur Seite, und im finalen Matrosenchor, der mit intensiver Dramatik entlang der Rampe gesungen wird, sorgt die akribisch genau durchdachte Personenführung für mitreissende Bewegung. Der heimliche Held dieser Aufführung ist der Erik von Thomas Blondelle, dessen heller, vom Liedgesang geschulter Tenor mit vorbildlich klarer Artikulation den Leidensweg des verschmähten romantischen Liebhabers in bewegender Weise vorführt. Die Senta von Ingela Brimberg  bringt mit leidenschaftlich ausdrucksvollem Sopran die  Hingabe und existentielle Identifikation mit dem Schicksal des Holländers überzeugend zum Ausdruck. Tobias Kehrers samtig getönter Bass gibt dem Seefahrer Daland Farbe und Charakter. Lediglich der Holländer von Samuel Youn bleibt bei aller Zerquältheit die tiefere dämonische Faszination schuldig, und die Stimme scheint mehrfach der physischen Belastung nicht recht gewachsen zu sein.

Fundament des gesamten musikalischen Erscheinungsbildes ist einmal mehr das Orchester der Deutschen Oper unter Leitung des Wagnerspezialisten Donald Runnicles. Ist der Einstieg anfangs noch etwas breit angelegt, gewinnt das Klangbild im Laufe des Abends an Entschiedenheit und rhythmischer Prägnanz, und auch die tänzerische Liebenswürdigkeit der Empfangsszene bei der Heimkehr Dalands gelingt hervorragend.

Ausführlicher Beifall vom Publikum, akzentuiert von ein paar vereinzelten Buh’s für das Regieteam.








050317
Große Kunst von kleinen Ensembles
Stipendiatenkonzert der Paul-Hindemith- Gesellschaft
im Joseph-Joachim-Konzertsaal Berlin

Es hiesse die berühmten Eulen nach Athen zu tragen, wenn man Lobeshymnen über die Tätigkeit der Berliner Paul-Hindemith-Gesellschaft anstimmen wollte. Ihre Leistungen in der Nachwuchsförderung sind nicht nur allgemein bekannt, sondern sie lassen sich auch bei den immer wieder gelieferten Proben aufs Exempel unmittelbar nachvollziehen. Gemeint sind die Stipendiatenkonzerte, bei denen die Geförderten zusammen mit Kammermusikpartnern eindrucksvolle Beispiele ihres Könnens liefern.

Beim jüngsten Konzert begrüßt zunächst der Vorsitzende der Stipendiatengesellschaft, der Cellist Prof. Wolfgang Boettcher, das zahlreiche Publikum im Joseph-Joachim-Konzertsaal und berichtet aus eigenem Erleben über die Begegnungen mit dem Komponisten György Ligeti (1923 - 2006), einem der Autoren des Konzertprogramms an diesem Abend.

Als erste Künstler betreten dann die Thailänderin Pitchayapa Lueangtawikit (Violine) und der Münchener Pianist Aurelius Braun das Podium für Felix Mendelssohn-Bartholdys Sonate für Violine und Klavier aus dem Jahre 1838 in der Version von Yehudi Menuhin aus dem Jahre 1953.
Zuerst ein Allegro vivace: Ein beherzter, optimistischer Auftakt. Getragen vom markanten Pianoklang schwebt die Violine spielerisch leicht durch diesen ersten Satz, beide Solisten in bestem Einklang und in abwechselnder Akzentuierung, mit  Ausdruckskraft und Zartgefühl. 

Der zweite Satz ist ein Adagio. Bedächtig schreitet das Piano ins Thema, die Violine folgt, indem sie das Motiv feinfühlig aufnimmt und weiterführt. Das Piano nimmt diese Spur  mit wacher Aufmerksamkeit und lebendigem Klangsinn auf. Spannungsreich die Steigerungen, Piano mit romantischem Gefühl, die Violine sehr klangschön und rein.

Der Schlußsatz ist ein Assai vivace: Ein fröhlich voranstiebender Wirbel, in schöner Geschlossenheit vorgetragen, das Piano flott geläufig, die Violine mit rhythmisch akzentuierten, fein ziselierten Figuren. Präziser Fluss, gut abgestimmt und einhellig präsentiert. Das Piano überdeckt lediglich bei voll geöffnetem Schalldeckel  etwas die jugendliche Violine.


Der nächste Komponist ist Ligeti mit seiner Suite aus „Musica Ricercata“ für Klavier solo, komponiert 1951-1953. Die Interpretin ist die Pianistin Daria Goremykina. Schroff und hell der Einstieg, dann ein beharrliches Ostinato zwischen zwei, drei Tönen. Die Pianistin steigert das zu einem beschleunigten rhythmischen Rausch. Es folgt ein Dialog über zwei geheimnisvolle Akkorde, unwiderstehlich an die Filmmusik zu "Eyes wide shut" erinnernd. Konsequente Eindringlichkeit, die mit ganz wenigen Tönen auskommt und alle Spannung aus den Akzenten des Vortrags bezieht.
Darauf ein flotter Tanz, pfiffig verspielt, wieder mit ausgeprägter Rhythmisierung. Ein drollig dahingehumpelter Walzer folgt, kreiselnd und drehend.  „Cantabile“: über grummelndem Fond in der linken Hand schwebt ein sangliches Thema, das in traditioneller Harmonik seinen Weg geht.

Als Kontrast „Vivace Energico“: gehämmerter Rhythmus, der das melodische Geschehen mit sich fortreisst. „Adagio Mesto und Allegro maestoso“ sind dem Andenken Bela Bartoks gewidmet: Lichtstrahlen durchbrechen dunkles Gewölk, eine leise Überleitung. „Vivace Capriccioso": ein klirrend gehüpftes burleskes Intermezzo mit grell dazwischengepfefferten Akkorden. Zum Schluss ein Andante als Hommage an Girolamo Frescobaldi: nun schreitet die Melodie wie durch ein Bachsches Exerzitium. Schliesslich endet die Sammlung in gemessenen Schritten von klanglicher Expressivität . Ein beeindruckender Vortrag dieser exzellenten Pianistin, stilsicher und technisch perfekt.

Der nächste Programmpunkt ist ein Werk von Wolfgang Amadeus Mozart: sein Quartett D-Dur für Flöte,Violine,Viola und Violoncello KV285 von 1777. Die nicht alltägliche Kombination von Querflöte und drei Streichinstrumenten hat besonderen klanglichen Reiz. Vier Damen interpretieren die vier Sätze: Xiangchen Ji (Querflöte), Kyung Eun Grace Lee (Violine), Minyoung Kim (Viola) und Yejin Ahn (Violoncello).

Das Quartett beginnt mit einem Allegro: die Flöte übernimmt die Stimmführung, die drei überaus einfühlsamen Streicherdamen ergänzen, führen die Melodie weiter, das Cello setzt kontrastierende Akzente, so dass ein harmonisch ausgebreitetes Tongewebe entsteht, das sich bis in die Seitenteile erstreckt. Ein pointiertes Gespräch.

Es folgt ein Adagio :  wie eine Barcarole, eine Liedmelodie der Querflöte, von den Streichern pizzicato begleitet, sehr stimmungsvoll und von klanglicher Anmut.  Dann das Rondeau: Ein heiteres Thema, in animiertem Dialog zwischen Flöte und Streichern ausgeführt. Schöner Klangfluss in grosser Harmonie, lebhaft und mit absoluter Sicherheit akzentuiert. Das Ganze geht in ein leichthin formuliertes Allegretto über, dessen Charme die Zuhörer bezaubert.


Nach der Pause geht es mit zwei Sätzen aus der Sonate für Violoncello und Basso continuo von Luigi Boccherini weiter, die etwa aus dem Jahre 1773 stammen dürfte. Es spielt wieder die Cellistin Yejin Ahn und Hansol Cho am Klavier. Jetzt ist der Schalldeckel des Flügels  halb heruntergeklappt, was der Prägnanz der Ausdrucksmöglichkeiten für das Cello sehr entgegenkommt.

Zuerst ein Adagio, mit gutem Sinn für klangliche Valeurs und den sehr  spezifisch ausschwingenden  Celloklang ausgeführt. Dann Allegro moderato: Das Cello artikuliert die sehr differenzierte Melodie, das Piano hält sich angemessen zurück, und das ergibt in der Summe einen ungemein farbigen Vortrag von großer Lebendigkeit, fein abgestimmt zwischen beiden Solisten.

Den nächsten Programmpunkt übernimmt die Sängerin Elene Khonelidze aus Tbilissi in Georgien, begleitet von Daria Goremykina. Drei Lieder sind angekündigt: „Warum“ von Peter Tschaikowsky, dann „Agnes“ von Hugo Wolf und abschliessend „Traumesahnung“ von Wolfgang Kienzl.
Der hochgewachsenen Sängerin eignet eine  zierliche Sopranstimme mit Wärme und Ausdruckskraft bei lyrischem Grundton mit hellen dramatischen Akzenten. Es gibt viel Applaus für die Sängerin und ihre kundige Begleiterin.

Den Abschluss dieses Abends übernimmt eine schweizerische Pianistin mit chinesischen Wurzeln: Mélodie Zhao interpretiert die Sonate für Klavier Nr. 2 b-moll op. 36 in der zweiten Fassung aus dem Jahre 1931 von Sergei Rachmaninoff.

Am Beginn ein Allegro: Mit grossen Akkorden und hallendem Nachklang steigt der Komponist in die Thematik ein, die an ausgreifendem Nachdruck und andererseits auch fein pointierter Durchführung keine Wünsche offen lässt. Die Pianistin arbeitet die einzelnen Agglomerationen einfühlsam heraus und breitet bei den weit ausschwingenden Akkordballungen ihr reiches technisches Können verführerisch aus. Elegante Sprünge werden katzengleich angesetzt und wieder gebändigt. Wie Merkzeichen leuchten am Wege die Rachmaninoffschen Akkordfarben.

„Non allegro“ ist der zweite Satz betitelt. Versonnen der Einstieg, wie suchend fast wird der weitere Weg verfolgt. Immer wieder neue Anläufe, zaubrige Licht- und Schattenspiele, als ginge man in milder Luft durch einen traumhaften Garten. Der Mollton bleibt stets gegenwärtig. Wie ein Echo klingt eine sehnsüchtige Empfindung nach.

Zum Schluss ein Allegro molto: Ein Sturz in neue, rauschend tänzerische Tonkaskaden. Strahlend, mit manchmal geradezu wütender Entschlossenheit, faszinierend in der Dichte des Tongewebes aus Akkordtrauben und perlenden Läufen. Steigerungen von atemberaubender Stringenz.

Begeisterter Beifall ist der Lohn für den Schlusspunkt dieses Konzerts, und die herrlichen langstieligen Rosen aus der Hand von Hindemith-Beirätin Jutta von Haase geben dem Ganzen eine warmherzige, nahezu familiäre Atmosphäre.




042417
Alles wird gut
Samuel Becketts „Glückliche Tage“
als B-Premiere im Deutschen Theater Berlin

Ein erneutes „Endspiel“ bringt Samuel Becketts paradoxe Tragikomödie aus dem Jahre 1960 auf die Bühne des Deutschen Theaters Berlin. Becketts Stück, 1961 in New York überaus erfolgreich uraufgeführt, hatte es merkwürdigerweise in Berlin anfangs etwas schwer. Die Spannweite zwischen  auf die Spitze getriebener sarkastischer Ironie und einer endzeitlichen, objektiv von gänzlicher Hoffnungslosigkeit geprägten  Grundsituation wurde von  Publikum und Kritik bei der deutschen Erstaufführung 1961 in der Werkstatt des Berliner Schillertheaters mit Ratlosigkeit quittiert.

Mittlerweile ist  das Empfinden für die kuriose Ambivalenz unseres täglichen Lebensgefühls vor dem Hintergrund der laufenden Zeitereignisse offenbar gewachsen. Beckett schildert den Alltag zweier Menschen, die nicht nachlassen, ihre „glücklichen Tage“ zu preisen, obwohl ihr erbärmliches Leben eigentlich aus einer Kette fataler Rückschritte bis zur gänzlichen Erstarrung besteht. Die Rigorosität dieses Konflikts zwischen Wunsch und Wirklichkeit reizt zu Analogien mit der Jetztzeit.

Christian Schwochows Neuinszenierung am Deutschen Theater Berlin kommt ohne den  spektakulären Sandhaufen aus, in dem Winnie (Dagmar Manzel) zwei Akte lang versinkt. Er befreit die Szene von allen ablenkenden Begleitumständen und läßt statt dessen Winnie statisch auf einem Stuhl vor schwarz glänzender Wand sitzen und ihren Dialog mit Ehemann Willie (Jörg Pose) führen - einen Dialog, der eigentlich ein Monolog ist und in dem die kargen Momente der Kommunikation zwischen den beiden bereits die Höhepunkte des szenischen Geschehens ausmachen. Den Zuschauer erwarten anderthalb Stunden konzentrierten Zuhörens, die aber dank der faszinierenden Konzentrationsleistung von Dagmar Manzel zumindest streckenweise geradezu kurzweilig geraten. Wie sie ihren Part gliedert und akzentuiert, wie sie ihre Stimme vom Flüstern bis Schrei moduliert und dramaturgisch nutzt, ist erlebenswert.

Die prinzipielle Struktur des Zweiakters bleibt erhalten und wird sogar klar herausgearbeitet. Wenn sich der eiserne Vorhang zum ersten Akt hebt (Bühne: Anne Ehrlich), sitzt Winnie eingenickt auf ihrem Stuhl, schreckt dann hoch und beginnt ihre dahinströmende Suada, die allerdings zu Beginn in sehr verhaltenem Ton vorgetragen wird. Ihre erste Aktion ist ein ausgiebig exerziertes Zähneputzen, wonach sie dann später die Aufschrift der Zahnbürste „Voll garantierte echte reine Barch-Borsten“ zu entziffern beginnt, irgendwann auch von einer Lupe beim Dechiffrieren unterstützt.  Ehemann Willie ist nur ein kümmerlicher Sparringspartner, der mit wenigen Repliken antwortet. Die Trennlinie zwischen den beiden Akten wird durch erneutes Absenken und Aufziehen des „Eisernen“ markiert. Weitere Interpunktionselemente sind Sirenensignale, die an Warnzeichen im Luftschutzkeller erinnern, sowie bebende Basstöne, als nähere sich ein bedrohliches Verhängnis. Aber nichts dergleichen geschieht - der gedachte Himmel bleibt blau, lediglich das Perpetuum mobile der tausend Nichtigkeiten rollt ab wie am Schnürchen.

Wie Dagmar Manzel da mit Hingabe und Akribie in Winnies Erinnerungskasten kramt, ist durch die Geschlossenheit der hier ausgebreiteten Alltagsphilosophie durchaus faszinierend. Winnie spult auch nicht einfach ihren Text ab, sondern inszeniert ihn als Interaktion mit dem Publikum. Zahllose Erinnerungen tauchen überraschend aus den Tiefen ihres Gedächtnisses auf, ohne dass wehmütige, nostalgische Gefühle die Oberhand gewinnen. So schmerzlich diese Reminiszenzen sein könnten, Winnie gewinnt der Erinnerung stets etwas Positives ab und bewahrt sich auf diese weise instinktiv vor dem Versinken in einer Flut von Klagen. Obwohl sie am Ende nahezu erstarrt in unbeweglicher Pose verharrt, nähert sich ihr Gatte auf allen Vieren mit devoter Geste, wie um Verzeihung bittend, und Winnie haucht ein rührendes Dokument verflossener Herrlichkeit, das Couplet „Lippen schweigen, s flüstern Geigen“ aus Léhars „Lustiger Witwe“.

Viel Applaus für bemerkenswerte schauspielerische Leistungen, in den auch das Regieteam einbezogen wird.




040217
Ein glückliches Ensemble
Streichquartett der Staatskapelle Berlin
im neuen Pierre-Boulez-Saal Berlin


Schon der Ort dieser musikalischen Handlung ist für sich genommen ein kleines Wunder. Der neue Pierre-Boulez-Saal Berlin, von der kundigen Hand des Architekten Frank Gehry mit Unterstützung des Akustikers Yasuhisa Toyota in das Gebäude des Kulissenmagazins der Staatsoper eingepaßt, fügte sich hier ebenso organisch ein wie in den Zeit- und Kostenrahmen dieses Baus, der sowohl aus Spenden wie aus Bundesmitteln finanziert wurde. Kanadisches Zedernholz kleidet die Wände und die Decke aus, was der Akustik einen ungewöhnlich warmen Klang ohne störende Nachhalleffekte verleiht. Der Initiator des Neubaus ist an diesem Abend auch der Impulsgeber für das auftretende Ensemble: Daniel Barenboim, Generalmusikdirektor der Staatsoper, war sowohl der Anreger für den Saalbau wie für die erst kürzlich erfolgte Gründung des Streichquartetts der Staatskapelle, das zur Einweihung des Neubaus seinen ersten eigenen Zyklus von Quartettkompositionen vorstellt.

Die Mitglieder dieses im doppelten Sinne jungen Kammermusikensembles sind Wolfram Brandl (1. Violine), Krzysztof Specjal (2. Violine), Yulia Deyneka (Viola) und Claudius Popp (Violoncello). Auf dem klug zusammengestellten Programm eine Auswahl von Kompositionen für Streichquartett von Franz Schubert ( 1797-1828), die zu seinen farbigsten und mitreissendsten Werken gehören.

Die Musiker beginnen mit Schuberts „Quartettsatz“ c-moll D 703 aus dem Jahre 1820, einem einzigen Allegrosatz, der gleichwohl zu den bekanntesten Kompositionen Schuberts gehört und sich hervorragend für einen solchen Auftakt eignet, in dem sich bereits alle Vorzüge dieser Interpretengruppe ausprägen. Eine hell klingende, gleichermassen sensibel und klangrein intonierende 1. Violine, eine überaus wache und kraftvoll ergänzende 2. Violine, die sehr charaktervolle und präzise agierende Viola und das  wundervoll warm und intensiv empfindende Cello ergeben eine ideale Zusammenstellung von Streichinstrumenten, die ihre Wirkung durch präzises Zusammenspiel und gut abgestimmte Akzentsetzung auf ein außergewöhnliches Niveau heben.

Dem „Quartettsatz“ folgt das Streichquartett Nr. 1 D18 aus dem Jahre 1810/1811, noch dem Geiste Joseph Haydns verwandt, aber in Aufbau und thematischer Diktion schon ganz „Schubert“. Danach das Streichquartett Nr. 8 B-Dur D112 von 1814, wieder mit einem „Menuetto“-Satz, der aber diesmal der dritte ist, und einem „Presto“-Finale, wie bei allen drei diesmal vorgestellten Quartetten.

In der Pause ist Gelegenheit, sich noch einmal die Dimensionen des Saales und die Details seiner Gestaltung vor Augen zu führen, wobei besonders die Sorgfalt der Verarbeitung der Hölzer und Metallapplikationen beeindruckt.

Für den letzten musikalischen Höhepunkt wechseln die Solisten ihre Sitzposition im Zentrum des Saales. 1. Violine und Viola tauschen ihre Plätze, ebenso 2. Violine und Cello. Dieser Tausch bringt zusätzliche akustische Nuancen ins Spiel, die das Hörerlebnis noch reizvoller machen. Darauf dieses thematisch wie nach der Virtuosität der Instrumentalparts so anspruchsvoll und intensiv gestaltete Streichquartett Nr. 14 d-moll D 810 aus dem Jahre 1824, das nach einem  hier verwendeten Liedthema „Der Tod und das Mädchen“ genannt wird. Ein sehr vitaler, fein abgetönter Allegrosatz als Einstieg, dann der herrliche Variationensatz Andante con moto, gefolgt von den nicht minder spannungsreichen Passagen  „Scherzo. Allegro molto“ und „Presto“. Die technisch perfekte, von überzeugendem musikalischen Consensus bestimmte Interpretation wird von den Zuhörern begeistert aufgenommen. Der reichhaltige, ausführliche Applaus ist der Dank für die überaus gelungene Darbietung eines glücklich zusammengesetzten, harmonisch agierenden Instrumentalensembles.



033117
Das Leben - eine sarkastische Hausgemeinschaft
Ödön von Horváths „Niemand“
in den Kammerspielen des Deutschen Theaters Berlin

Ein erst 2015 aufgefundenes Stück des seinerzeit 23jährigen Schriftstellers in deutscher Erstaufführung: Dušan David Pařízek inszeniert Ödön von Horváths pessimistische Weltsicht als gleichwohl fesselnde Szenenfolge auf der Bühne der Kammerspiele des Deutschen Theaters Berlin. Das Stück  spielt zwischen den beiden Weltkriegen im Jahr 1924.

Fürchtegott Lehmann (Marcel Kohler), ein verkrüppelter Hausbesitzer und Pfandleiher, hält alle Trümpfe in der Hand, um sämtliche Bewohner seiner Immobilie unter Druck setzen und gegeneinander ausspielen zu können. Er ist aber keineswegs nur ein verbittertes Ekel, das sich an den Menschen zu rächen sucht. In einer Ecke seines Wesens ist er auch ein Suchender, der sich nach einer Partnerin sehnt.

In sieben Bildern werden die Charaktere und Lebensgeschichten aus dieser mit Sarkasmen und Zynismen reich ausgestatteten Hausgemeinschaft aufgeblättert. Da ist die Hure Gilda (Franziska Machens), die ihrem Beruf mit feuerroter Perücke nachgeht und von allen anderen nur „Fräulein Lamour“ genannt wird, obwohl ihr Familienname eigentlich „Schulze“ ist. Sie beherrscht ihr Fach perfekt und beurteilt alle Vorgänge und Menschen aus dem Blickwinkel ihrer Profession. Sie wird auch die Mentorin der anfangs etwas unscheinbaren Ursula (Wiebke Mollenhauer), die sich mit Konsequenz und Raffinesse zur Gefährtin des Hausbesitzers hinaufdient.

Als stets etwas hektisch agierender, stellungsloser Musiker beklagt Klein (Elias Arens) sein Los und den Umstand, dass er die Miete für seine Dachkammer nicht bezahlen kann. Eine Kellnerin, die ihre zu servierenden Getränke lieber selbst konsumiert und anschließend infernalische Rülpser produziert, ist Lisa Hrdina, die sich später noch als irritierter Backfisch mit etwas konfusen Lebensplänen präsentiert, dem man geraten hat, „etwas praktischer“ zu werden. Der illusionslose Wladimir (Henning Vogt) geht zum Militär, wo er erleben muss, wie der von ihm bewunderte Hauptmann getötet wird und ihn ohne geistige Lebenshilfe zurückläßt.

Das Panoptikum kulminiert im Aufeinandertreffen der beiden Brüder Fürchtegott und Kaspar Lehmann, die ihre jeweilige Lebensgeschichte aus Kindheitserlebnissen ableiten und sich instinktiv als Sparringspartner verstehen. Dabei kommt der Hausbesitzer ums Leben und entschwebt an einem Seilzug in die Höhe des Bühnenhimmels. Zurück bleibt Bruder Kaspar, der auch die nunmehr alleinstehende Witwe Ursula umarmt, sich aber bald wieder aus dem Staube macht. Auf der Szene steht am Ende die dunkle Silhouette der verlassenen Frau.

Ach ja, und wer ist „Niemand“? Vermutlich einfach Gott, ein irgendwo verschwundenes höheres Wesen, das sich der Kommunikation verweigert und das man ebensogut „Satan“ nennen könnte.

Die sorgfältig gezeichnete Reihe der Charakterbilder macht den Abend sehenswert. Viel Beifall für das gesamte Ensemble, das  zum Schluß auch noch als Begleitband für einen resümierenden Song zu hören ist.

032417
Ein bewegender Abstieg
„Tod eines Handlungsreisenden“
im Deutschen Theater Berlin

Arthur Millers Ballade von der Fruchtlosigkeit menschlichen Strebens, uraufgeführt 1949 am New Yorker Broadway, gilt längst als klassische Umsetzung des schmerzlichen Erwachens aus dem amerikanischen Traum von Reichtum und Glück. Die Breitenwirkung  dieser Tragödie in unseren Tagen resultiert unter anderem daraus, dass sich ein solches Schicksal mühelos auch auf andere Orte und Zeiten mit ähnlichen Voraussetzungen übertragen läßt, wodurch die Handlung eine bisweilen bestürzende Aktualität gewinnt. Eine gewisse Nähe und thematische Verwandtschaft besteht zu Tennessee Williams’ früher erschienenem Stück  „Die Glasmenagerie“, wo der amerikanische Traum auf ähnliche Weise zerbricht.

Die Inszenierung von Bastian Kraft hat ein unbestreitbares Verdienst: sie bietet diese Vorlage ohne Verfärbungen und bemühte Beimischungen an, lapidar und elementar, wie es auch das Bühnenbild von Ben Baur unterstreicht. Die weite, kahle Bühne wird nur von einem gigantischen Rundhorizont begrenzt, der als Projektionsfläche für illustrative Schattenspiele genutzt wird. Die können sowohl aus der realen wie aus der imaginativen Handlung stammen. Ansonsten hängt nur eine simpel blecherne Tischlampe aus der Höhe  herab, und auf der Drehbühne befindet sich lediglich ein Tisch mit ein paar Stühlen. Leider beschert die ansonsten naturbelassene Bühne den Akteuren ein akustisches Problem: die Sprachverständlichkeit ist streckenweise auffallend schlecht, und der damit allein gelassene Zuschauer muss sich anhand der projizierten englischen Übertexte vergewissern, ob er das Gesagte zutreffend aufgenommen hat.

Willy Loman ist seit vielen Jahren Handelsvertreter und erinnert sich durchaus lukrativer Zeiten, in denen sein Beruf ausreichte, um die Familie zu ernähren. Nun wird er entlassen und steht vor dem Ruin.  Ulrich Matthes gibt diesem Mahnmal des sozialen Abstiegs alle Dimensionen, aus denen die Figur lebt: trotzigen Stolz, das stets präsente Bewußtsein einstiger Leistungen, das Beispiel des erfolgreichen Bruders und das immer fortlebende Bemühen, die Existenz der ihm anvertrauten Angehörigen zu sichern. Gepaart mit nachlassendem Realitätssinn wird daraus ein gefährlicher Zustand, in dem es keinen Ausweg aus der Abwärtsspirale mehr gibt.

Auch die beiden Söhne sind vom Fluch der Mittelmäßigkeit verfolgt. Biff (Benjamin Lillie) schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch, und auch sein Bruder Happy (Camill Jammal) ist lediglich ein zweitklassiger Assistent, der vom Aufstieg träumt. Als beide den Plan fassen, gemeinsam ein Sportgeschäft zu eröffnen, versickert dieser Impuls ohne positives Ergebnis. Nachbar Charley (Harald Baumgartner) leiht Loman etwas Geld, aber von einem angebotenen Job will dieser nichts wissen. Seine Ehefrau Linda (Olivia Grigolli) leidet unter der gereizten Atmosphäre in der Familie, nutzt aber jede Gelegenheit, die guten Seiten ihres Ehemannes zu rühmen. Howard Wagner (Moritz Grove) tritt auf, Chef der Handelsfirma, bei der Willy einst angestellt war, und führt ihm eine faszinierende Neuerung vor: ein Tonbandgerät, das die Stimmen seiner Kinder festhält. Statt Mitgefühl für die Lage von Willy Loman spürt man bei ihm aber eher soziale Kälte.

Ein Anstellungsversuch von Biff bei einem früheren Schulfreund Oliver mißlingt- der erkennt ihn gar nicht, und Biff klaut ihm lediglich seinen Füllhalter.  Ein gemeinsames Dinner der beiden Söhne mit dem Vater, zu dem Happy eingeladen hatte, um den erwarteten Job für Biff zu feiern, zerflattert - die beiden Söhne ziehen mit rasch angeheuerten Mädchen davon und ignorieren Vater Willy. Als alle wieder zu Hause sind, zieht die nächste Auseinandersetzung herauf - Biff gibt zu, während einer dreimonatigen Abwesenheit wegen Diebstahls im Gefängnis gewesen zu sein, und kündigt seinen Auszug aus dem Elternhaus an. Vor dem abendlichen Schlafengehen verläßt Willy das Haus, um den Tod zu suchen, damit seine Familie von der Lebensversicherung existieren kann.

Viel Beifall für die eindringliche Zeichnung der Figuren, für Ulrich Matthes und das übrige Ensemble.

032017
Dichterliebe
Premiere „Tod in Venedig“
in der Deutschen Oper Berlin

Nein, hier soll nicht von Robert Schumanns gleichnamigem Liederzyklus auf Texte von Heinrich Heine die Rede sein, sondern von Benjamin Brittens Adaption der im Jahre 1911 erschienenen Meisternovelle „Der Tod in Venedig“ von Thomas Mann, komponiert als letztes von Brittens Bühnenwerken im Jahre 1973. Thomas Manns Skizze vom Ableben des Dichters Gustav von Aschenbach in Venedig verknüpft mit seltener Perfektion die Schilderung des Innenlebens eines einsam gewordenen Erfolgsschriftstellers mit einem Choleraausbruch in der Lagunenstadt und dem Aufkeimen einer jähen Liebe zu dem halbwüchsigen polnischen Jungen Tadzio, der mit seiner Familie zur Sommerfrische in Venedig weilt. Welch hohes Maß autobiographischer Elemente in diese Novelle eingegangen ist, wurde der literarischen Welt wohl erst später bewusst, als Thomas Manns Tagebücher schrittweise veröffentlicht wurden.

Benjamin Brittens Opernfassung dieses Handlungskerns wurde 1973 uraufgeführt und war in Berlin erstmals 1974 an der Deutschen Oper zu sehen. Die Neuinszenierung von Graham Vick steht nun unter der musikalischen Leitung von Donald Runnicles, der sich mit besonderem Nachdruck den Werken von Benjamin Britten im Spielplan der Deutschen Oper widmet.

Das Stück beginnt mit einem Schluss, der Totenfeier für den verstorbenen Dichter Gustav von Aschenbach. Im Bühnenbild von Stuart Nunn sitzt eine Gruppe schwarzgekleideter Leidtragender vor einem überdimensionalen Bilderrahmen mit dem Konterfei des Dahingeschiedenen, der dann durch eine Seitentür hereintritt, durch die er die Bühne am Ende der Vorstellung wieder verlassen wird. Dann wird Schritt für Schritt die ganze Geschichte dieser venezianischen Verstrickung aufgeblättert. Der erste Akt ist der Ankunft Aschenbachs zum Aufenthalt in Venedig gewidmet, dessen unheilvolle Ambivalenz sich in mannigfachen Vorzeichen ankündigt. Tenor Paul Nilon gibt der Figur dieses Dichters mit klarer, aber nachdenklich-sanfter Stimme das entscheidende Profil. Die differenziert fliessende Schilderung aus der Novelle wird für die Opernhandlung zu mehreren Konzentrationspunkten verdichtet. Aschenbach erlebt mit wohligem Schauder, wie ihn beim Anblick einer sporttreibenden Knabengruppe am Strand spontan die Zuneigung zu einem dieser Jungen überfällt. Die zauberische Wirkung von Schönheit und Anmut, der sich auch sein disziplinierter Verstand nicht entziehen kann, bestimmt den Fortgang der Handlung. Auch der Rückgriff auf Bilder aus der griechischen Götterwelt und die Auseinandersetzung mit dem Geist des Gottes Apollon (Countertenor Tai Oney) schafft bestenfalls zusätzliches Verständnis, kann aber das Verhängnis nicht aufhalten, das als Doppelnatur über Aschenbach hereinbricht: die überfallartig einsetzende Liebe zu dem Jungen Tadzio (Rauand Taleb) und das eher schleichende Unheil einer heraufziehenden Choleraepidemie, die aus Sorge um das Tourismusgeschäft von den Behörden totgeschwiegen wird. Im zweiten Akt konkretisiert sich diese unheilschwangere Atmosphäre, und der geliebte Tadzio kommt bei einer Balgerei mit seinen Altersgenossen ums Leben. Aschenbach kann ihn nicht retten und tritt selbst durch die erwähnte Seitentür aus dem Leben.

Benjamin Britten illustriert und begleitet diese Handlung mit einer ungemein fein gesetzten und disponierten musikalischen Gestalt, die von einem kleinen Orchester mit weitgefächertem Schlagwerk, Klavier als quasi-Rezitativcontinuo und ausgesprochen erlesenen Flöten- und Bläsersoli bestimmt wird. Nur gelegentlich weitet sich das Klangbild zu intensiver Breitenwirkung, etwa in dem reizvollen Vorspiel zum zweiten Akt und der eindrucksvollen „Kyrie“-Steigerung im weiteren Verlauf, in der auch der im übrigen überaus sorgfältig einstudierte und disponierte Chor hinter der Szene(Einstudierung Raymond Hughes) sich mit dem Chor der Solisten (Einstudierung Ido Arad und Christopher White) verbindet.

Die zweite Hauptfigur der Opernhandlung ist dem fabelhaft wendigen Seth Carico übertragen, der hier alle Register seiner Sanges- und Verwandlungskunst ziehen darf. Stimmlich reicht das von dunkler Tiefe bis zum Falsett, und die von ihm verkörperten Figuren entstammen sämtlich dem symbolreichen Repertoire von Thomas Manns Novelle. Ein Reisender und ein Ältlicher Geck auf der Überfahrt zum Lido, ein Gondoliere und ein Hotelmanager, der Coiffeur des Hotels, ein Straßensänger und schließlich die Stimme des Gottes Dionysos sind ihm übertragen, und er stilisiert sich zu einem mephistophelischen Begleit-Kommentator des schwankenden, tief verunsicherten Dichters Aschenbach.

Neben diesen beiden Hauptfiguren agiert eine lange Reihe stilsicher ausgewählter Solisten, die für das Kolorit der venezianischen Szene sorgen. Das reicht von der Erdbeerverkäufern (Alexandra Hutton) über vielfältige Hotelgäste bis zu jenem jungen Mann, der Aschenbach erstmals reinen Wein über die nahende Epidemie einschenkt.

Dirigent Donald Runnicles führt sein Instrumentalensemble zu Höhepunkten feinfühliger Klangabstimmung. Alles Gehörte bleibt durchsichtig wie ein Schleier, kann sich aber auch zu markanten Akzenten verstärken. Das Premierenpublikum honoriert die geschlossene Leistung von Solisten, Chor und Orchester mit anhaltendem Applaus, der auch das Regieteam einschliesst und ein paar versprengte Buhrufe eher als Untermalung erscheinen läßt.

031817
Facetten des Zufalls
Premiere „Konstellationen“ von Nick Payne
im Renaissance-Theater Berlin

Der Autor Nick Payne, ein 1984 geborener Brite, hat Erfolg, gewinnt renommierte Theaterpreise und bekommt begeisterten  Beifall sowohl in London wie am Broadway in New York. Sein Stück „Konstellationen“ ist 2012 am Royal Court Theater in London uraufgeführt worden und hatte seine deutschsprachige Erstaufführung 2013 am Schauspielhaus Wien. Soweit ist dies eine Stück-Vita wie andere auch. Dennoch ereignet sich hier  in mehrfacher Hinsicht kein Stück wie viele andere. Vielmehr ist der dramaturgische Ansatz ausgesprochen ungewöhnlich, konterkariert sogar gewohnte Erfolgsmuster in überraschender Form und schafft es gleichwohl, das Publikum zu gewinnen und für anderthalb Stunden mit einem intelligent komponierten thematischen Ostinato zu fesseln.

In der Inszenierung von Antoine Uitdehaag am Berliner Renaissance-Theater baut Momme Röhrbein, dem raffinierten Minimalismus des Textes entsprechend, eine schwarz ausgeschlagene Guckkastenbühne, auf der lediglich vier weisse Stühle dazu einladen, sie in immer neuen Konstellationen zu platzieren. Von der Decke hängen an langen Drähten einzelne Glühlampen, und dieses Dekorationselement wird bis in den Zuschauerraum hineingezogen, wodurch es bei entsprechender Lichtregie den Eindruck des scheinbar zeitlosen Sternenhimmels vermittelt.

Marianne (Suzanne von Borsody) und Roland (Guntbert Warns) begegnen sich und tauschen zunächst nur beiläufige Beobachtungen aus. Mit ihrem weiteren Meinungsaustausch setzt bereits das gestaltende Stilmittel ein, das sich durch die gesamte Aufführung zieht und seinen intellektuellen Reiz kontinuierlich ausspielt: Lichtwechsel, Musikeinspielung (Het Palais van Boem), dann die Variation des vorangegangenen Textes, mit verändertem Akzent, in  abgewandeltem Sprachstil und bald verschärfter, bald zurückgenommener Diktion. Und das Wunder der szenischen Faszination funktioniert tatsächlich: wo man annehmen müßte, dass so gering abweichende Veränderung auf die Dauer ermüden müsste, ist der Zuschauer stattdessen gefesselt und verfolgt aufmerksam diese immer etwas anderen Anläufe zum selben Ziel, der zwischenmenschlichen Kommunikation.

Was sich die beiden zu sagen haben, scheint nebeneinander existierenden Parallelwelten zu entstammen. Alles ist im Zustand des nur Gedachten, dem Zufall sind sämtliche Tore geöffnet, und was auf die eine Weise zu gelten scheint, könnte ebensogut in einer variierten Form geschehen. Ob sich eine neue Liebesbeziehung entwickelt, ob frühere Beziehungen als belastend oder belanglos angesehen werden, ob sich eine Entwicklung zuspitzt oder einfach zerflattert - alles ist möglich in diesem Universum des Denkbaren.

Den Texten gibt Autor Payne mannigfache Farbe, Elemente des Skurrilen und Überraschenden. Marianne ist Physikerin und gibt Daten kosmischer Strahlung in ihren Computer ein. Roland ist von gänzlich konträrer Mentalität und widmet sich eher der Bienenzucht. Eine Aufzählung der drei Gruppen eines jeden Bienenvolkes liest er entweder vom Blatt, oder er kann auch darauf verzichten und Marianne stattdessen einen Heiratsantrag machen.

Keine Frage, dass ein solcher Spielvorwurf ein ideales Terrain ist für zwei souveräne Darsteller, die über Nuancenreichtum des Ausdrucks und eine differenzierte Skala sprachlicher Gestaltung verfügen. Suzanne von Borsody vermittelt beredten Charme ebenso überzeugend wie vielfach variierte Eindringlichkeit. Guntbert Warns kann ein eher spröder Einzelgänger ebenso wie ein begeisterter Liebhaber sein. Besonderen Szenenbeifall gibt es, als die präsentierten Sprachversionen sich ganz auf die Gebärdensprache reduzieren, von beiden in einer ausführlichen Passage virtuos und suggestiv dargeboten.

Das Premierenpublikum im ausverkauften Haus folgt den Gedankenspielen mit nie versiegender Aufmerksamkeit, und diese Spannung entlädt sich am Ende in einem ausgiebigen Beifallssturm, der gleichermaßen Dankbarkeit und Anerkennung ausdrückt.





 



030517
Notfalls zu Tante Google
Premiere „Fehler im System“
im Schloßpark-Theater Berlin

Es war ein weiter Weg von der frühen Faszinationskraft jener Automatenwesen in Menschengestalt nach Art von „Coppélia“ oder „Hoffmanns Erzählungen“ bis zur leicht schaurig angehauchten Attraktivität des Begriffes „Künstliche Intelligenz“ in unseren Tagen. Gerade mal ein Jahr alt ist das Stück „Fehler im System“, das Folke Braband bearbeitet und jetzt als Regisseur  im Berlin-Steglitzer Schloßpark-Theater zur deutschen  Erstaufführung gebracht hat. Dabei geht es nicht, wie man vielleicht anhand des Titels argwöhnen könnte, um eine Mängelrüge an Schwächen unseres Systems der parlamentarischen Demokratie. Stattdessen liegt der Angelpunkt mehr im Vordergründig-Hintergründigen. Eine gewisse Duldsamkeit gegenüber Science-Fiction-Stories erleichtert dabei den Zugang und das ungetrübte Vergnügen. Weitere Vorkenntnisse sind aber nicht erforderlich.

Das Verhältnis von Menschen zu Maschinen macht inzwischen ein eigenes Literaturgenre aus. Seit sich diese Beziehung nicht mehr auf mechanische Analogien beschränkt, sondern durch die Fortschritte der Computertechnik immer pseudo-humanoider wurde, fragt sich der Fantasiebegabte natürlich, wohin diese Entwicklung noch führen kann und wo möglicherweise ihre Grenzen sind.

Aus diesem komplexen Stoff, der voller Fußangeln steckt, eine funktionierende Komödie zu machen, ist  eine Aufgabe, die Intelligenz und Feingefühl erfordert. Folke Braband ist dies dadurch gelungen, dass er eine Handvoll lebensnaher Typen konstruiert und sie mit treffend ausgesuchten Schauspielern besetzt hat. So folgt man der flotten Handlung, ohne zwischendurch abzuschalten, und die Palette der Charaktere bietet dem Publikum mannigfache Identifikationsmöglichkeiten.

Der jungen Frau Emma (Jasmin Wagner) wird eines Tages der menschenähnliche Haushaltscomputer Oliver 4.0 geliefert, der äußerlich aufs Haar ihrem Freund Oliver gleicht, den sie gerade im Streit aus der Wohnung komplimentiert hat. Einziger Unterschied: Im Gegensatz zu ihrem kiebigen Lover ist der automatische Oliver (Tommaso Cacciapuoti sehr gewandt in einer sorgsam differenzierten Doppelrolle) die Liebenswürdigkeit selbst, offeriert ständig in merkwürdig cooler Weise seine Dienste und zeigt sich in Küche und Wohnzimmer gleichermaßen anstellig. Dann kommt noch Emmas Vater Lea (Jürgen Tarrach) zu Besuch, der gerade mitten in einer Geschlechtsumwandlung steckt und sich in diesem Zustand  unter dem Jubel des Publikums gekonnt von Pointe zu Pointe hangelt. Endlich den gewünschten Körper einer Frau zu erlangen, nach dem er sich sein ganzes Leben lang gesehnt hat - kein operatives Opfer wäre ihm dafür zu hoch. Der „echte“ Oliver taucht wieder kurz auf und erweist sich als das alte Ekel, das nichts hinzugelernt hat.

Schliesslich stürmt noch der Kundendiensttechniker Chris (Guido Hammesfahr) auf die Szene, der von der Herstellerfirma ausgesandt ist, um aus der Rolle fallende Haushaltscomputer einzufangen und zur Wartungszentrale zu bringen. Dieser übereifrige Helfer hält nun den wirklichen Oliver für einen ausgeflippten Computertypen und transportiert ihn ab zum Service. Bis sich der Irrtum aufklärt, ist Emma mit ihrem Oliver 4.0 allein, und nun kommt alles, wie es kommen muss: der hochentwickelte Haushaltshelfer mit einer Software, die permanent hinzulernt, nähert sich den heimlichen Erwartungen Emmas immer mehr an, entwickelt regelrechte Gefühle und ist dann sogar auf sexuellem Gebiet („nicht so mechanisch“) ein geradezu idealer Partner.

Vater Lea wird aus der neuesten Geschlechtsüberarbeitung zurückgeliefert, nun vollends erblondet und mit allen Attributen einer etwas fülligen Matrone ausgestattet.  Der Ex-Oliver meldet sich noch einmal über Videotelefon, kann aber Emma nicht umstimmen. Oliver 4.0 glänzt dagegen mit seiner „Sprachentwicklungs- und Stimmerkennungssoftware“, und wenn er etwas nicht weiss, dann „fragt er Tante Google“.  Trotz aller Perfektion kommt er aber schliesslich an die Empfindungsgrenzen seiner Bauart und entscheidet sich in einer kurzen depressiven Phase, seinen gesamten Speicher „auf Werkseinstellungen zurückzusetzen“ - die völlige Angleichung an ein menschliches Wesen ist ihm nicht gegeben. Aber, mit den Worten von Servicetechniker Chris, „die Frage ist nicht, ob eine Maschine Mensch wird, sondern wann.“ Sie bleibt natürlich unbeantwortet - einstweilen rettet uns Menschen dieser kleine Unterschied.

Das ganze Spiel wird auf der Bühne mit einem hilfreich simplen Bühnenbild, wandlungsfähiger Lichtregie und präzise eingespielten Videoprojektionen flink in Gang gehalten. Das Publikum bedankt sich mit einem wahren Jubelsturm für zwei komödiantisch treffsichere Stunden, die kaum merklich  auch ein Quantum Nachdenklichkeit in sich tragen.

022617
Viel Lärm um herzlich wenig
B-Premiere „Gespenster“
im Deutschen Theater Berlin

Irgendwie verführt der Titel des Ibsen-Familiendramas „Gespenster“ (uraufgeführt 1882 in Chicago) Inszenatoren unserer Tage dazu, diese Vorlage nicht einfach vom Blatt spielen zu lassen, sondern sie zu einem regelrechten Gespenster-Reigen auszubauen. Was liegt näher, als hierfür nach ähnlichen Phänomenen und Gestalten aus anderen Stücken weiterer Schriftsteller zu suchen, die  untereinander in dieser Sache eine gewisse Verwandtschaft zu haben scheinen. Regisseur Sebastian Hartmann geht diesen Weg in seiner Neuinszenierung am Deutschen Theater Berlin. Er übernimmt den Ibsen-Titel, verquickt aber dessen Textanteil mit Elementen von August Strindberg und Heinrich Heine.  

Im Zuschauerraum empfangen klirrend verstärkte Akkorde von der E-Gitarre das allmählich einströmende Publikum - die beiden Livemusiker Ben Hartmann und Philipp Timm stimmen sich dröhnend ein, während sich die Akteure Zug um Zug auf der Bühne einfinden und gedankenverloren umherlaufen. Die Musik behält im Spielverlauf ihre autonom illustrierende Rolle und wartet mit wechselnden Einbringungen auf, die vom Heine-Chanson zu Beginn bis ohrenbetäubender Bass- Untermalung reicht, deren purer Schalldruck bereits Herzbeklemmungen auszulösen vermag.

Es sind mehrere Handlungsstränge, die Regisseur Hartmann aus den Texten der drei Autoren herauspräpariert, wobei ein Zuschauer ohne philologisches Handwerkszeug weder die Herkunft noch die Verknüpfung der Textelemente spontan orten kann. Sie ergeben gewissermassen das Gemenge einer Neuschöpfung, die eine gemeinsame Grundstimmung vermitteln soll. Es ist eine überaus düstere, pessimistische Atmosphäre, die hier trotz aller Zeitsprünge und Brüche durchgehend vorherrscht. Dabei sind die schauspielerischen Leistungen von Edgar Eckert, Felix Goeser, Gabriele Heinz, Markwart Müller-Elmau, Linda Pöppel, Karin Wichmann und Almut Zilcher insbesondere in einzelnen Szenen durchaus bemerkenswert, aber irgendwie springt der Funke der Anteilnahme nicht auf den Zuschauer über. Das hat zur Folge, dass die zwei Stunden ohne Pause trotz anhaltender Aktion streckenweise auch so etwas wie Langeweile erzeugen. Da ist die Mutter, die ihren Sohn von allen Vaterbindungen befreien möchte, damit aber letztlich erfolglos bleibt. Oder der Mann, der von seiner Frau in immer neue Zweifel an der Vaterschaft seiner Tochter gestürzt wird. Dazu wird geschrien, geflüstert, herumgerannt, kopuliert und masturbiert, was das Zeug hält, aber irgendwie fehlt das Element des Großartigen, das man als Zuschauer in sich aufnehmen möchte.

Was nicht bedeutet, dass es dieser Aufführung gänzlich an erinnerungsträchtigen Eindrücken gemangelt hätte. Da sind in erster Linie die fabelhaften Videoanimationen von Tilo Baumgärtel, mal auf den weißen Rundhorizont des Bühnenhintergrundes projiziert, mal auf bewegliche Stellflächen, und daraus ergibt sich ein sehr lebendiges umrahmendes Vexierbild, das die gespenstische Aura der ganzen Präsentation  wirksam unterstützt. Der Fluch der „Gehirnerweichung“ spukt dort ebenso glaubwürdig herum wie die verschiedensten Alpträume zwischenmenschlicher Beziehungen.

Nach den erwähnten zwei Stunden geben die Schauspieler selbst von der Rampe das Zeichen für den einsetzenden Schlußbeifall, der angemessen achtungsvoll, aber keineswegs überschwänglich ausfällt.



022017
Das Mittelalter um uns herum
Uraufführung „Edward II.“
in der Deutschen Oper Berlin

Selbst im Kreis illustrer Opernpremieren ist eine Uraufführung stets etwas Besonderes. Seit Monaten hat die Deutsche Oper Berlin ein solches Ereignis mit größter Sorgfalt vorbereitet, um es nun präsentieren zu können. Ort und Zeit der Handlung sind das englische Mittelalter des 14. Jahrhunderts. Wer aber nur einen Bilderbogen aus fernliegender, finsterer Frühgeschichte erwartet hatte, sah sich angenehm getäuscht.

Die Historie des englischen Mittelalters zur Zeit Edwards II. liefert hier vor allem Vorwand und Rahmen. Geboten wird in Wahrheit eine intelligente Szenenfolge über offene und verkappte männliche Homosexualität, ihre Überlagerung mit Machtspielen und die wesentlichen Kampfparolen ihrer Gegner. Ungeachtet einzelner burlesker szenischer Elemente geschieht dies alles sehr ernsthaft und mit zwingender Verknüpfung zu grundsätzlichen philosophischen Fragestellungen. Dabei ist die Darstellung nie trocken und hat unmittelbaren szenischen Reiz.

Warum nun dieser Griff in eine auf den ersten Blick reichlich weit entfernte Epoche der Geschichte ?  Leitfossil dieser Ausgrabungsexpedition ist der englische König Edward II., der  von 1307 bis 1327 regierte und ein reichlich umstrittener Herrscher war, der schließlich unter dem Druck seiner Gegner auf den Thron verzichten mußte. Ganz nebenbei stand ihm sein Günstling Piers de Gaveston näher als seine Ehefrau Isabella, die sich stattdessen dem Höfling Roger Mortimer hingab. Was lag also näher, als dass die Homosexuellenbewegung auf der Suche nach einem vorbildhaften Märtyrer auf Edward II. stieß - die umgebende Szenerie aus Kirche, Adel und Volk und ein zeittypisch hoher Level grausamer Folter- und Hinrichtungsmethoden liefern Material genug für einen in vieler Hinsicht lehrreichen Bilderbogen.

Thomas Jonigk schreibt ein intelligentes Libretto, das die einzelnen Szenen samt naheliegenden Gedankenverknüpfungen bildkräftig herausarbeitet. Die Musik von Andrea Lorenzo Scartazzini enthält gewiss keine Motive, die man später zu Hause nachpfeift. Sie ist aber überaus illustrativ, unterstreicht den szenischen Gehalt und kennt ausser dramatischem Schlagzeugeinsatz auch leise, besinnliche Töne, die beeindrucken. Mit dem Regisseur Christoph Loy wurde ein Inszenator gefunden, der in dem gothisierenden Bühnenbild von Annette Kurz eine fesselnde Folge von Auftritten mit hervorragend stilisierten Personen ansiedelt, die von dem immerwährenden Antagonismus zwischen Individuum und Masse berichten.

Den Titelhelden singt Michael Nagy mit kraftvollem Bariton, ein zwiespältiger Charakter mit schroff wechselnden Stimmungen. Seinem Liebling Gaveston gibt der tschechische Tenor Ladislav Elgr hingebungsvolle Stimme und belebende Jugendlichkeit. Königin Isabella ist die Schwedin Agneta Eichenholz - ein strahlender, markanter Sopran von zwingender szenischer Präsenz. Ihr Liebhaber Roger Mortimer ist Andrew Harris, ein betont männlich auftretender Bass mit markantem Erscheinungsbild. Den Bischof von Coventry, der ungeachtet seiner giftigen Kanzelreden selbst auf sexuelle Eigenart Wert legt, singt der Tenor Burkhard Ulrich, vorbildlich klar artikulierend. Ein Duo der besonderen Art bilden Markus Brück (Bariton) und Gideon Poppe (Tenor), die sowohl als Geistliche wie in stilgerechter Schwulenkluft  pointierte szenische Akzente setzen. Eine ganz besondere Charakterstudie liefert der Tenor James Kryshak als cooler Auftragsmörder, eine Figur, wie man sie aus dem KZ-Personal kennt. Der Bariton Jarrett Ott gibt mit imposanter Statur und einer sehr wandlungsfähigen Stimme den nur für Edward sichtbaren Engel, eine tröstliche innere Stimme mit philosophischer Hilfestellung im Angesicht des Todes. In der Knabenrolle des  jungen Prinzen, der  seinem Vater als Edward III. auf dem Thron folgen wird, spricht und singt sich Mattis van Hasselt beherzt durch seine Partie.  Am Schluss haben der Chor (Einstudierung Raymond Hughes)und die Statisterie noch einen großen Auftritt als Touristengruppe im Museum, die staunend und kopfschüttelnd den Erläuterungen zu historischen Figuren lauscht. 

Am Pult des Orchesters der Deutschen Oper Berlin lenkt Thomas Søndergard mit präziser Zeichengabe die Aufführung, in der zahlreiche virtuose Schlagzeugeinsätze und sehr saubere Blechbläsersoli besonders auffallen.

Das Publikum im ausverkauften Haus folgt dem szenischen wie musikalischen Verlauf mit sympathisierender Aufmerksamkeit und spendet am Ende ausgiebigen, anerkennenden Applaus ohne die sonst so häufigen Zwischentöne des Mißfallens.



021917
America first oder die enttäuschte Hoffnung
Repertoire: „Madama Butterfly“
in der Deutschen Oper Berlin

Sie gehört ohne Zweifel zu den erfolgreichsten Opern Giacomo Puccinis. Zunächst als Zweiakter konzipiert, wurde „Madama Butterfly“ dann zum Dreiakter umgearbeitet, der 1904 in Brescia erstmals aufgeführt wurde. Die Tragödie der kleinen Japanerin Cio-Cio-San, die als Geisha mit dem amerikanischen Marineoffizier Benjamin Franklin Pinkerton nach Landessitte getraut wird und dann, inzwischen Mutter eines Sohnes aus dieser Beziehung, eine erschütternde Enttäuschung erleben muss, hat von jeher die Herzen des Opernpublikums bewegt und gerührt. Pinkerton steht nach drei langen Jahren mit seiner tatsächlichen amerikanischen Ehefrau wieder vor der Tür der „Madama Butterfly“, aber nur, um tief zerknirscht den Sohn mitzunehmen. Cio-Cio-San gibt sich den Tod: „Wer nicht ehrenvoll leben kann, soll wenigstens ehrenvoll sterben.“

In der Deutschen Oper Berlin war jetzt die 140. Aufführung dieser Oper in der Inszenierung von Pier Luigi Samaritani zu erleben, die erstmals 1987 auf die Bühne kam - eine dieser langlebigen Stützen des Repertoires, die vom nie erlahmenden Publikumsinteresse zehren. Die Vitalität dieser Inszenierung ist durchaus bewunderungswürdig: Ein ausverkauftes Haus ist der Lohn sorgsamer Aufführungstradition. Besonders reizvoll an dieser Inszenierung ist, dass hier die chinesische Sopranistin Hui He die Rolle der kleinen Japanerin übernimmt - ein Hauch von asiatischem Flair findet auf diese Weise Eingang in die Handlung.

Das optische Bild dieser Inszenierung lebt von hintereinander gestaffelten Reihen zarter Gazevorhänge, die einerseits Räume abgrenzen, andererseits, vom Wind bewegt, auch Landschaften oder die Meeresoberfläche zu imaginieren vermögen. Als der zornige Onkel Bonze mit der ganzen Verwandtschaft auftaucht, um Cio-Cio-San wegen ihres Glaubenswechsels zu verfluchen, senkt sich ein blutroter Vorhang von oben herab. Im Vordergrund ist lediglich eine Zimmerwand in japanischer Leichtbauweise zu sehen, die sich zur Seite fahren lässt, um den Blick in die Weite freizugeben.

In dieser Szenerie bewegen sich die handelnden Personen in sehr einfachen, übersichtlichen Gängen. Da ist zunächst Diener Goro (Ya-Chung Huang), der als Vermittler zur Außenwelt agiert. Der amerikanische Konsul Sharpless, der das Unheil kommen sieht und es doch nicht abwenden kann, ist auch real Amerikaner (Noel Bouley), stammt aus Houston/Texas und skizziert mit kräftigem Bariton die Figur eines etwas hilflosen Diplomaten inmitten eines fremden Landes. „Butterflys“ helfende Begleiterin ist Suzuki (Katharina Kammerloher) mit ausdrucksvollem Mezzo, die alle Schmerzen ihrer Freundin mitfühlt und doch im entscheidenden Moment das Schicksal nicht aufhalten kann. Im Mittelpunkt der Handlung steht Hui He in der Rolle der Cio-Cio-San: eine kleine, aber zu großen Gebärden fähige Person, die ihre unerschütterliche Hoffnung bis zur schließlichen Katastrophe aufrecht erhält. Die Stimme der Sopranistin ist unerwartet kräftig, anfangs etwas belegt wirkend, dann aber zunehmend frei und mit weit ausgreifendem dramatischen Duktus. Stefano La Colla ist Pinkerton, ein hell getönter, in der Höhe leicht geschärfter Tenor, dessen anfängliche Verliebtheit sich in hilflose Feigheit angesichts der durch ihn ausgelösten Konflikte wandelt.

Yves Abel am Pult des Orchesters der Deutschen Oper konnte an diesem Abend anfänglich kein ungetrübtes Hörvergnügen servieren. Im ersten Akt gab es gelegentliche Synchrondifferenzen, und Puccinis so zarter, wie ein Hauch gezeichneter Orchestersatz wollte seinen Zauber anfangs nicht entfalten. Stattdessen stachen einzelne Instrumente hervor, und die verführerische Atmosphäre dieser japanischen Hochzeitswelt schien zu grob gezeichnet. Im weiteren Verlauf besserten sich viele Teilaspekte, sowohl die Geschlossenheit des Orchesterklangs wie die stimmliche Präsenz der beiden Hauptpersonen, und den berühmten Summchor vor der Nacht des Wartens konnten die von Thomas Richter einstudierten Damen des Chors mit aller erforderlichen Delikatesse darbieten.

Am Ende gabs reichen Applaus vom hochzufriedenen Publikum, allen voran natürlich für die überaus dankbar reagierende Hui He, aber in abgestufter Weise auch für die übrigen Solisten.

021617
Perfide Sinnlichkeit
„Weibsteufel“ von Karl Schönherr
im bat-Studiotheater Berlin-Weissensee

Der Autor Karl Schönherr stammte aus Axams in Tirol, war Arzt und Dramatiker und starb 1943 in Wien. Von seinen Bühnenstücken sind vor allem  „Glaube und Heimat“ (1910) und „Der Weibsteufel“ (1915) bis heute bekannt. Gelobt werden besonders die knapp gefaßten Texte und die holzschnittartige Zeichnung der Figuren. Sein letztes Werk „Die Fahne weht“ (1937) wurde in der Zeit des Dritten Reiches vielfach aufgeführt. Man hat seinen Arbeiten eine gewisse Nähe zur Blut-und-Boden-Ideologie nachgesagt, hält ihn aber für den wichtigsten österreichischen Dramatiker dieser Zeit neben Arthur Schnitzler.

Im bat-Studiotheater der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“  befreit Regisseurin Margarete Schuler den „Weibsteufel“ konsequent aus der etwas düsteren Atmosphäre der Tiroler Bergwelt und nimmt ihn als Parabel für eine Handlung, die eher an einen unserer „Tatorte“ erinnert. Ein Hehler(Alexander Stürmer) in einer gebirgigen Grenzregion will die in seinem Hause angehäufte Schmuggelware abtransportieren und scheut dabei lediglich die Wachsamkeit eines „Jägers“, der eigentlich Streifengänger der Zollverwaltung ist. Also weist er seine Frau (Deniz Orta) an, dem kräftigen jungen Zöllner (Tom Gramenz) „schöne Augen“ zu machen, um dessen  Aufmerksamkeit von der gehorteten Schmuggelware abzulenken. Sie nimmt diesen Auftrag gehorsam an. Was der Mann nicht voraussieht, ist, dass seine Frau Gefallen an dieser Aufgabe findet und ihre bisher schlummernde Leidenschaft ganz in den Dienst dieses Ablenkungsmanövers stellt. Sie händigt dem Jäger sogar ein verbliebenes Beutestück aus, damit der ihren Mann deswegen anzeigen kann. Er scheut diesen Schritt aber und bringt das corpus delicti zurück. Nun könnte er selbst wegen Unterschlagung angeschwärzt werden.

Die tiefere Absicht der Frau ist es aber wohl, sich materiell zu emanzipieren. Also bestärkt sie ihren Mann in der Absicht, das für  die Schmuggelware erlöste Geld für den Kauf des schönsten Hauses am Markt zu verwenden. Er kommt mit dem Kaufbrief zurück, und sie bringt ihn dazu, ihr das Haus für den Fall seines Todes zu überschreiben.

Nun ist kein Halten mehr. Noch immer schleicht der junge Jäger ums Haus und läßt sich von den sinnlichen Avancen der Frau betören. Längst will ihn der Mann aus der Nähe seiner Frau vertreiben und weist ihm die Tür. Ein letztes Mal treffen alle drei aufeinander, sie trinken auf die Zukunft, die Frau lebt ihre Gefühle in einem lasziven Tanz aus. Die beiden Männer geraten in Streit, und der Hehler kommt dabei zu Tode. „Du hast ihn erschlagen !“ sagt die Frau, auf einmal kühl distanziert, und verläßt die Szene. Sie wird das Haus am Markt erben, wie sie es gewollt hat.


Margarete Schulers Inszenierung ist eine solide, plausibel ausgeführte Regiearbeit, die auf einem quadratischen Plafond spielt und mit wenigen Requisiten auskommt. Die schauspielerische Leistung aller drei Akteure ist ohne Tadel, auch wenn die Übersetzung der eigentlich erforderlichen Mundart in ein gereinigtes Hochdeutsch etwas vom Lokalkolorit wegnimmt und die Besetzung der beiden Männerrollen  nicht ideal zum behaupteten Persönlichkeitsprofil passt. Eine überaus treffende Ergänzung sind die Sounds und Klangillustrationen, die live von Daniel Séjourné, Boris Leibold und Anne Schirrmacher beigesteuert werden. Viel Beifall vom Publikum in der leider nur zum Teil besetzten Weissenseer Spielstätte.

021117
Ein Traum-was sonst ?
Premiere von Kleists „Prinz Friedrich von Homburg“
im Berliner Ensemble

Es hatte ein wechselvolles Schicksal, Heinrich von Kleists Drama „Prinz Friedrich von Homburg oder die Schlacht bei Fehrbellin“, im Jahre 1810 verfaßt und der preussischen Prinzessin Marianne gewidmet, die es aber wegen vermeintlicher Kränkung der Familienehre ablehnte, weshalb es dann erst 1821 in gekürzter Form uraufgeführt werden konnte. Gänzlich gegenläufig dann die Karriere des Dramas im „Dritten Reich“, wo besonders der Konflikt zwischen Befehl und Gehorsam herausgearbeitet wurde. Der Komponist Hans Werner Henze hat die Handlung zum Gegenstand seiner Oper „Der Prinz von Homburg“ gewählt, die 1960 uraufgeführt wurde.  2012 gab es eine von Publikum und Kritik sehr gelobte Inszenierung des Schauspiels bei den Salzburger Festspielen.

Der scheidende Intendant des „Berliner Ensembles“, Claus Peymann, hat das Drama nun  als vorläufigen Abschluß seiner Berliner Bühnenpräsentationen in einer Neuinszenierung vorgestellt. Das Stück ist in seiner äusseren Gestalt nach Sprache und Aufbau zweifellos ein Klassiker, bietet aber im Rollenverhalten der dargestellten Charaktere sehr verschiedene Interpretations- und Deutungsmöglichkeiten. Es wirkt in allererster Linie durch die Schönheit seiner Sprache, den Adel des dargestellten Konflikts und die Lebensnähe der handelnden Personen.

Achim Freyer baut dem Regisseur eine denkbar simple Bühne, die aus einer halbkreisförmigen Schräge besteht, auf der sich ein paar weiße Linien perspektivisch zum Hintergrund orientieren. Ein bläulicher Lichtstrahl ragt von dort in den Zuschauerraum hinauf, wie ein gedachter Pfad zu den Sternen. Schwarz herrscht vor, wird durch wechselnde Lichteffekte den einzelnen Szenen zugeordnet. Die Kostüme ebenfalls schwarz mit ein paar weißen Applikationen. Gelegentlich ergänzen rötlich flammende Projektionen den wuchtig vom Band tönenden Schlachtenlärm.

Brandenburgische Geschichte wird ins Gedächtnis gerufen. Vor der Schlacht von Fehrbellin beobachten preussische Offiziere zusammen mit ihrem Kurfürsten Friedrich Wilhelm (Roman Kaminski) kopfschüttelnd, wie der Kommandeur der Reiterei, Prinz Friedrich Arthur von Homburg (Sabin Tambrea) geistesabwesend und schlafwandlerisch vom Sieg in der nächsten Schlacht gegen die Schweden träumt und sich versonnen einen Lorbeerkranz flicht. Im Gespräch mit Graf Hohenzollern (Matthias Mosbach)schildert der Prinz seinen Traum. Dann folgt die Unterweisung der Offiziere mit der Maßgabe an Homburg, mit seiner Reiterei nicht früher loszupreschen, als er dazu einen ausdrücklichen Befehl erhält. In der Schlacht meint Homburg dann, seinen Kurfürsten bedroht zu sehen, eilt ihm befehlswidrig zur Hilfe und schlägt das schwedische Heer in die Flucht. Entgegen seiner Erwartung wird er vom geretteten Kurfürsten für diese Eigenmächtigkeit vors Kriegsgericht gestellt, das ihn zum Tode verurteilt. Homburg bittet erst die Kurfürstin (Swetlana Schönfeld), sich beim Kurfürsten für ihn zu verwenden, dann dessen Nichte Prinzessin Natalie von Oranien (Antonia Bill), die selbst ein Dragonerregiment führt. Natalie sucht den Kurfürsten auf, und der erklärt sich bereit, Homburg zu begnadigen, wenn der sich ungerecht behandelt fühlt. Ausgerechnet an dieser Bruchstelle scheitert der Begnadigungsplan, weil Homburg nach reiflicher Überlegung das Urteil für berechtigt hält und bereit ist, dafür in den Tod zu gehen.

Das Programmheft gibt verdienstvollerweise den gesamten Text des Dramas wieder, einschließlich aller Striche und Ergänzungen, die von der Regie vorgenommen wurden. Gleichwohl weicht die letzte Szene, der zehnte Auftritt im fünften Akt, von der Vorlage ab. Der berühmte Schlusssatz „In Staub mit allen Feinden Brandenburgs!“ aus dem Munde des gesamten Offizierskorps wird schon viel früher gesprochen. Der Prinz von Homburg besteigt erneut traumverloren den Lichtstrahl zu den Sternen und stirbt im Kugelhagel. Anfang und Schluß sind Traumszenen.

Die Inszenierung hat unzweifelhafte Meriten. Die konstitutive Einheit von Ort, Zeit und Handlung bleibt durchgehend gewahrt, und die strenge Stilisierung in der Darstellung fördert die Konzentration auf das Wesentliche. Gleichwohl hätte man sich an manchen Stellen noch eine etwas eindringlichere Personengestaltung gewünscht, was vor allem durch die Sprachgestalt zu erreichen wäre. Den Publikumspreis für die geschlossenste Verbindung von Gestaltung und Artikulation erhält der wackere, strammbeinig hingestellte Oberst Kottwitz von Carmen-Maja Antoni. Auch von dem zu Recht bejubelten, feinsinnig sensiblen Sabin Tambrea in der Titelrolle wäre gerade in den lyrisch-poetischen Passagen noch etwas mehr vernehmliche Intensität ein Gewinn gewesen. Aber vielleicht bleibt dieser tragende sprachliche Ausdruck im Zeitalter von Mikroports und projiziertem Fließtext wirklich nur - ein Traum.


020717
Alptraum und Erlösung
„Netze“ im Theaterhaus Berlin Mitte

Wie kann man sich mit den Mitteln des Theaters dem Schicksal von Migrantinnen auf ihrer Verzweiflungs-Route in das erhoffte bessere Leben annähern ? Regisseurin Veronica Compagnone versucht es mit einer sehr konzentrierten Szenenfolge, die auch in der Wahl der Darstellungsmittel allen unnötigen Aufwand vermeidet und statt dessen in äusserster Einfachheit ungewöhnlich eindringliche Wirkungen erreicht.

Die kahle, ringsum schwarz abgehängte Bühne  gibt nur zwei Personen Raum: der Schauspielerin Sophie Maria Ammann und der im Hintergrund platzierten Cellistin Rachel Maio.  Diese beiden Interpretinnen gelangen zu monologischen Traumsequenzen von großem Nachdruck, ohne diese durchaus sensible und verletzliche Diktionsform an irgendeiner Stelle zu überlasten. Auf der gesamten Strecke ihrs Berichts gibt die Frau überaus plastische und bewegende Bilder ihres inneren Erlebens, bleibt bei aller poetischen Grundstimmung aber immer äusserst knapp und realistisch in der Schilderung dessen, was sie hinter sich hat und wovon sie glaubt, dass es in ihrer Zukunft liege.

Sophie Maria Ammann spricht klar und vernehmlich, aber ohne jede pathetische Überhöhung und ohne anklagende Ausfälle. Die emotionale Interpretation, den sensiblen Kommentar übernimmt mit bemerkenswerter Ausdruckskraft die begleitende Cellistin Rachel Maio.

Der Bericht beginnt mit ein paar Momentaufnahmen aus dem Lagerleben, wo die Zeit aus Warten besteht, sehr poetisch skizziert. Ein Netz am Boden ist wie Wüstensand, dahinter eine Art Teppichstange, die Erzählerin breitet Stoffbahnen darüber, wie zum Lüften aufgehängte Kleider. Dann nimmt sie diese Klopfstange wie eine unabweisbare Last auf die Schultern. Sie fühlt sich nicht sicher, auf die Toilette gehen die Frauen zu viert, zum Schutz. Sie hört die Dunkelheit, die Herzschläge, während die Nacht schläft. Zu essen gibt es Nudeln und Kartoffeln, immer wiederholt, ein Katarakt mit dem Wort „Kartoffel“. Grosses, und mit  Alliterationen ausgeschmücktes Gemüse, Orangen, von denen alles klebt, wenn es sie einmal gibt. Befragungen, zu denen man mit dem Aufzug fahren soll, anschliessend von Tür zu Tür geschickt. Sie steht auf einem Stuhl: Wo ist mein Herz ? Links, mittig oder rechts? Sie beginnt einen Tanz im Netz, verhakt sich. Dann rollt sie ein anfangs blassgrünes Papierband aus, tanzt  damit, eine intensive Choreographie. Sie zerreisst die Papierbahn, scheint auf einmal ein Baby im Arm zu haben, dem sie etwas vorsingt. Sie faltet die Papierbahn am Boden mit verzweifelter Sorgfalt zu einem Papierschiff. Die Flucht über das Meer: Nach Italien ! Da leuchtet Europa von ferne. Die Realität sieht anders aus: Fünfundvierzig Leichen ohne Namen in den Strassen von Sizilien.

Die Cellistin singt einen klagenden Blues, und die anonyme Frau trägt jetzt ein schwarzes Kleid. Sie sammelt die Papierfetzen auf: Hier bin ich jetzt, ein neues Zuhause, weit weg vom früheren. Was suche ich eigentlich ? Mein Glück, das wohl in der Zukunft liegt.

Ein nachhaltig beeindrucktes Publikum spendet ausgiebigen Beifall.

020317
Vom Film auf die Bühne
Premiere von „Zeit der Kannibalen“
in der Vaganten Bühne Berlin

Am Anfang stand ein erfolgreicher Spielfilm: „Zeit der Kannibalen“ von Johannes Naber wurde auf der 64. Biennale 2014 in Berlin uraufgeführt und bekam beim Deutschen Filmpreis 2015 die Auszeichnung  für das beste Drehbuch und eine Lola in Bronze. Das Drehbuch von Stefan Weigl hat Johannes Naber dann für die Bühne bearbeitet. Diese Version hatte jetzt in der Regie von Bettina Rehm an der Vaganten Bühne Berlin ihre Premiere.

Die Story ist eine punktuell recht bissige Satire auf das kapitalistische Wirtschaftssystem und die globalisierte Jagd nach dem materiellen Vorteil. Es gibt flott formulierte, streckenweise ausgesprochen geschliffene Dialoge, und wer die Verhältnisse in Wirtschaftsunternehmen aus eigener Anschauung kennt, dem werden manche Situationen geradezu vertraut vorkommen.

Die Szene hat das stets gleiche Ambiente anonymisierter Zimmer internationaler Hotelketten, und da sich diese Behausungen überall in der Welt gleichen, kann man Ortswechsel auch ohne wesentliche Abwandlungen der Szene suggerieren. Dies ist der Lebensraum von Frank Öllers (Johann Fohl) und Kai Niederländer (Björn Bonn), zwei ebenso versierten wie erfolgreichen Wirtschaftsberatern, die rund um den Globus agieren, um die Geldanlagen ihrer Kunden wachsen und gedeihen zu lassen. Es sind zwei abgebrühte Strippenzieher, die gänzlich auf die Tricks und Schachzüge ihrer Aktivitäten konzentriert sind und alles Übrige in der Außenwelt nur durch ihre professionalisierte Brille wahrnehmen. Im Regelbetrieb läuft diese lukrative Routine ganz ohne überflüssige Geräusche ab, und das nächste Flugzeug wartet immer schon. Längst ist den beiden zur Gewohnheit geworden, welche Dienstleistungen sie von ihren Hotels erwarten, wie sie mit dem Personal umgehen und wie sie das Aus- und Einpacken ihrer Koffer immer weiter optimieren können. Natürlich haben hier naßforsche Macho-Sprüche und die üblichen Prahlereien sieggewohnter, omnipotenter Männlichkeit ziemlich ungehemmten Auslauf. Der Hotelpage (Amer Kassab) und das sanfte Zimmermädchen (Senita Huskič) sind hier nur nahezu stumme Diener und gegen ein Trinkgeld zu allen denkbaren Gefälligkeiten bereit.

Bis dann im Auftrag der zentralen „Company“ eine Frau namens Bianca März (Hannah von Peinen) zu dem Beraterduo stößt, die allerdings in Rollenverhalten und Habitus aus dem gleichen Holz geschnitzt ist wie die beiden Profitjongleure. Anfangs ist ihre Aufgabe nicht klar zu erkennen, und eine Weile hält sich auch der Verdacht, sie könnte von der perfiden Zentrale ausgesandt sein, das Tun und Treiben der beiden männlichen Berater zu beobachten und darüber nach oben zu berichten. Der Eiertanz der Mutmaßungen wird aber bald von einer viel dringlicheren Sorge abgelöst: die allmächtige „Company“ steht zum Verkauf. Über den Videoschirm meldet sich der neue Inhaber John Schernikau (Axel Strothmann) und kündigt dem gespannt lauschenden Trio an, sie bekämen jetzt neue Verträge und würden zu Teilhabern ernannt. Die überschäumende Freude über diese Beförderung hält allerdings nicht lange an. Auf einmal sind alle Kreditkarten gesperrt, und man kann noch nicht mal mehr einen Flug an den nächsten Einsatzort buchen. Der ganze Karrieresprung war eine Falle, und die einst so mächtige Firma ist in Wahrheit pleite. Zu allem Überfluss dröhnen von draussen die Maschinengewehrsalven eines Bürgerkriegskonflikts herein, und den auf einmal mattgesetzten Akteuren bleibt nur das bange Abwarten im Hotelzimmer, ihre Business-Metallkoffer als notdürftigen Schutz über die Köpfe gebreitet.

Die knappe, an wohlformulierten Seitenhieben reiche Handlung ist im doppelten Wortsinn ein Kammerspiel, das gut auf die kleine Bühne des Theaters passt und keine großen Szenenwechsel  erfordert. Es wird präzise gesprochen und mit vollem Körpereinsatz gespielt, und so kommen die skurrilen Facetten dieses Berufslebens bestens zur Geltung. Das Publikum weiss die Globalisierungsrevue durchaus zu schätzen und spendet am Schluss ausgiebigen, anerkennenden Applaus.





020117
Aus dem Leben gegriffen
Premiere für Lutz Hübners „Wunschkinder“
im Renaissance-Theater Berlin

Wer kennt sie nicht, die meist etwas kleineren Autos mit der triumphierenden Feststellung  „Abi 200X“ hinter der Heckscheibe? Als wär’s eine gänzlich unglaubliche und unvergleichliche  Leistung, deren Erbringung man nun in alle Welt hinausschreien möchte. Lutz Hübners und Sarah Nemitz’ im Jahre 2016 uraufgeführtes Bühnenstück richtet den Punktstrahler genau auf diese Zeitscheibe im Lebenslauf junger Leute, und es zeigt sich: Was von weitem wie ein Ziel aussah, ist bestenfalls ein Etappenhalt, und wer bis dahin nicht darüber nachgedacht hat, wie es weitergehen soll, riskiert, in ein mentales und emotionales Loch allererster Güte zu fallen.

Solche und zeitgleich ähnliche Probleme behandelt das Stück mit dem gewiss auch doppelsinnig ironisch zu verstehenden Titel „Wunschkinder“ von Lutz Hübner und seiner Ehefrau Sarah Nemitz. Marc ist 19, hat gerade sein Abitur gemacht  und hängt nun mangels entsprechender Zielorientierung seit Wochen buchstäblich in der Luft. Arne Gottschling nimmt seine Rolle in der Inszenierung von Torsten Fischer am Berliner Renaissance-Theater zuerst mal ganz wörtlich. Das Bühnenbild von Herbert Schäfer und Vasilis Triantafillopoulos kommt mit ganz wenigen Utensilien aus. Vor dem Horizont mit einer Wattenmeerszenerie hängen aus dem Bühnenhimmel zwei Ringe, wie man sie aus den Turnhallen des Schulsports kennt. Arne Gottschling beginnt seine Auftritte mit ein paar formvollendeten Aufschwüngen an diesen Ringen, was ihm den ersten Szenenbeifall vom Premierenpublikum einträgt.

Damit beginnt eine Aufführung, in der von Anfang an die treffende Rollenbesetzung überzeugt. Klaus Christian Schreiber als Vater Gerd und Simone Thomalla als seine Frau Bettine sind zunächst die beiden Eckpunkte des Spannungsdreiecks zwischen Elternpaar und Sohn, und vor allem der Vater kritisiert die vermeintlich lethargische Orientierungslosigkeit des Abiturienten Marc. Dabei empfindet sich der Vater als durchaus liberaler Ratgeber, und die Mutter tritt zu Beginn eher ausgleichend und versöhnlich in Erscheinung. Später zeigen beide sehr viel mehr engagiertes Temperament. Klaus Christian Schreiber brilliert gemeinsam mit Simone Thomalla in einer Tanzszene mit höchst schmissiger „Puttin’ on the Ritz“-Interpretation, und Thomallas Bettine, eine sehr präzise artikulierende Sprecherin, kann im weiteren Verlauf herrlich in Rage geraten und dabei absolut mitreissend  die Szene füllen.

Damit nicht genug der sehr treffend gezeichneten Charaktere. Marc wendet sich einer Freundin zu, die mit ihrem Persönlichkeitsprofil der ganze Gegensatz zu dem dahinlebenden Abiturienten ist. Selma in Gestalt von Emma Lotta Wegner jobbt, macht ihr Abitur im Abendstudium nach und kümmert sich ausserdem um ihre psychisch instabile Mutter Heidrun (Judith Rosmair), die sich in einer überaus sorgfältig skizzierten Charakterstudie streckenweise als menschliches Wrack an der Grenze der Lebensfähigkeit darstellt. Selma wird schwanger von Marc, und nun kümmern sich alle Erwachsenen hingebungsvoll um die Frage, ob sie das Kind zur Welt bringen oder die Schwangerschaft abbrechen soll. Marc verliert den Kopf, wird aggressiv zu seiner Mutter und trampt nach Amsterdam, nachdem er zuvor Vaters Auto demoliert hat. Als die Abtreibung verworfen wird, wetteifern die Erwachsenen um eine Antwort auf die Frage, wo das Kind aufwachsen soll und wie diese Zeit materiell abgesichert werden kann.

Nun greift das Schicksal in den weiteren Gang der Handlung ein. Selma verliert das Kind, sie geht eigene Wege, und das Verhältnis zu Marc beginnt sich aufzulösen. Ganz von selbst treten die anfangs so prekären Fragen der Lebensgestaltung in den Hintergrund und machen neuen Konstellationen Platz. Das letzte Wort hat Bettines Schwester Katrin (Angelika Milster), die bereits zuvor mehrfach als Ratgeberin aus eigener Erfahrung in Erscheinung getreten war. Sie berichtet lapidar über die inzwischen eingetretenen Lebensumstände der Hauptpersonen, in denen sich die einstigen Konflikte nicht mehr abbilden.

Das Publikum folgt mit Anteilnahme und verständnisinnigen Reaktionen dem Gang der Handlung, in der sich viele Situationen abbilden, die man aus eigenem Erleben kennt. Es gibt begeisterten und lärmend zustimmenden Applaus, und  die Akteure werden  mit  Blumen überschüttet, allen voran Simone Thomalla. Auch das Regieteam wird in die begeisterte Zustimmung einbezogen -  der Erfolg der Aufführung kann sich sehen lassen.




012817
Traumsequenzen im Mikrokosmos
Tennessee Williams’ „Die Glasmenagerie“
im Deutschen Theater Berlin

Ein Stück über den amerikanischen Traum von Macht und Größe, von Glück und erfülltem Leben und der immerwährenden „pursuit of happiness“ ist dieses Bühnenwerk vom Amerikaner Tennessee Williams aus dem Jahre 1944.  Es lebt von der Spannung zwischen den Aufschwüngen und immer erneuten Anläufen im Irrealen und den abgrundtiefen Depressionen bei der Konfrontation mit der Realität.

Die kleine, armselige Welt einer Restfamilie. Der Vater ist vor Jahren verschwunden und existiert nur noch als Erinnerungsbild an der Wand, dem sich  die Hinterbliebenen immer kurz vor dem Essen als eine Art Tischgebet zuwenden. Mutter Amanda Wingfield (Anja Schneider) ist zwar die älteste der drei Hauptpersonen, aber sie wähnt sich noch in der Blüte ihrer Jahre und sucht ihre beiden Kinder Laura (Linn Reusse) und Tom (Marcel Kohler) in pausenlosen Motivationsappellen auf den Weg zu einem erfolgreichen Leben zu bringen. Laura ist behindert und eher schüchtern introvertiert, beschäftigt sich mit einer Sammlung zerbrechlicher Glastiere sowie zwei prächtigen Edelhühnern und hat keine Kommunikation mit der Außenwelt. Ihr Bruder Tom ist ein schlaksiger Fabrikarbeiter, der seine Frustration mit häufigen Kinobesuchen kompensiert. Er bringt eines Tages auf inständige Bitten der Mutter einen Arbeitskollegen zum Essen mit, Jim O’Connor (Holger Stockhaus), der sich als Bekannter aus Lauras Schulzeit entpuppt und den verkorksten Mikrokosmos der beiden Frauen mächtig aufmischt.

Regisseur Stephan Kimmich holt diese Sammlung eher depressiv gestimmter Traumsequenzen entschlossen in die Jetztzeit und peppt sie mit bühnenwirksamen Akzenten auf. In einem Bühnenbild aus grünlich schimmernden Holzwänden mit amerikanischer Klimatechnik(Bühne: Katja Haß) weist er Laura eine Arbeitsecke mit Nähmaschinen zu, während Tom sich gelegentlich im Obergeschoß verkriecht und Mutter Amanda ab und zu in der Küche verschwindet. Laura legt häufig Schallplatten auf, was wohl auch als eine Flucht in die Illusion zu deuten ist. Statt der eleganten Swingmusik der vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts hört man jüngere Popmusik, die sich zu einer ganzen Playlist formiert.

Nach der Pause fiebern die beiden Frauen dem Besuch von Jim entgegen. Als erste steigert sich Laura in einem leichten Frühlingskleid zum Sound von Donna Summers’ „I feel love“ in einen ekstatischen Solotanz, der ihr begeisterten Szenenapplaus einbringt. Dann betritt Jim die Szene, vom Kollegen Tom eingeführt. Es folgt eine perfekt inszenierte Folge halb schüchterner, halb albern verspielter Annäherungsmomente, von denen zunächst  Mutter  Amanda wie eine Verdurstende das erotische Flair zu geniessen versucht. Als knallrot kostümiertes Teeniegirl kehrt sie aus der Küche zurück und umgarnt den Gast. Als die erotische Spannung den Höhepunkt erreicht, erlischt das Licht - die Stromrechnung war wohl nicht bezahlt. Bei Kerzenlicht kommen sich Jim und Laura näher, entdecken ihre gemeinsame Vergangenheit und lassen die ersten Hüllen fallen. Jim erwacht als erster aus dieser Träumerei: er ist ja mit Betty verlobt, die er im nächsten Jahr heiraten will. Mit tausend Entschuldigungen stiehlt er sich davon, und Tom als Erzähler träumt von einem Dauerlauf des Erfolges durch die großen Städte. Zurück bleiben die beiden Frauen, deren Los die Resignation ist.

Der Handlungsablauf gibt den Schauspielern mannigfache Gelegenheit zu bemerkenswerten Sololeistungen, die vom Publikum lebhaft bejubelt werden. An erster Stelle sind hier die herrlich verklemmten Extempores von Anja Schneider auf ihrer Suche nach spätem erotischem Reiz zu erwähnen. Aber auch Jims virtuose Solonummer für Laura, in der er eine ganze Jazzband akustisch imitiert, ist hervorzuheben. Aus Lauras Schüchternheit (bis auf ihren aufreizenden „Erotic dance“) und aus Toms Arbeiterträumen lassen sich weniger Funken schlagen. Insgesamt aber eine überzeugende Ensembleleistung,  die mit anhaltendem Applaus bedacht wird.


012417
Eines Katers wundersame Wirkungen
„Die Affäre Rue de Lourcine“
im Deutschen Theater Berlin

Er war ein überaus produktiver Komödienschreiber, der französische Autor Eugène Marin Labiche, aus dessen Feder unter anderem auch „Das Sparschwein“ in der Botho-Strauß-Übersetzung von 1973 dem Berliner Theaterpublikum noch in guter Erinnerung ist. Seine „Affäre Rue de Lourcine“ stammt aus dem Jahre 1857 und speist sich eigentlich aus einer ganz simplen Kernidee, deren Wirkungen sich auf wundersam bühnenwirksame Weise erweitern und steigern.

Was die Regisseurin Karin Henkel nun aus dieser Vorlage herausholt, ist in hohem Maße ergötzlich und unterhaltsam, und die Bühne mit drei Kreissegmenten auf einer Drehbühne, die den Ort der Handlung aus verschiedenen Perspektiven zeigt (Bühne: Henrike Engel), ist ihr dabei eine adäquate Unterstützung. Noch während sich der Zuschauerraum füllt, betreibt ein achtköpfiges Putzgeschwader in aseptischer Montur eine akribische Tatortreinigung der gesamten Vorderbühne mit Sprühspray und Kameradokumentation.

Oscar Lenglumé (Michael Goldberg) ist böse bezecht vom Klassentreffen mit den Ehemaligen heimgekehrt. Nun quält er sich, nach verwunderter Mahnung vom Stubenmädchen Justine (Wiebke Mollenhauer) und von der Ehefrau Norine (pointiert präzise: Anita Vulesica) endlich aus seinem Bett, rutscht die dort angesetzte Rampe herunter und präsentiert in einem ersten Monolog seine Erinnerungslücken und katertypischen Malaisen. Später stellt sich heraus, dass eine zweite Person namens Mistingue (Felix Goeser) auf dem selben Lager übernachtet hat und nur mit größter Mühe in den Tag hineinfindet. Was die beiden da an fürchterlichen Alkoholfolgen vorführen, würde jeder Entziehungsklinik als abschreckendes Beispiel dienen können. Zu den Nachwirkungen des genußreichen Abends gehört auch ein Flatulissimum vom Feinsten, worüber sich das animierte Publikum kringelt. Am schlimmsten ist aber, dass - ausgelöst von einer Zeitungsanzeige - in den beiden Klassenkameraden der Verdacht aufkeimt, sie könnten in ihrer vernebelten Rage ein junges Mädchen getötet haben. Jetzt wird diese fatale Möglichkeit mit wuchernder Fantasie ausgeschmückt, und beide sehen sich schon als ertappte Mörder, die nun natürlich auch alle Mitwisser und Belastungszeugen aus dem Wege räumen müssen. Diese haarsträubende Entwicklung der Geschichte wird nun hingebungsvoll verfolgt und ausgeschmückt.

Indes: im selben Maße, wie die Folgen des Alkoholexzesses nachlassen, drängt sich auch wieder das banale, reale Leben nach vorn, und die ausufernden Blähungen der Imagination erweisen sich - zum Glück - als vorübergehende, vom schlechten Gewissen induzierte Schreckbilder. Der Sohn (Camill Jammal) präsentiert einen schmissigen Finalsong - das war’s.

Lebhafter Beifall vom Publikum und eine Rose für die Darsteller - schliesslich war es die (vorerst ?) letzte Vorstellung dieser Erfolgsproduktion.

012217
Des Soldaten Glück
Premiere von Lessings „Minna von Barnhelm“
im Schloßpark-Theater Berlin-Steglitz

Klassiker haben im Steglitzer Schlossparktheater durchaus Tradition. Der Kritiker erinnert sich, hier beispielsweise als Schüler am 27. März 1960 Tschechows „Drei Schwestern“ gesehen zu haben. Das kleine Schauspielhaus, das seit 1921 im heutigen Domizil residiert, war einst die assoziierte Bühne des großen Schillertheaters am Charlottenburger Ernst-Reuter-Platz. Nach dem Ende der Staatlichen Schauspielbühnen 1993 war sein Schicksal ebenso wechselvoll wie sein Spielplan. Seit Dieter Hallervorden 2008 die Verantwortung für das Steglitzer Theater übernommen hat, kommt immer mal wieder ein Klassiker auf die Bühne, vermischt mit Erfolgsstücken unserer Tage. Jetzt hatte Gotthold Ephraim Lessings Komödie „Minna von Barnhelm oder das Soldatenglück“ in der Regie von Thomas Schendel dort Premiere. Lessing schrieb mit der 1767 uraufgeführten „Minna“ das bekannteste Lustspiel der deutschen Aufklärung und eine der wichtigsten Komödien der in diesem Genre eher knapp besetzten deutschen Literaturgeschichte.

Die Handlung spielt kurz nach Ende des Siebenjährigen Krieges im Jahre 1763. Major Tellheim (Oliver Mommsen) ist ein etwas sperriger Charakter in mißlicher Lage: verwundet, unehrenhaft aus preussischem Armeedienst entlassen (wegen eigentlich ehrenwerter eigener Widersetzlichkeit) und in seinem  Ehrgefühl tief verletzt. Nun steigt er mit seinem Diener Just (Anton Spieker) in einem Berliner Gasthof ab, um dort den Ausgang seines Prozesses abzuwarten, in dem es um die Erstattung ihm zustehenden Geldes und die Wiederherstellung seiner Reputation geht.

Der ganze Gegenpol zu diesem angeschlagenen Charakterbild ist Tellheims Verlobte Minna von Barnhelm (Katharina Schlothauer), ein vermögendes, adeliges Fräulein mit thüringischem Landbesitz, überaus tatkräftig und mit unbeugsamem Lebensmut ausgestattet. Zusammen mit ihrer Vertrauten Franziska(Maria Steurich)  macht sie sich ungeachtet der wirren Nachkriegszeit nach Berlin auf, um ihren Verlobten Major Tellheim zu suchen, dessen Spur sie in den kriegerischen Auseinandersetzungen verloren hat, die mit der Niederlage Sachsens und dem verlustreich erkämpften Sieg Preussens endeten.

Tellheims Selbstachtung bekommt den nächsten Dämpfer, als der Wirt des Gasthofs(Harald Heinz) ihn aus seinem Zimmer expediert, um einer adeligen Dame Platz zu machen, bei der es sich ausgerechnet um seine Verlobte handelt, deren er inzwischen aber nicht mehr würdig zu sein glaubt. In seiner äussersten Geldnot schickt er seinen Burschen Just zum Wirt mit dem Auftrag, seinen einst von Minna erhaltenen Verlobungsring zu Geld zu machen. Der Wirt zeigt diesen Verlobungsring nichtsahnend der inzwischen einlogierten  Minna, die nun ihren Verlobten in der Nähe weiss. Schritt für Schritt hellt sich nunmehr der Himmel für Tellheim auf: sein früherer Wachtmeister Paul Werner (Oliver Nitsche) bietet ihm Geld an, was er aber ablehnt. Bei Minna wird ein radebrechender Franzose namens Riccaut de la Marlinière (Mario Ramos) vorstellig und luchst ihr eine Geldspende ab, die er am Spieltisch nutzbringend einsetzen will. Ganz nebenbei überbringt er die Botschaft, dass Tellheims Prozeß durch das Eingreifen des Königs einen günstigen Ausgang genommen habe, was später ein Feldjäger (Christian Hartmann) bestätigt.

Noch sind aber nicht alle Komplikationen beseitigt, und einen Augenblick lang sieht es sogar danach aus, dass Minna versucht hätte, die Verlobung zu lösen. Wie es sich aber für eine Komödie gehört, verziehen sich am Ende alle Wolken, die gegenseitige Zuneigung der Verlobten ist bestätigt, und einer glücklichen Zukunft beider steht nichts mehr im Wege.

Regisseur Thomas Schendel lässt den verdienstvollen Klassiker in flotter Folge spielen. Das Bühnenbild von Daria Kornysheva mit Brokat-Tapeten und einem Konterfei Friedrichs des Grossen an der Wand unterstützt ihn dabei ebenso wie die kleine Drehbühne, die einen raschen Szenenwechsel bei gleichbleibendem Rahmendekor ermöglicht. Die einzelnen Figuren werden individuell charakterisiert und geben dem Spielverlauf das nötige Kolorit. Oliver Mommsen gestaltet souverän den Sinneswandel des Majors vom zerknirschten Pechvogel zum wieder feurigen Liebhaber. Katharina Schlothauer gewinnt alle Sympathien für ihre überaus lebendige Studie einer liebenden jungen Frau. Maria Steurich gibt der Rolle der Franziska den ganzen Charme des einfachen Mädchens mit leicht sächsischem Akzent auf den Weg, das am Ende sogar den bewunderten Wachtmeister Werner in die Ehe entführt.

Lebhafter Premierenapplaus vom Publikum im vollbesetzten Theatersaal, dazu Blumen für den Regisseur und das Ensemble aus der Hand des Intendanten Dieter Hallervorden.


011517
Ein ruheloser Maler
Wagners „Der  Fliegende Holländer“
in einer Aufführung der Finnischen Nationaloper
über Internet auf  The Opera Platform, dort weiterhin zu sehen

In der Regie von Kasper Holten leitet John Fiore das Orchester und den Chor der Finnischen Nationaloper, beide Ensembles hervorragend disponiert und gänzlich auf der Höhe von Richard Wagners frühem Meisterwerk.

Schon die Ouvertüre wird genutzt, die später fortgeschriebene Story einzuleiten. Ein Maler im Atelier verzweifelt an seiner Fähigkeit, das Wesen seines Modells in dem Malwerk wiederzugeben, das auf der Staffelei steht. Er tritt aus dem Atelier hinaus ins Leben und kommt in flüchtigen Kontakt mit anderen Frauen wechselnden Temperaments und Typs, findet aber keine  für ihn geeignetere Gestalt.

Die Eingangsszene des Ersten Aufzugs stellt eine Vernissage mit flanierendem Party-Publikum dar, in der Daland (Gregory Frank ) von der rettenden Ankunft im Schutze eines Felsens berichtet, wohin er mit seinem Schiff vor dem Sturm geflüchtet war. Sein Steuermann (mit exzellent strahlendem lyrischenTenor: Tuomas Katajala) trägt seinen Song vor, mit dem Sektglas in der Hand, und schliesslich singt der bis dahin gespenstisch schweigsame Holländer, eben jener Maler aus der Ouvertürenszene, seine Ballade "Die Frist ist um ", mit nunmehr heldisch-dramatisch voluminösem Bassbariton (Johan Reuter), an deren Ende er sich im angestammten Atelier wiederfindet und resigniert feststellt: "Um ew'ge Treu auf Erden ist's getan!" Trost sucht er im Griff zur Flasche.

Der Steuermann kommt ins Atelier und leitet den Dialog zwischen Daland und dem Holländer ein. Woher und wohin? Das Geheimnis des  weitgereisten Holländers und seines Schiffes prägt die Szene. Des Holländers Bitte um Gastfreundschaft, unterstützt vom Angebot reicher Schätze aus seiner Schiffsladung, nimmt Daland an. Als der Holländer von Dalands Tochter hört, sind beide vollends einig. Der Vater rühmt den Charakter seiner Tochter, die ein Muster der Treue sei. Der Holländer seinerseits schöpft Hoffnung, dass sie "mein Engel sein" könnte.

Beide Schiffe starten in Dalands Heimathafen. Während des Matrosenchors steht der Holländer-Maler mit erstarkter Kreativität vor seiner Staffelei und vollendet das Bild.

Den zweiten Aufzug eröffnet die lebhaft strukturierte Spinnstuben-Szene, die hier eine Töpferwerkstatt ist, belebt auch durch die reizvolle Farbregie in den Kostümen: alles weiss oder dunkelblau, dazu ein grüner und ein roter Farbtupfer. Das grüne Gewand gehört Senta( mit gut geführtem dramatischen Sopran : Camilla Nylund), die nun zum Vortrag ihrer Ballade anhebt. Dazu breitet sie eine Rolle weisses Papier auf dem Boden aus, das sie mit den entschlossenen Strichen eines in Farbe getauchten Besens koloriert - quasi ebenfalls eine Aktion der Malerei. Ihre ausdrucksvolle, klar artikulierende Stimme gibt der Erzählung Spannung und Kontur.  Aus der blossen Bodenmalerei wird dann ein mehrdimensionales Event - Senta  bedeckt sich in emphatischer Begeisterung selbst mit Farbe. Dalands Schiff landet.

Die Drehbühne leitet zum Nebenraum über, Dialog zwischen Senta und dem Jäger Erik, dem anderen Bewerber um Sentas Gunst ( Mika Pohjonen). Stilistisch und musikalisch wirkt diese Auseinandersetzung im Vergleich zu ihrer musikdramatischen Umgebung etwas konventionell und spröde. Erik bekommt gleichfalls seine Ballade und nützt sie zur Wiedergabe einer düsteren Traumvision von Sentas Zukunft. Senta sitzt unbeirrt vor ihrem Apple-Notebook, wendet sich dann zur Seite und erblickt (Drehbühne) durch eine Glaswand ihren Vater und den Holländer im Gespräch. Daland rät seiner Tochter, den fremden Gast freundlich willkommen zu heissen. Mehr noch: Sie möge erwägen, ihn zum Mann zu nehmen.

Das Zwiegespräch zwischen Senta und dem Holländer schließt sich an. Mit vorsichtigen Schritten geht der Holländer-Maler um die am Boden liegende Leinwand herum, die Senta in der Spinnstube bemalt hatte. Senta holt eine Handycamera aus dem Nebenraum und filmt die ganze Szene ab. Ihre Replik nimmt dann wieder der Holländer per Handy auf: Dialog durch wechselnde Handy-Spots. Das Fernsehbild der Übertragung wechselt zwischen Bühnenoriginal und Handybild. Senta bekennt sich zur „Treue bis zum Tod“. Übergang in den Nebenraum, das bekannte Atelier mit der Lagerstatt, auf der zu Beginn das Modell des Malers gelegen hatte. Bekenntnishafte Leidenschaft im folgenden Duett. Daland kommt hinzu und lädt zum Verlobungsumtrunk. Der Holländer streift Senta den Verlobungsring über den Finger.

Szenenwechsel, Dritter Aufzug.  Das Fest der Matrosen: Senta und der Holländer teilen einträchtig die Lagerstatt in der Bühnenmitte, dahinter zucken Blitze am Horizont. Die Matrosen („Steuermann, lass die Wacht“) mit ihren Mädchen umtanzen das verliebte Paar, die hinreissende Tanzmelodie hat federnde Spannung. In der Menge ist Senta auf einmal verschwunden, der Holländer irrt nach ihr suchend umher. Eine Gruppe Matrosen bedrängt und nötigt ihn zu ausgiebigem Alkoholgenuß. Allgemeine Verbrüderung. Dann braust wieder der Sturm auf, die Stimmen der Matrosen vom Holländerschiff sind zu hören. Mannschaften verfolgen den Holländer durch die Räume seiner Behausung. Er erwacht neben Senta auf der Lagerstatt wie aus einem bösen Traum. Es klopft an der Tür, Senta öffnet : Erik steht da und macht ihr wütende Vorhaltungen. Konfrontation, vom Holländer im Hintergrund mit Bangen verfolgt. Hatte sie etwa schon Erik die „ew’ge Treue“ gelobt ? Erinnerungsfotos auf Eriks Handy scheinen das zu belegen. Der Holländer wähnt seine Sache verloren. Ein hochdramatisches Schlussterzett, ein letztes Mal wird an des Holländers Schicksal erinnert, auf ewig in der Welt umherzuirren, wenn nicht ein Weib ihm Treue bis zum Tode hält. Er greift zur Pistole und erschießt sich  - da bekennt sich Senta endgültig zu ihm, wieder eingetaucht in die Partyszenerie der realen Welt, in der nur auf Videobildern vom Bildschirm noch einmal an den Holländer erinnert wird. Unter Tränen gedenkt Senta ihres Traums.

Summa: Wieder eine Inszenierung ohne auch nur den Schatten der Silhouette eines Grossseglers auf der Bühne. Dafür überzeugt aber die Geschlossenheit der dargestelllten Handlung, die Sorgfalt der Einstudierung und die Besetzung der Hauptrollen, die mit herausragenden Stimmen glänzen kann.
       

011517
Buchbesprechung
Robert Harris
Konklave

Erschienen bei Heyne

Zur Abwechslung mal eine Notiz über einen Buchband, den ich auf dem weihnachtlichen Gabentisch vorgefunden hatte und den ich seither immer stückweise konsumiert habe, ohne ihn den Rest des Tages gänzlich aus den Gedanken verdrängen zu können. Autor Robert Harris hat seine schriftstellerische Karriere vor allem mit Beststellern wie „Vaterland“, „Cicero“, „Pompeji“ und „Imperium“ markiert, die sich zumeist der anspruchsvollen Aufgabe widmen, die antike Welt vor den Augen des fantasiebegabten Lesers neu und so lebendig wie möglich erstehen zu lassen.

Sein neuester Roman „Konklave“ von 2016 scheint auf den ersten Blick im Kielwasser erfolgreicher Filme wie „Sakrileg- The da Vinci Code“ und  „Illuminati“ zu schwimmen, in denen die geheimnisvolle, von der Aura des Spirituellen geprägte  Welt des Vatikans zum Hintergrund der Darstellung finsterer Machenschaften auch kirchlicher Würdenträger gewählt wurde. In Wahrheit ist aber „Konklave“ sehr viel mehr und befriedigt sowohl die Ansprüche mehr intellektuell orientierter Krimileser wie auch die Neugier von Zeitgenossen, die gern etwas mehr über die ritualisierte Mechanik der Papstwahl und die Details im Ablauf einer Wahlversammlung hoher kirchlicher Würdenträger aus aller Welt erfahren wollen. Robert Harris scheut keine Mühe, genaueste Details akkurat zu recherchieren und sie zu einem erstaunlichen Dokument der Ortsschilderung zu verdichten. Damit aber nicht genug: der Leser braucht ein wenig Zeit, um sich in die Vielfalt der hier skizzierten Charakterbilder der Kardinäle hineinzufinden, die Hierarchie der Akteure und ihrer Helfer gänzlich aufzunehmen. Schon nach kurzer Zeit wird er allerdings in dieses Handlungsschema buchstäblich hineingesogen und verfolgt mit wachsender Anteilnahme die Enthüllung des feinen Gewirks von Absprachen und Intrigen, das jedem der Wahlgänge im Laufe des Konklaves zugrunde liegt. Dabei scheut der Autor keineswegs die Verknüpfung mit Konflikten neuesten Datums, die zum Beispiel aus der Auseinandersetzung mit dem Islamismus herrühren.

Insgesamt eine empfehlenswerte Lektüre für Freunde guter Kriminalromane ohne allzu reißerische Ausfälle und mit einem erheblichen, fair recherchierten Wissenszuwachs über ein paar Aspekte des Funktionierens der römischen Universalkirche. Religiöse Empfindungen werden durchaus behutsam behandelt, und auch die Fragen über das Zusammenwirken von Gott und Heiligem Geist klingen an. Menschlich-Allzumenschliches vor dem Hintergrund des ehrwürdigen Gebäudes klerikaler Überlieferungen - Robert Harris hat sich auf diesem gewiss nicht einfachen Terrain überzeugend umgetan.



010117
Ausklang und Übergang
Silvesterkonzert von Concerto Brandenburg
in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche Berlin

Lange vorher war es angekündigt, das Silvester-Festkonzert des Ensembles Concerto Brandenburg unter Leitung von Florian Merz, und nun lag das Ereignis des  Attentats vom 19. Dezember, das auf dem Weihnachtsmarkt wenige Meter vor der Gedächtniskirche stattgefunden hatte, wie ein Schatten über dieser Lokalität. Das Orchester hatte sich dafür entschieden, das Programm eingangs durch Wolfgang Amadeus Mozarts „Maurerische Trauermusik“ c-moll KV 477 zu erweitern. Zunächst hatte sich das Publikum für eine Gedenkminute von den Plätzen erhoben, dann erklangen die getragenen, weit ausschwingenden Melodiebögen der Mozart-Komposition.

Anschliessend ist Mozarts Ouvertüre zu „Don Giovanni“ an der Reihe, mit Donnergepolter eingeleitet, gefolgt von sehr farbenreichen Interjektionen und überaus feinem Streicherton. Die charakteristische Artikulation historischer Holzblasinstrumente geht ebenso ins Ohr wie die markante Stimme der Hörner.

Die weitere Programmfolge musste wegen einer Erkrankung umgestellt werden. Nun singt der Countertenor Eric Jurenas, der unter anderem an die Komische Oper verpflichtet ist, die beiden Sopranarien des Cherubino aus Mozarts „Die Hochzeit des Figaro“. „Voi che sapete“ wird etwas süffig in die Melodielinie hineingelegt, hat eher Mezzoklang, lässt aber jedenfalls aufhorchen. Dann die zweite Arie „Non so più cosa son, cosa faccio“ : hier schlüpft diese sonst von Künstlerinnen gesungene Partie in eine männliche Kehle und macht sich dort eigentlich sehr gut, weil Cherubino ja nun mal ein junger Mann ist - der Appetithappen weckt die Hoffnung, den Cherubino tatsächlich einmal von einem jungen Countertenor gesungen zu hören.

Darauf drei Sätze aus einer Sinfonie  von Christoph Willibald Gluck. „Allegro“,„Andante“ und abermals „Allegro“ aus der „Weimarer“ .Florian Merz dirigiert den ersten kraftvoll zupackend, die beiden Hörner steuern die pointierenden Akzente bei. Der Kirchenraum mit seinem hohen Lichterbaum verwandelt sich in einen durchaus stimmungsvollen Kammermusiksaal. Dann der eher von langsamem Schreiten geprägte Andante-Satz, dessen zarter Ausdruck auch Flöte und Cembalo charaktervoll zur Wirkung kommen lässt. Schliesslich folgt ein sehr lebendiger Allegrosatz, mit grosser Akkuratesse interpretiert.

Eine Countertenor-Arie aus dem „Messias“ von Georg Friedrich Händel schliesst sich an, bei der wiederum die sehr gewandte Counterstimme von Eric Juvenas überzeugt und in Verbindung mit den historischen Instrumenten des Orchesters ein authentisches Klangbild vermittelt.

Den Abschluss des Konzerts bildet  Joseph Haydns Sinfonie Nr. 99 aus dem Jahre 1793. Der erste Satz hat einen langsamen Einstig und wird dann „vivace“ fortgeführt, immer am historischen Originalklang ausgerichtet, was in diesem Kirchenraum bisweilen etwas lärmend klingt, aber so den Eindruck frischer Lebendigkeit vermittelt. Applaudiert wird nach jedem Satz.
Der zweite „Adagio“ bietet sanften Streicherklang und aparte Dialoge der Holzbläser. Das Tempo gewährt die Muße, diese Melodielinien in aller Ruhe zu zeichnen und Schritt für Schritt zusammenzuführen.
Im dritten Satz „Menuett (Allegretto) und Trio“ entfaltet sich unter dem Dämmerschein der blau leuchtenden Glasfenster eine Tanzmelodie, die wieder partiell ein wenig schroff klingt. Das in der Mitte eingefügte Trio gibt sich betont anmutig.
Der vierte Satz „Finale (Vivace)“ setzt zunächst behutsam ein und nimmt dann frisch voranstürmend Fahrt auf, mit aparten Verzierungen, die auf den Originalinstrumenten sehr plastisch zur Geltung kommen.

Der Schlußapplaus des Publikums dankt ausführlich für ein sehr stimmungsvolles Konzert zum Jahresausklang an einem Ort, der tragischerweise ein Merkzeichen für 2016 wurde. 

121416
Glockenspiel und Flötentöne
Repertoirevorstellung „Die Zauberflöte“
in der Deutschen Oper Berlin

Diese 1791 in Wien uraufgeführte Oper von Wolfgang Amadeus Mozart mit dem Text von Emanuel Schikaneder hat sich über die Jahrhunderte als wahre Volksoper etabliert. Das Geheimnis des Erfolges liegt einfach darin, daß sie jedem etwas bietet, ohne sich anzubiedern. Der schlichte Mann von der Straße, der keine höheren Weihen anstrebt und sein Glas Wein schätzt, wird ebenso zum Mitschwingen gebracht wie der in Geistesgeschichte erfahrene Intellektuelle, der von den Energien freimaurerischer Ideen zu mentaler Läuterung getragen wird.

Die Inszenierungen in den Jahrhunderten seit der Uraufführung sind Legion. Was die Deutsche Oper Berlin in ihrer 329. Vorstellung seit der Premiere 1991 zu bieten hat, ist Anlass zu Freude und Respekt. Die Inszenierung von Günther Krämer wird von der Abendspielleiterin Gerlinde Pelkowsky in federnder Spannung gehalten, so dass sie auf ungezwungene Weise ihre Vorzüge ausspielen kann. Dazu gehören manche Aspekte des Bühnenbildes von Andreas Reinhardt, das erst derjenige zu schätzen weiss, der sich schon durch wesentlich drögere Bühnenversionen der sakrosankten Mozartoper hindurchgequält hat. Hier bekommt von Anfang an das Auge kräftige Akzente zu schauen, auch wenn sie mit Hilfe der zeitgenössischen Technik erreicht werden, die Szene einfach mit mehr Personal zu füllen, als dies früher der Fall gewesen sein mag. Gleich zu Beginn wird die anderswo manches Mal recht schlappe Schlange, die den Prinzen Tamino bedroht, mit Licht-und Projektionstechnik in einen respektablen Lindwurm verwandelt, dessen Schweif inmitten eines Schneegestöbers von einem  umfangreichen Bewegungschor getragen wird. Später entzückt ein bildkräftiger Traumgarten das Auge, wenn eine pittoreske Auswahl wilder Tiere durch den Klang der Zauberflöte handzahm wird. Auch die Realisierung der Feuer- und Wasserprobe im zweiten Akt hat den szenischen Reiz, den man von dieser dramaturgisch entscheidenden Passage erwarten darf.

Der zweite Vorzug der Inszenierung liegt darin, dass die musikalischen Erfordernisse konsequent den Vorrang erhalten. Die drei Knaben sind nicht dralle Sängerinnen in Knabenkostüm, sondern drei Solisten aus dem Tölzer Knabenchor, die ihren Part zum Entzücken des Publikums zwanglos und musikalisch wie szenisch  erstklassig abliefern. Dazu gehört auch, dass man sie nicht irgendwo im Hintergrund oder gar hinter der Bühne platziert, sondern seitlich vorn oder sogar an der Rampe während der anspruchsvollen Szene mit Pamina, wo der Rat der Knaben sie vom Selbstmord abhält. Die hellen, klaren, aber eben noch relativ zarten Stimmen kommen hier mit der erforderlichen Prägnanz zur Geltung, ohne technische Nachhilfe und mit unverwechselbarem Klangcharakter.

Rund um die lebensberatenden Knaben herum ein treffend besetztes Ensemble, an der Spitze Tobias Kehrer als Oberpriester Sarastro. Seine baritonale Bassfärbung gibt der Rolle einen vergleichsweise jugendlichen Ton, der aber nicht der mehrfach benötigten dunklen Tiefen entbehrt. Seine Adlaten Sprecher (Derek Welton), Erster Priester (John Carpenter) und Zweiter Priester (Paul Kaufmann) bewähren sich als Hüter des Tempels und seiner Prüfungen. Bei der Feuer-und Wasserprobe zeichnen sich die beiden Geharnischten (Robert Watson und Alexei Botnarciuc) durch klare Ansagen selbst aus der Tiefe der Bühne aus. Königin der Nacht ist mit Bravour die finnische Sopranistin Tuuli Takala, die in Dresden auch schon als Papagena aufgetreten ist. Die erste und ganz besonders die zweite Arie der Königin der Nacht überzeugen durch sicher gesetzte Spitzentöne. Die drei Damen der Königin (Adriana Ferfezka, Irene Roberts und Judit Kutasi) wetteifern mit Hingabe um die Gunst des „schönen Jünglings“ Tamino (Attilio Glaser), der sowohl seine Bildnisarie wie die Prüfungen im Weisheitstempel mit lyrischem Schmelz absolviert. Ihm zur Seite Pamina (Siobhan Stagg), mit schön geführtem Sopran um die Liebe des Prinzen ringend. Absoluter Publikumsliebling ist der Papageno von Markus Brück, der in konsequenter Clownsmaske agiert und den Proszeniumsparcours für zahlreiche burleske Improvisationen nutzt, darunter auch eine kleine tagesaktuelle Verbeugung zum Orchesterraum und einem verdienten Bratschisten, der anschließend in den Ruhestand überwechselt. Papageno preist die irdischen Freuden, so auch den Wein, bis er schließlich mit seiner überaus spielfreudigen Papagena (Alexandra Hutton) vereint ist, nachdem die ihre irreführende Hexenmaske abgelegt hat.

Emanuel Schikaneders Textbuch enthält manche Sentenz, die wir  heute als frauenfeindlich oder gar rassistisch bezeichnen würden(Mohr Monostatos: Gideon Poppe) ohne dass der weise Sarastro diese Schroffheiten ganz auszugleichen vermag. Ein Zugeständnis aus aktueller Toleranz erleichtert es aber dem heutigen Publikum , diese Textstellen als einen Akt der Denkmalpflege hinzunehmen.

Am Pult leitet der junge Ido Arat die Aufführung mit geschmeidiger Gestik, seit dieser Spielzeit Assistent von Generalmusikdirektor Runnicles. Sein Orchester folgt ihm anfangs etwas schwerblütig, gewinnt aber im Laufe des Abends sehr an Präzision und Klangschönheit. Die von Thomas Richter einstudierten Chöre sind punktgenau und volltönend zur Stelle.

Der Lohn ist reicher Applaus für alle Mitwirkenden von den drei Knaben über die Königin der Nacht bis zu Sarastro und seinen Tempelwächtern, und auch dem Orchester gilt der ausdrückliche Dank des Publikums.





120816
Duett auf Tasten
Klavierduo Mi-Joo Lee und Klaus Hellwig
zugunsten von Stipendiaten
der Berliner Paul-Hindemith-Gesellschaft

Es hat beinahe den Charakter eines akustischen Weihnachtspräsents, wenn die Berliner UdK-Professorin  Mi-Joo Lee und Professor  Klaus Hellwig, beide gefragte Solo-Pianisten, zur Adventszeit ein Duo-Kammerkonzert im Joseph-Joachim-Konzertsaal an der Bundesallee ankündigen. Neben dem Hörgenuss soll es diesmal nach dem Stipendienmodell der Berliner Hindemith-Gesellschaft Spenden einwerben, aus denen dann wieder eine wirtschaftliche Unterstützung für hochbegabte UdK-Studierende mit schmalem Geldbeutel gewährt werden kann.

Zur Begrüßung erläutert der Vorsitzende der Hindemith- Gesellschaft, der Cellist  Prof. Wolfgang Boettcher, in kurzen Worten die Zielsetzung seiner Institution.

Dann kommen die beiden Duett-Partner auf die Bühne. Am Beginn des Programms steht eine Komposition für Klavier zu vier Händen, das  Allegro a-moll, D 947 mit dem Untertitel „Lebensstürme“ aus dem Jahre 1828 von Franz Schubert. Er im dunklen Anzug  sitzt links,  sie rechts in einem leuchtend roten Jackenkleid  vor der Klaviatur des Steinway-Flügels.

Der Klang ist vital und ausdrucksvoll schon mit den ersten markanten Takten. Der Untertitel "Lebensstürme" umschreibt zumindest die Eingangspassage sehr treffend, bis sich dann eine eher lyrisch-liedhafte Partie von hohem melodischen Reiz anschliesst. Mi-Joo Lee gestaltet die dekorativen Elemente in der höheren Tonlage sehr anmutig, Klaus Hellwig liefert die rhythmisch markanten Grundierungen. Beide sind gestalterisch hervorragend aufeinander eingespielt und geben dem Stück den Charakter einer Komposition aus dem selben Atemzug. Die sprunghaften Akkorde des Eingangsthemas wiederholen sich und beenden dann das Stück.

Die nächste Komposition ist das „Andante mit  fünf Variationen G-Dur für Klavier zu vier Händen“, KV 501 aus dem Jahre 1786 von Wolfgang Amadeus Mozart. Nun sitzt er rechts, sie links am Flügel. Das bezaubernde Mozart-Thema hat beinahe Spieluhr- Charakter. Diesmal fällt es Klaus Hellwig zu, die erste Variation vorzugeben, Mi-Joo Lee übernimmt die zweite. Überaus anmutiger Einklang aller vier Pianistenhände. Dann eine Mollvariante, beiderseits im Wechsel vorgetragen. Die nächste hat festlich akkordischen Charakter und wird von einem Lauf umrahmt. Der Geist mozartscher Melodiebehandlung ist feinfühlig aufgenommen und umgesetzt.

Die Sonate für zwei Klaviere D-Dur KV 448 aus dem Jahre 1781 von Mozart schliesst sich an. Beide Flügel stehen Seite an Seite, die Solisten sitzen einander gegenüber, und jetzt übernehmen zwei Damen das Umblättern. „Allegro con spirito“: Makellose Läufe von spiritueller Eleganz, mitreissender Drive in der melodischen Gestaltung.  Beide Klaviere absolvieren einen  minutiös abgestimmten Dialog, fein ziseliert. Prächtige Läufe in einhelliger Motorik. Kein Wortgefecht, sondern ein Dialog mit Wortbeiträgen, die einander ergänzen und in der Wirkung verstärken. Prägnanz und Klarheit. Im „Andante“ wird ein
leicht dahin schwebendes Thema im Wechsel zwischen den Pianisten  ausformuliert. Das gemessene Tempo ist wie ein Teppich, über den beide Solisten mal im Wechsel, mal Hand in Hand schreiten. Die Formulierungen reichen beide einander zu, jeder regt den anderen an, und den aufsteigenden Themen sieht man die jeweilige Autorschaft nicht an. „Allegro molto“ : ein flott herein wischendes Thema, getragen von federnd vorgetragenen Läufen. Wieder ist der voranstürmende, mitreissende Einklang zu bewundern - diese absolute Synchronität der Laufgestaltung ist wirklich staunenswert. 

Nach der Konzertpause gibt’s Claude Debussy. Die „Petite Suite“ für Klavier zu vier Händen entstand 1888/89 und hat drei Sätze. „En bateau“ ist der erste benannt. Leise wiegt sich  ein Boot auf der Wasseroberfläche. Eine zauberhafte Skizze, in der man Sonnenlicht und linde Luft zu spüren meint. Wieder entzückt das makellose Ineinander der Phrasierungen. „Cortège“ vermittelt das Bild einer Prozession, das sich zunächst von sanftem Beginn zu kraftvollem Auftritt steigert, dann ganz behutsam fortgeführt wird, um schliesslich in eine Kreisform überzugehen. mit sehr exaktem Schluss. Der nächste Satz „Menuet“ hat ein sehr pointiertes, dabei durchaus zart gezeichnetes Motiv, das beide Solisten in sehr genauer Übereinstimmung intonieren, mit viel Sinn für den feinen Rhythmus. „Ballet“ ist der letzte Satz bezeichnet: eine fast vertraute, oft zu hörende Melodie, hier mit künstlerisch veredeltem Schwung vorgetragen. Der sprungbetonte Rhythmus wird mit nobler Finesse vermittelt.

Zum Abschluß des Abends ein Werk von Sergej Rachmaninoff: die Suite Nr. 2 op. 17 für zwei Klaviere aus dem Jahre 1889. Wieder sitzen sich beide Solisten gegenüber vor den Tasten ihrer beiden Flügel, Mi-Joo Lee vom Saal aus gesehen rechts.  „Alla marcia“ lautet die Tempobezeichnung für den ersten Satz. Ein großvolumiger Auftritt mit akkurat aneinander gefügten Akkorden. Markant, zwischendurch diminuendo, dann wieder prächtig ausladend bis zum Verklingen. Einen „Valse“ im Tempo „Presto“ bringt der zweite Satz: dies ist ein schneller, elegant ausschwingender Walzer, in dem sich beide bewunderungswürdig ergänzen. In der Tonsprache schönster, breit angelegter Rachmaninoff. immer wieder vom Walzerrhythmus eingefangen. Eine „Romanze (Andantino)“ schliesst sich an: eine zweistimmig vorgetragene, ineinander verwobene Sehnsuchtserklärung. Einzeltöne so zu setzen, dass sie von beiden Stationen punktgenau gleichzeitig kommen und sich wie selbstverständlich ergänzen, ist eine besondere Kunst. Leidenschaftlicher  Ausdruck auf dem Gipfel, erneut bewunderungswürdiges Ineinandergreifen der opulenten Expression. Mit „Tarantella(Presto)“ schliesst das Werk. Klaus Hellwig eröffnet, Mi-Joo Lee lächelt ihm aufmunternd zu und schliesst sich an.
Eine teuflisch rasche Verfolgungsjagd, bei der beide den schnellen Rhythmus gemeinsam tragen und ihn  mit immer neuen Einwürfen akzentuieren. Hier dominiert die Virtuosität der Anschlagstechnik: ein mitreissender Wirbel, stiebend vor Energie.

Rauschender, nicht endenwollender Beifall belohnt beide Künstler für dieses beglückende Konzerterlebnis, und Hindemith-Beirätin Jutta von Haase überreicht ihnen langstielige Amaryllis-Blüten zum Dank.

Noch einmal zwei Hörerlebnisse von Robert Schumann als Zugabe: „Bilder aus Osten“ op. 66 von 1848, mit raffinierten Ritardandi und Akzenten wie aus einem gemeinsamen Atemzug. Dann noch eine von den acht Polonaisen für Klavier zu vier Händen, die Schumann 1828 als 18jähriger geschrieben hat. Abermals brandet der Beifall auf, den ein dankbares Publikum diesen beiden Weltklasse-Künstlern spendet.



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120716
Perfektes Timing
schafft ungetrübtes Vergnügen

"Tour de Farce"
in der Vagantenbühne Berlin

Das kleine, seit 1949 bestehende Theaterchen neben dem (neuerdings) Musical-Tempel "Theater des Westens" hat jetzt mit der Premiere von"Tour de Farce" einen Pfeil  aus dem Köcher geholt, der im Publikum als Volltreffer eine durchschlagende Wirkung erzielt. Die Komödie der absurden Knalleffekte und  ständig klappenden Türen aus der Feder der Broadway-Autoren  Philip LaZebnik und Kingsley Day steht und fällt mit dem perfekten Timing und Kostümwechsel von lediglich zwei Schauspielern, die mit hinreissendem Tempo und atemberaubendem Verwandlungsgeschick in nicht weniger als zehn Rollen schlüpfen, ohne dafür mehr als Sekunden zu benötigen oder auch nur  ein einziges Mal aus einer dieser Rollen zu fallen. Die Logik der Handlung wird mit flexibler Regie (Andreas Schmidt und Andrea Katzenberger) jeweils so konsequent aneinander gefügt, dass auch der nüchterne, kritische Verstand daran nichts zu bemängeln hat.


Das eher karge Bühnenbild läßt zu Beginn kaum ahnen, welcher Ereigniswirbel sich dort binnen kurzem entfalten wird. Das Entrée übernehmen Rebecca Gladney (Cornelia Schönwald) und ihr Mann Herb Gladney (Jörg Zuch), der Autor des Ratgebers „Ehe währt für immer“, der sein tiefschürfendes Werk gerade der Presse vorstellt. Beide steigen in einem eher schäbigen Hotelzimmer ab, und die prächtig überdrehte Gattin bekrittelt zunächst alle Mängel dieser Unterkunft. Beide sind dazu verdammt, im Sinne des Ratgebers ein unverbrüchliches Ehepaar zu simulieren, obwohl es in diesem Bündnis längst kriselt, weil Rebecca ihrer Jugendliebe nachtrauert. Die taucht kurz drauf in Gestalt eines alkoholisierten Senators auf, der seinerseits nach einem erotischen Abenteuer giert. Damit beginnt eine turbulente Folge hanebüchener Verwicklungen, in deren Verlauf die beiden Schauspieler in jeweils fünf verschiedene Rollen schlüpfen. Meist genügt ein schneller Tausch von Perücke und Montur, um die glänzend gegeneinander abgesetzten Charaktere auf die Bühne zu stellen. Natürlich gehören auch akribisch einstudierte Details und Nuancen in Gestik und Mimik bis zu Anflügen von Dialektsprech dazu, die verschiedenen Figuren glaubwürdig auftreten zu lassen.

Das gelingt durchgehend absolut perfekt und schafft zum ungetrübten Vergnügen des Publikums eine animierte Atmosphäre pausenloser Überraschungen, bei denen es sogar Szenenbeifall für ein paar besonders gelungene Rollenwechsel gibt. Jörg Zuch erzielt knallige Wirkung als zunehmend besoffener Senator, der sexuelle Erregung nur dann spürt, wenn sein blondes Flittchen ihn mit „Mister President“ anredet. Oder als aus dem Schrank steigender Kameramann Gunnar Gustafson, der seine ersten Sporen einst in Schweden bei Ingmar Bergman verdient hatte. Cornelia Schönwald gewinnt den Oscar des Abends mit ihren hinreissenden Auftritten als Pam Blair und Gwenda Hill oder als kleptomanisches Zimmermädchen Nina. Dem allen setzt sie die Krone auf mit dem blitzschnellen Kostümwechsel zu Schwester Barbara, deren naiv-komische Liedtexte sie mit angenehmer Singstimme und herrlich alberner Triangelbegleitung präsentiert. Wie das ganze Verwirrspiel schliesslich endet, soll hier nicht verraten werden. Das Premierenpublikum war jedenfalls in höchstem Maße angetan und glänzend unterhalten.

120216
Ein Gast aus Maria Laach
Gereon Krahforst an der Eule-Orgel
der Französischen Friedrichstadtkirche Berlin

Die Eule- Orgel der Französischen Friedrichstadtkirche am Gendarmenmarkt in Berlin lockt mit ihrer Vielseitigkeit und Klangschönheit immer  neue Gastorganisten, dieses Instrument selbst zu spielen und seine Möglichkeiten auszuloten. Nach dem Grusswort von KMD Kilian Nauhaus erläuterte diesmal Konzerthaus-Dramaturg Dr. Hiller das "Kompositionsprinzip" des Programms für diesen Orgel-Abend, der am ersten Donnerstag eines jeden Monats stattfindet. Der Grundgedanke in der Musikauswahl von Abteiorganist Gereon Krahforst aus der Benediktinerabtei Maria Laach ist der einer stilistischen Kontinuität unter dem Dach der Adventszeit.

Drei Improvisationen des Gastes, der zu den führenden Organisten seiner Generation zählt, verbinden die ausgewählten Kompositionen. Die erste ist eine Ouvertüre über  "Macht hoch die Tür" im Stil  von Händel. Kraftvoller, festlicher Klang und mehrdimensionale formale Gestalt zeichnen sie aus. Leichtigkeit und gleichzeitig Entschiedenheit der Intonation kennzeichnen schon hier den überaus sicheren Vortragsstil des Gastes.

Das erste der ausgewählten Musikstücke stammt von Eustache du Caurroy, der von 1549 bis 1609 lebte. Seine Variationen über das Lied „Une jeune fillette“ haben
einen sanften Ton, der an ein Volkslied erinnert.  Zunächst ist die Liedmelodie zu hören, dann Abwandlungen  in heiterer Grundstimmung. Reizvolle Klangvarianten durch unterschiedliche Register.

Zwei altpolnische Renaissancetänze schliessen sich an. Sie stammen von Nicolaus Krakoviensis, von dem man mit 1550 nur das Sterbejahr kennt. Mit dem geschärften Klangregister im Renaissanceton wird der Bewegungsrhythmus und die reizvolle Atmosphäre mittelalterlicher Tanzmusik heraufbeschworen.

Die zweite Improvisation markiert die Mitte des Programms. Zwei Choralbearbeitungen über „O Heiland, reiss den Himmel auf“  im barocken Stil werden vorgestellt. Im „Trio“ sind die Melodieelemente reizvoll verknüpft, die Choralmelodie wird in einzelnen Abschnitten über einen recht beweglichen Fundus gelegt. Zügiges Tempo und stilreine Transparenz.
„Vierstimmig“ ist die zweite Bearbeitung bezeichnet. Wieder zunächst eine verzierende Grundierung, bis die Choralmelodie im sonoren Tenor hinzutritt. Das Ganze vermittelt absolut glaubwürdig den Eindruck eines Choralsatzes im Stil eines der großen Barockkomponisten.

Johann Caspar Fischer lebte von 1656 bis 1746. Sein Ricercar zur Adventszeit über „Ave Maria klare, du lichter Morgenstern“ ist klanglich ganz zurückhaltend in klarem Flötenton. Eine schlichte, andächtige Schrittfolge.

Von Michael Praetorius (1571-1621) stammt der Hymnus „Veni, Redemptor Gentium (Nun komm, der Heiden Heiland)“, der nun einen weit gefaßten  Auftritt mit mächtiger Bassfundierung anbietet, der wie ein festlicher Begrüßungsmarsch klingt.

Drei Kompositionen von Johann Sebastian Bach schliessen sich an. Zunächst die Choralbearbeitung nochmals über „Nun komm, der Heiden Heiland“ , BWV 659, aus den 18 „Leipziger Chorälen“.  Tief und sanft registriert, ertönt ein behutsames, gemächliches
Schreiten, ehrfürchtig beinahe. Sehr schöne, stilistisch klare Interpretation des Organisten.

Danach „Wachet auf , ruft uns die Stimme“ BWV 645 aus den  „Sechs Chorälen“, die 1748 erstveröffentlicht wurden. Ganz zierlich das  bachtypische Grundmuster, über dem sich dann in mehreren Abschnitten, etwas tiefer angesiedelt, die Choralmelodie anfügt. Das Ganze ist transparent wie eine Bleistiftskizze.

Schliesslich die „Canzona“  BWV 588, komponiert ca. 1705 .
Die Melodie gedämpft im Anfang, bis sich darüber heller artikulierte Elemente gruppieren. Das musikalische Geschehen spielt sich in großer Ruhe ab, alle Hast ist verbannt. Eine fröhlich formulierte Fuge schliesst die Komposition.

Von Domenico Scarlatti  stammt die „Sonate A-Dur“ K 322, 1757 komponiert. Silberhell der Einsatz, als wärs eine Komposition für Pikkoloflöten. Klanglich originell und betont zart wird fortgesetzt,

Aus der  „Première Suite“ von Joseph Bodin de Boismortier stammen zwei Kompositionen, die  1736 entstanden sind. Es handelt sich um das das dritte und fünfte Stück einer Cembalosuite. Die „Gavotte“ ist eine eine gänzlich naturbelassene Tanzweise, anmutig und mit origineller Instrumentierung versehen, was die Eule- Orgel absolut plausibel wiederzugeben vermag. Die anschliessende „Pièce en Rondeau“  ist nun wirklich nur mit dem Terminus "allerliebst" zu umschreiben. Flötentriller wie flatternde Vögel, und dabei klingt das alles, als käme es aus der Ferne.

Domenico Zipoli hat seine „Suite in g-moll“ zuerst 1716 veröffentlicht. Eine Komposition aus typischen Tänzen der Barockzeit mit unterschiedlichen Tempi. Das „Preludio“ liefert die stimmungsvolle Einleitung.  Die „Corrente" tänzelt in rascheren Schritten zu pointierter Melodie im Kreis. Die „Sarabande“  nimmts würdevoller, in gemessenen Schritten, gleichwohl mit akkurat zirkulierter Melodieführung, in mehreren Perioden aneinandergereiht. Zuletzt die „Giga“: Sie zieht den Trompetenton hinzu und proklamiert eine etwas lautere, aber gleichwohl gezügelte Fröhlichkeit.


Zum Abschluß spielt der Gastorganist seine dritte Improvisation, einen frohgestimmten Concertosatz von quirliger Beredsamtkeit, dem sich ein dunkler Bassfundus hinzugesellt. Auch die  improvisierte Mittellage ruht auf dem majestätischen Bassfundament. Toccatastimmung kommt auf, eine heitere Zuversicht herrscht vor. Das Fugenthema, vergleichsweise komplex, schwingt sich durch zahlreiche  Verwandlungen in Tonlage und Pfeifenregister., erscheint mal schlank und schmal, dann wieder breit angereichert, aber in Bau und Struktur stets durchschaubar. Eine sehr kunstvolle Improvisation zum Abschluss, mit betont vollmundigem Schlussakkord.

Viel Beifall für ein abwechslungsreiches, exzellent interpretiertes Programm.

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Von dreien der erste
Klavierabend der Klasse von UdK-Prof. Mi-Joo Lee
im Konzertsaal Bundesallee Berlin

Gleich drei Klavierklassen renommierter Musikprofessoren der Berliner UdK stellen sich in der letzten Novemberwoche des Jahres 2016 dem Urteil des Stammpublikums im Konzertsaal an der Bundesallee in Berlin. Am ersten Klavierabend kamen die Studierenden von UdK-Professorin Mi-Joo Lee zum Zuge.


Die jüngste Pianistin ist an diesem Abend Sini Shen, die am Julius Stern-Institut ihre Ausbildung begonnen hat. Sie spielt zunächst Johann Sebastian Bachs Präludium und Fuge C-Dur aus dem Zweiten Buch des „Wohltemperierten Klaviers“, BWV 870, vermutlich aus dem Jahre 1740. Klar artikuliert, dabei sehr harmoniebewusst, auch in der Feinstruktur mit Sorgfalt aufgebaut. Die Fuge wird sehr gewandt mit der linken Hand eingeführt, die rechte übernimmt dann, und jede der beiden wandert mit souveräner Kontinuität in der Durchführung. Olivier Messiaens „Première communion de la vierge“ aus der Sammlung „Vingt regards sur l’enfant Jésus“ von 1944 schliesst sich an. Eine Reihe bezaubernd gesetzter Akkorde mit Ankündigungseffekt, zart glänzende Perlentöne, dann größere und klar umrissene Tongruppen. Darauf beschleunigt und nachdrücklicher im Tempo, wie wenn eine sehr besondere und erregende Nachricht übermittelt wird. Die Entschiedenheit der Interpretation  ist beeindruckend. Schliesslich verklingt diese Annonce wie ein Hauch. Ein paar duftige Harmonien, nachdenklicher Ausklang.

Die Pianistin Eunhee Baek hat die 15 Variationen mit Fuge Es-Dur op. 35 von Ludwig van Beethoven gewählt, die später als „Eroica-Variationen“ bekannt wurden und im Jahre 1802 entstanden sind. Der Name deutet an, dass Beethoven sein hier abgewandeltes Thema  unter anderem auch in seiner dritten Sinfonie mit dem Beinamen „Eroica“ verwendet hat.
Ein wuchtiger Eröffnungsakkord, dann das bekannte Thema, dem die Pianistin mit entsprechenden Betonungen eine mehrdimensionale Struktur gibt. Dann folgen in schönster musikalischer Laune die 15 Variationen, die nacheinander mit der Frische origineller Einfälle herauspurzeln und mit blendender pianistischer Technik in mitreissender Rhythmik aneinandergereiht werden. Den Geist dieser überschäumenden Folge thematischer Veränderungen hat die Pianistin in überzeugender Aneignung Beethovenscher Ausdruckskraft und Vitalität verarbeitet. Die Grundelemente des Themas tauchen wie aus schäumender Wasserflut immer mit Erkennungswert wieder auf. Dabei gelingen Eunhee Baek die pompös auftrumpfenden Stellen ebenso wie die versonnen zarten Passagen. Mitreissende Rhythmik beherrscht auch die brillant vorgetragenen entschiedenen  Stellen. Ein überaus charaktervoller, mit grosser Sorgfalt und Einfühlung gestalteter, spannungsreicher Vortrag.


Miyeon Lee ist als nächste Künstlerin an der Reihe. Sie hat sich alle 24 Préludes op.28 von Frédéric Chopin aus dem Jahre 1839 ausgesucht. Die jeweiligen Tonarten und Tempobezeichnungen sind nacheinander im Programmzettel vermerkt, was ihre Charakterisierung erleichtert.
Das erste Stück ist „Agitato“ bezeichnet:  Ein rauschendes Plaudern, elegant und gefällig.
Darauf „Lento“, nachdenklich dahinfliessend mit verheissungsvollem Schlussakkord.
„Vivace“ schliesst sich an,  ein lebhaft dahinströmender Melodiefluss, links der Strom, rechts die Akzente. Es folgt „Largo“ in des Komponisten sehr typischer Diktion, gut empfunden, sich steigernd, mit nachsinnendem Schluss.“Molto allegro“ ist lieblich und gewandt plaudernd, zeigt fliessende Geläufigkeit. „Lento assai“ wirkt leicht melancholisch, dabei durchaus zuversichtlich, leise verklingend. „Andantino“ bietet ein wohlbekanntes Frage- und Antwortspiel. „Molto agitato“ ist eine quirlend voranstürmende, leicht und virtuos gestaltete, deskriptive Skizze. Darauf „Largo“ in grossen, farbigen Akkorden: eine bedeutungsvolle Schrittfolge, hier mit feinem Sinn für wechselnde Farbwerte. „Molto allegro“: eine Perlenkette. „Presto“ bringt rasche, einander jagende Akkorde, sehr nachdrücklich gesteigert. Dann „Lento“ und gleich wieder größte Ruhe, der Blick über eine weit ausgebreitete Landschaft in volksliedhaftem Ton. Daraus steigt ein neues Thema auf, in farbenreicher Gelassenheit. „Allegro“ besteht aus kreisenden Figuren in raschem Lauf. „Sostenuto“ ist das auch separat bekannt gewordene  Regentropfen-Prélude: ausdrucksvoll und treffend akzentuiert, Heiteres und dräuend  Dunkles im Wechsel. Schöne, entschiedene Akkorde , die dann zu der ganz naiven Eingangsformel zurückführen. „Presto con fuoco“: ein rasender Lauf in der rechten Hand, von der linken akzentuierend begleitet. „Allegretto“ ist wieder so eine heitere Beiläufigkeit aus Chopins Charakterpalette, ausdrucksstark und sehnsuchtsvoll, ganz behutsame Wiederholung.
„Molto allegro“: Das klingt schier nach Schumann: kraftvolle Anläufe. „Vivace“ bringt
tänzerisch kreisende Melodielinien mit effektvollem Schluss. Das folgende „Largo“ vermittelt ruhig aneinandergefügte Akkorde, wie eine Argumentationskette. Prägnantes und Leises fein differenziert. „Cantabile“ ist sanglicher Ausdruck mit weitem Atem. „ Molto agitato“ besteht aus kraftvoll aufgetürmten Akkordballungen mit effektvollem Schluss. „Moderato“ liefert wie zur Entspannung Liebliches, perlend ausgegossen. Abschliessend
„Allegro appassionato“: Pathetisch auftrumpfend, mit dramatisch gesteigerten Läufen, mitreissend und kräftig.


Nach einer kurzen Pause dann die Pianistin Seohee Hong mit Franz Schuberts „Sechs Moments musicaux“ D 780 op. 94 aus dem Jahre 1828. Das einleitende „Andantino“ erweist sich als eine anmutig drapierte Erzählung. Das „Allegretto moderato“ bringt eine
fein empfundene, ausdrucksvoll gesteigerte Melodiefolge  als Mittelteil. Aus einer einfachen Akkordsequenz wird ein Lied mit aparten Wiederholungen. „Moderato“ gibt sich
verträumt dahinfliessend mit  Akzentsetzung durch ausdrucksvolle Intervalle.  Die Zeit scheint stillzustehen. Dann  kehrt das Leben zurück, und eine Geschichte wird ohne übertriebenen Impetus erzählt. Ein federnder Sprungrhythmus, sehr akkurat wiedergegeben. Ein gutes Beispiel für die kultivierte Ausdruckskunst der Pianistin.Spielerische  Leichtigkeit bei plastischer Zeichnung der Struktur. Eine Tanzweise mit introvertierten Ruhepunkten, von denen aus dann der anfängliche Melodiefaden wieder  aufgenommen wird. Das folgende „Allegro vivace“ ist lebhaft und kraftvoll. Zum Schluss ein „Allegretto“ mit romantisch empfundener Schilderung in Liedform, leicht gebrochene Struktur, dann ein beinahe andächtiger, schlichter Mittelteil. Darauf zurück zum Eingangsthema. Die Pianistin hat ein gutes Empfinden für die geheimnisvoll raunende, fein abgetönte Atmosphäre der Stücke.

Als nächster spielt Pavel Kusnetsov die Sonate h-moll op. 58 aus dem Jahre 1844 von Frédéric Chopin. Sie beginnt mit einem „Allegro maestoso“: das hat man schon wesentlich effektheischender gehört, hier klingt es schlicht und fast mit understatement, nimmt dann Chopins sprunghafte Gestaltungslinie auf und holt mit größeren Akkorden weit aus. Die einzelnen Lichter verschwimmen etwas, das langsame Schreiten gelingt gut, die Akzentbetonung und Spannungsgestaltung sind nicht so ausgeprägt. „Scherzo: Molto vivace“ bringt flinke, etwas kursorische Läufe zur Einleitung. Dann eine lyrisch gestaltete  Erzählung, die zu den raschen Einleitungsläufen zurückführt. „Largo“: ausdrucksvoll und mit erfüllter szenischer Fantasie. Trotzdem klingt manches seltsam beiläufig, man vermisst etwas die chopin-typische Faszination. „Finale: Presto, ma non tanto“:
Nun gehts in großen Sprüngen zum Schlusslauf. Die Kraft ist da, die Betonung  verstärkt sich, die Läufe sind tadellos und blendend exekutiert. Glanz und Feuer stehen zu Gebote, auch das Pathos der grossen Schritte kommt zum Ausdruck. Der Schluss ist frappierend.


Die Pianistin JuAe Ha ist als nächste an der Reihe. Sie spielt die „Estampes“ aus dem Jahre 1903 von Claude Debussy.„Pagodes“: Der fernöstliche Klang ist präsent. das Bild der fernen Pagoden fasziniert auch dann, wenn man es häufiger betrachtet. Die grossflächigen Striche fesseln ebenso wie die miniaturisierten, fein gezeichneten Skizzen.

„Soirée dans Grenade“: Wie die Pianistin aus tastenden Eingangstönen die spanische Tanzweise aufsteigen lässt, ist überaus fesselnd.  Der Zuhörer folgt ihr  mit geschmeicheltem Gehör, lauscht in die Abendluft von Granada hinein, bewundert das wechselnde Kolorit auf engstem Raum. „Jardins sous la pluie“: Die überaus virtuos gezeichneten Regentropfen lassen lassen die Gärten glänzen und erfrischen die Luft. Ein Wunder der szenischen Klangmalerei,  die doch immer vollendete Musik bleibt bis zum Schlussakkord.

Dann noch „Basso ostinato“ aus den „Zwei polyphonen Stücken“ vom russischen Komponisten und Dirigenten Rodion Schtschedrin, komponiert 1961: Aus anfänglichen Tonsprüngen, vom hämmernden Ostinato in der linken Hand vorangetrieben, entwickelt sich ein sehr farbiges Geschehen, das von dem unbarmherzigen Bass in Formation gehalten wird. Bewundernswerte rhythmische Sicherheit, die unmittelbar im grellen Ausdruck kulminiert. Feines und Gröberes in mitreissender Allianz.

Das Finale übernimmt die Pianistin Nala Baik. Sie eröffnet mit Robert Schumanns „Arababeske“ op. 18 aus dem Jahre 1839. Verhalten im Tempo, anmutig im Ton. Die sonst häufig vorwärtsdrängende Energie dieser Komposition wird zugunsten eines intensiven Ausdrucks zurückgenommen: es herrscht eher ein freundlicher Plauderton. Dann ein Zwischenspurt mit etwas mehr Nachdruck, ehe der Anfangsduktus wieder aufgenommen wird. Ausflug in ein Seitenthema, das zum Eingangsmotiv zurückführt.

Schliesslich die pianistisch sehr anspruchsvolle „Fantasia Baetica“ aus dem Jahre 1919 von Manuel de Falla, deren Name an die einst römische Provinz Baetien im Süden Spaniens erinnert, die heute weitgehend mit Andalusien identisch ist. Wieder ostinate Rhythmen, gepaart mit farbenreichen Akkorden und rauschenden Läufen, alles in akkuratem hispanischen Kolorit. Pianistisch eine der erleseneren Herausforderungen, die dem  Flügel  beinahe Orgelklänge zu entlocken  vermag. Dichte Atmosphäre und der aufreizende Habitus spanischer Tanzrhythmen. Glissandi in Serie, perfekt dargeboten. Bewunderung vom viertel nach zehn ausharrenden  Publikum. Dankbarer Beifall für eine facettenreiche Leistungsschau..

 

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Romantische Klaviermusik
Konzert der Klasse von UdK-Prof. Pascal Devoyon
im Konzertsaal Bundesallee Berlin

Unter den stets mit besonderer Spannung erwarteten Präsentationen der Instrumentalklassen aus dem Bereich Künstlerische Ausbildung der UdK-Musikfakultät in Berlin hat der pianistische Nachwuchs eine gewisse Sonderstellung. Was die Student(inn)en beispielsweise der Klavierklasse von Prof. Pascal Devoyon bei ihren Konzertauftritten während des Semesters zu Gehör bringen, genügt höchsten Ansprüchen und steht dem Niveau des professionellen Konzertbetriebs keineswegs nach.

Traditionell fügen die jungen Künstler dem eigentlichen Programmzettel noch ein Blatt mit Erläuterungen auf deutsch hinzu, die sie in eigenen Worten verfasst haben. Diese Übersicht liefert einige Entstehungsdaten zu den vorgestellten Werken, spiegelt aber auch die persönliche Auseinandersetzung der Interpreten  mit den Kompositionen.

Bei jüngsten Konzert im Joseph- Joachim-Saal der UdK an der Bundesallee eröffnet der Pianist Jay Myung aus Südkorea das Programm mit Johann Sebastian Bachs Präludium und Fuge D-Dur BWV 850 aus dem „Wohltemperierten Klavier“  Teil1, komponiert 1722. Sehr gewandt und geläufig wird das Präludium exekutiert. Dann die Fuge in markanten Schritten, klar gegliedert.

Anschliessend „Bruyères“ von Claude Debussy, die Nummer 5 aus Buch 2 der „Préludes“, komponiert im Jahre 1912. Stimmungsvolle Akkorde, mit perlendem Anschlag aneinandergereiht, zart nachklingend.

Der nächste Pianist ist Ken Nakasako  aus Japan. Er spielt Ludwig van Beethovens Sonate Nr. 15 D-Dur op. 28 aus dem Jahre 1801. Der erste Satz „Allegro“ mit feinem Empfinden für die Architektur des Satzes und differenzierender Akzentuierung. Spannungsreicher Aufbau und sehr gewandte Läufe in den dramaturgisch wichtigen Passagen sind besonders hervorzuheben. Der zweite Satz „Andante“ ist
ein gemessenes Schreiten, bei dem es sehr auf gut gehaltenes Tempo und zurückhaltende Akzente ankommt. Gleichwohl ist Spannung gefordert. Im Mittelteil wechseln sanfter Ausdruck und stark akzentuierte Akkorde einander ab. Der Pianist kann Ruhe und abgestufte Dramatik gut gegeneinander absetzen. Beethovens Klangsprache ist gut verinnerlicht. Im  „Scherzo Allegro Vivace“ wechseln Einzeltöne und Akkordsprünge einander ab und schaffen ein lebhaft bewegtes Landschaftsbild. Im abschliessenden „Rondo Allegro ma non troppo“ wird die melodische Erzählstruktur in linker und rechter Hand bestens beherrscht. Ganz schlichte Einzeltöne stehen neben mitreissenden Akkordballungen.

Danach spielt die Pianistin Sijin Liang aus China zwei Episoden aus Buch 1 der „Iberia“ vom spanischen Komponisten Isaac Albeniz aus dem Jahre 1905. Die erste trägt den Titel „Evocación“ und beginnt etwas spröde, blüht dann aber zu großer Farbigkeit auf und integriert spanisches Kolorit. Die Pianistin steigert ihren Ausdruck zu großer Eindringlichkeit, sich immer wieder zu kleinen tänzerischen Melodieelementen herabneigend. Ganz behutsamer Schluss. Das anschließende „Corpus Christi“ beschreibt eine Fronleichnamsprozession.  Ein betont rhythmischer, sehr fein ausgeführter Marschrhythmus, der zwischen Andacht und Expression irisiert. Pianistisch überaus anspruchsvoll, trotz farblich  intensiver Gestaltung werden auch träumerische Passagen eingestreut. Große weite Bögen, als würden Blumen gestreut. Mitreissende Rhythmuswechsel. Wundervolle Ruhe mit zartem Echo am Schluss, duftig wie  Abendluft.

Die japanische Pianistin Ayaka Shigeno spielt anschliessend zwei Petrarca-Sonette aus Buch II der „Années de pèlerinage“ von Franz Liszt, veröffentlicht 1858. Das erste Sonett Nr. 104 ist eine „leidenschaftliche Liebeselegie“, wie die Pianistin in ihren eigenen Erläuterungen schreibt. Sehnsucht und intensive Zuneigung zu der unerreichbaren Laura de Noves bestimmen den Ausdruck.  Petrarcas Empfindung wird in Liszts Ausdrucksskala übersetzt, herrliche Bilder. Auch im folgenden Sonett Nr. 123 liefert die Liebe den Handlungskern, aber der Ausdruck ist ruhiger, träumerischer als beim vorangegangenen Sonett. Die Pianistin gibt ein wundervoll ausgewogenes, gleichwohl spannungsreiches Abbild der dichterischen Intention.
Danach „L’Isle jouyeuse“ aus dem Jahre 1904 von Claude Debussy. Eine zauberhafte Tourismuswerbung für die britische Kanalinsel Jersey, für die vitalisierende Wirkung des Klimas und der Landschaft auf den Besucher vom Festland. Leuchtende Sonne, strahlende Laune und virtuos in pianistischen Ausdruck übersetzte Empfindungen beherrschen diese Skizze. Ein bewundernswerter Klaviervortrag, mit Hingabe und Leidenschaft gestaltet.

Nach einer kurzen Pause ist dann zunächst die japanische Pianistin Yui Fushiki an der Reihe. Sie spielt eine Transkription der Toccata C-Dur BWV 564 von Johann Sebastian Bach aus dem Jahre 1708, die später dann von Feruccio Busoni um das Jahr 1900 umgesetzt wurde.  Ein sehr entschiedener Einstieg, ein einziger dramatischer Lauf mit großer Geste. Dann pointierte Schritte, die zu einem Fugenthema führen. Die markante Dezidiertheit  des Auftritts bleibt das wesentliche Kriterium. Später kommt etwas mehr Wärme ins Bild, und weiter werden Akkorde aufgetürmt. Der letzte verklingt mit viel Pedal. Darauf ein bedächtiger Wiederbeginn, der mehr von Bachs Ausdrucksweise vermittelt, ebenfalls sehr breit und effektvoll skizziert. Es folgt die Überleitung zu einem erneuten grandiosen, in großen Akkorden gefassten Bild. Darauf ein spielerisches, sehr klar gezeichnetes Fugenthema, das die Pianistin bewundernswert transparent hält, Bachs Formulierungen im Klanggewand der Romantik. Markante Präzision von etwas gläserner Struktur, perfekt zum Schlussakkord geführt.

Yui Fushiki spielt dann noch die dreisätzige Komposition „Estampes“ von Claude Debussy aus dem Jahre 1903 . Das erste Stück mit dem Titel „Pagodes“ ist exotisch und farbenreich. Mit überaus leichter rechter Hand werden  Verzierungen durch perlende Läufe markiert. „Une soirée dans Grenade“ bringt nach stimmungsvoller Einleitung ein tänzerisches Motiv, das mit effektvoller rhythmischer Betonung eine spanische Tanzweise vorstellt. Nachklänge vom Tage, die sich in der Abendluft zu spiegeln scheinen. Dann folgen pianistisch sehr reizvolle Paraphrasen über dieses Thema. Schliesslich „Jardins sous la pluie“: Das Spiel der Regentropfen in sehr lebendigen Zeichnungen vorgeführt, als spiele auch der Wind dabei eine gestaltende Rolle. Eine aufblühende Steigerung, Läufe und Triller in perfekter Ausführung übernehmen die Bildgestaltung.

Den Abschluss des Konzerts übernimmt die 1994 geborene schweizerische Pianistin chinesischer Abstammung Mélodie Zhao. Sie spielt Frédéric Chopins Etüden op. 25, zwölf technisch sehr anspruchsvolle Episoden aus den Jahren 1832-36. Die Pianistin beherrscht die Ausdrucksskala Chopins in bewundernswerter Weise. Man hat den Eindruck, sie kenne keine technischen Hürden und verbindet Ausdruck und Virtuosität perfekt. Leichtigkeit und präzise Zeichnung gehen Hand in Hand, dies alles in ziemlich atemberaubendem Tempo. Man kommt aus dem Staunen nicht heraus: ein außergewöhnliches Talent, eine Klasse für sich. Eine Melodielinie  aus einem Lauf heraus verklingen zu lassen - wie sie das macht, ist von größter pianistischer Delikatesse. Damit verbindet sie zarteste Empfindung, Chopins Kosmos in sehr persönlicher, ausdrucksvoller Aneignung. Auch der Wechsel von rasender  Intensität zu lyrisch gefärbter Gelassenheit bereitet nicht das geringste Hindernis. Sollte der Begriff der „Sternstunde“ noch nicht ausreichend mit Belegen versehen sein : dies hier war eine.

Begeisterter Applaus am Schluss eines an Höhepunkten reichen Klavierabends.




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Wider den religiösen Fanatismus
Giacomo Meyerbeers „Die Hugenotten“
in der Deutschen Oper Berlin

Meyerbeers „Grand Opéra“ repräsentiert die große Vergangenheit dieses Genres. Uraufführung 1836 in Paris, und der historische Hintergrund ist die Hugenottenverfolgung samt der blutigen Bartholomäusnacht vom 23. August 1572. Da könnte man nun abwinken und von etwas restlos Dahingegangenem sprechen, wenn sich nicht in der Konfliktlage überraschende Parallelen zum Hier und Heute ergäben, beispielsweise im nicht immer friedlichen Nebeneinander von Christentum und Islam oder in einem politischen Putsch, der einen voraufgegangenen Putschversuch unterstellt und davon mit radikalen Mitteln auch die letzten Spuren zu tilgen versucht. Sieht man also das Paradigmatische, hat man auf einmal ein durchaus aktuelles Anschauungsstück vor sich, das die zerstörerische Wirkung des religiös fundierten Fanatismus vor Augen führt, die keineswegs für alle Zeiten getilgt ist.

Giacomo Meyerbeer war zu Lebzeiten gewiss der berühmteste Opernkomponist seiner Epoche, bevor Richard Wagner dann mit nicht immer fairer Polemik gegen ihn zu Felde zog. Meyerbeers kompositorische Leistung  hat in der Geschichte der Oper mit mehreren Werken nachhaltige Spuren hinterlassen, die es allemal rechtfertigen, sie auch in unseren Tagen auf den Spielplan zu setzen. An den „Hugenotten“ ist gut zu verfolgen, wie die Textautoren Eugène Scribe und Emile Deschamps die Schicksale von Einzelpersonen mit den überlieferten Fakten historischer Ereignisse verknüpfen und dadurch einen vergleichsweise dichten dramaturgischen Handlungsablauf erreichen. Die neue Berliner Inszenierung von David Alden mit dem Bühnenbild von Giles Cadle nimmt diesen Handlungsfaden geschickt auf und kann die Intimität persönlicher Empfindungen einleuchtend und plausibel mit der Darstellung eines gnadenlosen, historisch belegten Konflikts verbinden.

Einer der Reize des fünfaktigen „Hugenotten“-Librettos besteht darin, dass die ersten beiden Akte szenisch eher heiter gestimmte Leichtgewichte sind, während die anderen drei Abschnitte von der zunehmenden Düsternis der gesamtgesellschaftlichen Konfliktlage geprägt werden, die sich wie ein dunkles Verhängnis über die individuelle Lebenslage breitet. Das Bühnenbild mit einem stilisierten Kirchendach und einer dort symbolisch befestigten überdimensionalen Glocke bleibt vier Akte lang unverändert, bis es sich am Ende erstickend auf die Kirchgänger absenkt. Auf die Vorderbühne herabgelassene Zwischenvorhänge ermöglichen gleichwohl szenische Verwandlungen. Was während der drei letzten Akte still und leise durch Positionsänderungen von Bänken, Stühlen und Tischen an Schauplatzänderungen erreicht wird, ist sehr beachtlich. Insgesamt wird ein durchgehender, einleuchtender und nachvollziehbarer Handlungsablauf erreicht.

Meyerbeers Musik ist von durchaus eigenem Reiz. Klingt sie in den ersten beiden Akten leicht und verspielt, gelegentlich den späteren Stil von Offenbach vorwegnehmend, wandelt sie sich mit dem Vorherrschen tragischer Elemente zu markantem Auftreten mit Betonung der Dramatik. Statt wechselnder Leitmotive gibt es eigentlich nur ein wiederkehrendes und die Hugenotten charakterisierendes musikalisches Symbol: die Choralmelodie „Ein feste Burg ist unser Gott“ mit dem Text von Martin Luther. 

Der Dirigent Michele Mariotti erbringt, wenn man mal von geringen Synchronisierungsdifferenzen zwischen Chor (Einstudierung: Raymond Hughes) und Orchester zu Beginn absieht, eine insgesamt beifallswürdige Leistung, zumal die Abstimmung zwischen teils solistisch agierenden Orchesterinstrumenten, der Bühnenmusik sowie Solisten und Chor durchaus schwierige Aufgaben stellt. Der Chor, von Ballett und Statisterie unterstützt, wird streckenweise zum Träger der Handlung und gestaltet Massenszenen von bezwingender Optik.

Den Erfolg des Abends tragen aber insbesondere die stimmlichen Leistungen der Hauptpartien. Patrizia Ciofi als Königin Marguerite von Valois läßt Spitzentöne und Koloraturen von müheloser Schönheit hören, und die Rolle der liebenden Valentine im Glaubenskonflikt wird in der Darstellung von Olesya Golovneva zu einer fesselnden, an stimmlicher Dramatik kaum zu überbietenden Figur. Der Page Urbain von Irene Roberts nimmt durch stimmliche Klarheit und brillante Präsenz für sich ein. Ein besonderes Highlight ist das Rollendebüt von Juan Diego Florez als Hugenottenführer Raoul von Nangis: seine Stimme hat zwar kein überwältigendes Volumen, aber er macht diesen Mangel durch vollendete Gesangskultur und perfekte Artikulation wett, so dass er stets im Vordergrund steht, sobald er auf der Szene ist. Die leidenschaftliche Hingabe in seiner Rollengestaltung ist stets mitreissend und überzeugend. Ihm zur Seite sein treuer Diener Marcel, dem Ante Jerkunica seine kraftvolle Baßbaritonstimme und einen überaus glaubwürdigen und bewegenden szenischen Auftritt verleiht.

Das Publikum im praktisch ausverkauften Haus zeigt auch nach den fünf Stunden der Aufführung keine Ermüdungserscheinungen und überschüttet Chor und Solisten mit frenetischem Applaus. Das Regieteam kassiert bei seinem Auftritt ein paar Buhrufe - diesmal nun wirklich total unberechtigt. Man muss darin wohl eher eine ruppige Art des Lobes erblicken.

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Gute Musik für einen guten Zweck
Kammerkonzert mit Stipendiaten
der Hindemith-Gesellschaft Berlin

Die Berliner Paul- Hindemith-Gesellschaft, die seit mehr als 50 Jahren besteht, hat sich die Förderung herausragender, aber wirtschaftlich schlecht gestellter Begabungen aus Musik und Schauspiel unter den UdK-Studenten auf die Fahnen geschrieben. Das Prinzip  des "Fund raising" ist dabei ganz einfach: Stipendiaten und Kammermusikpartner geben mehrmals im Jahr Konzerte bei freiem Eintritt, und aus den Spenden des Publikums bei dieser Gelegenheit sowie den Mitgliedsbeiträgen werden neue Stipendien generiert.

Das jüngste dieser Konzerte im Joseph-Joachim- Konzertsaal der Berliner Universität der Künste konnte mit einem sehr farbigen, abwechslungsreichen Programm musikalischer Kompositionen aus drei Jahrhunderten aufwarten.

Die Begrüßungsworte übernimmt der Vorsitzende der Gesellschaft, der Cellist Prof. Wolfgang Boettcher.

Als Auftakt spielt der 1994 geborene Pianist Marcel Mok, der bei UdK-Prof. Klaus Hellwig studiert, Ludwig van Beethovens Klaviersonate Nr. 30 op. 109 E-Dur aus dem Jahre 1820.
Reich und fantasievoll öffnet sich diese drittletzte Beethoven-Klaviersonate. Dann ein Prestissimo, Energisches mit sehr fein ziselierten Verzierungen mischend. Gesangvoll, mit innigster Empfindung ist der nächste Satz bezeichnet, dann Andante molto cantabile ed espressivo. Marcel Mok spielt das ausdrucksvoll und beinahe andächtig, in bedächtigem Zeitmaß und mit verhaltener Intonation. Trotz schlichtem Auftreten werden aber spannungsreiche Akzente gesetzt. Dann folgt eine Reihe von Variationen, in denen besonders die hingetupften kurzen Töne in Kontrast zu prächtigen, akkordfundierten Passagen beeindrucken. Beethovens Tonsprache hat hier einen besondern Höhepunkt freier, souveräner individueller Artikulation erreicht, die der Pianist dank intensiver Vertiefung in dieses Spätwerk auf bewegende Weise  auszudeuten vermag.

Als nächster Autor ist der österreichisch-ungarische Komponist und Flötist Franz Doppler an der Reihe, dessen „Andante und Rondo" op.25 C-Dur im Jahre 1874 entstand. Die beiden Querflötistinnen Sohee Kim und Xiangchen Ji werden von der Pianistin Daria Goremykina begleitet. Beide Querflöten in einem reizvollen Duett spielen sich in leichtem Flug, den Klavierton umflatternd, zunächst durch einen langsamen Einleitungsteil mit gutem Feeling für den schwingenden Rhythmus der Komposition, fein abgestimmt in der Tongebung. Dann eröffnet das Klavier den Rondo-Abschnitt, in dem die beiden Flöten gewissermaßen ein gutgelauntes Verfolgungsspiel vorführen. Das Trio überzeugt durch glänzendes Zusammenspiel, das die thematische Entwicklung plastisch herausarbeitet. Die Pianistin ist  mehr als nur Begleiterin, sie fundiert und leitet ausdrucksvoll den Auftritt.

Den folgenden Programmpunkt, die Sonate d-moll L 135 aus dem Jahre 1915 von Claude Debussy sollte eigentlich die Cellistin Viktoria Emilia Lomakova zusammen mit der Pianistin Elena Schöndorf übernehmen, aber die Cellistin mußte kurzfristig absagen. Für sie springt die Pianistin Nadezda Filippova ein und spielt Debussys „Suite Bergamasque“ von 1890. Spanisches Kolorit wird  in tänzerischem Stil offeriert, die Pianistin versteht es exzellent, die Atmosphäre des mittelmeerischen Südens in den Saal zu zaubern. Duftende Harmonien neben überschwänglicher Emphase. Intim und zauberhaft dann der nächste Satz, mit größter Einfühlsamkeit und ausdrucksvollem Feingefühl vorgetragen: das berühmte und vielfach adaptierte „Clair de lune“, von Mondlicht inspiriert. Das abschliessende „Passepied“ ist rhythmisch reizvoll, neckisch-pointiert, die Pianistin gebietet souverän über die volle Ausdrucksskala.

Nach der Pause steht Franz Schuberts „Arpeggione-Sonate“ a-moll D 821 in einer Fassung für Viola und Klavier von 1824 auf dem Programm. Es ist eine Komposition, die das Instrument überlebt hat, für das sie ursprünglich gedacht war.  Das  Arpeggione ist
ein  Mittelding aus Gitarre und Cello, das heute nur noch im Musikinstrumentenmuseum zu finden ist. Karolina Errera übernimmt den Violapart, Annika Treutler als Gastsolistin die Klavierbegleitung.

„Allegro moderato“ beginnt der erste Satz mit einem  behutsamen Einstieg für das Klavier, von der Viola mit ausdrucksvoller Sanglichkeit übernommen. Entschieden und mit hübschen kleinen Tonsprüngen wird der Weg fortgesetzt, rhythmisch vom Klavier interpunktiert. Ein schön verhaltenes Zwischenspiel wird von der Viola fast geflüstert. Zarteste Töne sind mit klarem Ausdruck kontrastiert. Im zweiten Satz „Adagio“ erklingt
ein wunderbar stimmungsvolles Thema, das zu einem Abendlied gehören könnte. Wieder ungemein farbig dargeboten durch die volle Spannweite zwischen zarten, verhaltenen Tönen und weit ausschwingender, schön timbrierter und in der Höhe stets ganz sauber gegriffener Tongebung. Was für ein charaktervolles Instrument ist doch diese Viola! Feiner Sinn für die thematische Akzentuierung ist hervorzuheben. Im abschliessenden „Allegretto“  ist dann  Raum für virtuose Wendungen, die Viola benimmt sich fast wie eine Violine. Die Klavierbegleitung detailgenau und in makellosem Konsens. Der Mittelteil ist geradezu "saltarello", in bester Laune und mit musikantischem Feuer. Wieder bewundernswert: die thematische Gestaltung durch die Viola. Spielfreude dominiert, Präzision ist wie selbstverständlich.


Für die Polonaise-Fantaisie As-Dur op.61 von 1846 setzt sich dann die Pianistin Nadezda Filippova ein zweites Mal an den Steinway-Flügel des Konzertsaals. Eingangs wird in Tönen ein  Halbkreis beschrieben und mehrfach ausgeschritten, dann das Thema etwas fortgesponnen und erweitert,  anschliessend  fantasievoll und pianistisch anspruchsvoll     vorangetrieben. Markante Schritte in schönster Chopin-Manier, mit strahlenden Akkorden, brillantem Lauf und einem raffinierten Ritardando-Effekt. Ein träumerisches Zwischenspiel. Eine Trillersequenz führt zu einem Ruhepunkt, von dem aus eine neue Entwicklung einsetzt. Jetzt geht es mit Verve und grosser Geste in  eine Szenerie aus prächtigen Akkorden, die sich in harmonischem Fluss zusammenballen, um schliesslich in sich zusammenzufallen. Die Pianistin begeistert durch ausdrucksvolle Gestaltung und spieltechnische Perfektion.

Den Abschluss des Konzerts bildet der Auftritt der 23jährigen chinesischen Sopranistin Mengqi Zang. Ihr heller, einschmeichelnd timbrierter Sopran hat eine erkennbare Affinität zum Operettenfach, auch wenn er in der Intonation möglicherweise noch  etwas stabilisierbar erscheint. Sie singt eingangs die Arie „Fata Morgana“ aus der Operette „Prinzessin Nofretete“ von Nico Dostal, uraufgeführt 1936. Dann folgt die berühmte Arie der Adele aus Johann Strauss’ Operette „Die Fledermaus“, die 1874 erstmals auf die Bühne kam. Der schelmische Habitus von Adeles Arie mit ihren unterschiedlichen Rollen gelingt  sehr gut, die Spitzentöne klingen in der Höhe präsent und sauber. Ein sympathischer und für die junge Sängerin vielversprechender Abschluss dieses Konzertabends. Den reichen Beifall belohnt sie noch mit einer Zugabe: „Strahlender Mond“ aus Eduard Künnekes „Der Vetter aus Dingsda“, uraufgeführt 1921 im Berliner Theater am Nollendorfplatz. Nun ist die anfängliche Aufregung vergessen, und die Artikulation gelingt noch entspannter als zuvor.  Hindemith-Beirätin Jutta von Haase dankt allen Ausführenden mit einer langstieligen Freilandrose: eine liebenswürdige Geste der Unterstützung für die jungen Nachwuchskünstler.


 

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Barock in vielerlei Gestalt
Martin Bambauer (Trier) an der Eule-Orgel
des Französischen Doms Berlin

Längst sind die Orgelkonzerte am ersten Donnerstag jeden Monats für die Eule-Orgel in der Französischen Friedrichstadtkirche Berlin zu einer ständigen Einrichtung geworden, die auch ihr festes Stammpublikum hat. Organisten sind an diesen Abenden neben dem „Hausherrn“ KMD Kilian Nauhaus auch Gäste aus dem In- und Ausland, die mit individueller Spieltechnik jeweils die außerordentlichen technischen und klanglichen Vorzüge der Orgel der Bautzener Firma Eule, erbaut 1985, zur Geltung bringen. Diesmal nahm Martin Bambauer aus Trier am Spieltisch Platz. Nach Studien in Düsseldorf und Frankfurt ist er seit 1999 der mit vielen Preisen ausgezeichnete Organist und Kantor der Evangelischen Kirchengemeinde in Trier.  Der Gast hat in seiner Heimatkirche, der Trierer Konstantin-Basilika, ebenfalls eine Eule-Orgel neueren Datums zur Verfügung. Kilian Nauhaus hiess den Gast willkommen, und Martin Bambauer gab selbst einige Erläuterungen zu seinem Konzertprogramm.

Zur Eröffnung spielt er Dietrich Buxtehudes Toccata F-Dur BuxWV 156, die etwa um 1690 entstanden ist. Einen fröhlichen Bogen schlägt die Melodie hier zu Beginn, plaudert sich weiter über dunklem Bassfundament, schreitet dann akkordweise voran. Darauf setzt eine zierlich formulierte Fuge ein, die in schöner, reizvoller Registrierung ihren Weg nimmt. Harmonische Bögen werden errichtet. Die Fuge endet und macht der nächsten Platz. Hübsch wechselnde Klangfarben, an verschiedenste Blasinstrumente erinnernd. Mächtiger wird der Klangauftritt bis zum lange ausgehaltenen Schlussakkord.

Das nächste Stück ist die „Canzonetta“ von Buxtehude BuxWV 171, deren Entstehungsjahr allerdings nicht zu ermitteln war. In hellem Ton, kleintaktig springend, tänzelt die Melodie voran, bis ein Ensemble von schön sonor klingenden Blasinstrumenten die Regie übernimmt.

Dann erklingt der erste Beitrag aus französischer Tradition, das „Offertoire sur les Grands Jeux“ aus der „Messe pour les paroisses“ von François Couperin, vermutlich ebenfalls im Jahre 1690 komponiert. Vollmundig, aber überaus charaktervoll setzt das Offertorium ein,  betont das Zeremonielle, Repräsentative, das Klangbild bleibt respektheischend. Dann geht es mehrstimmig und kleinteilig weiter, fugiert gegeneinander versetzte Elemente, Dur-Moll- Schattierungen, danach eine tänzerische  Formel von durchaus heiterem Charakter, schreitende Akkorde mit Trillerverzierung am Schluss. Ein breiter Akkord am Ende.

Darauf wird der Mittelpfeiler des Abendprogramms errichtet: Johann Sebastian Bachs „Passacaglia“ c-moll BWV 582 aus dem Jahre 1713. Das Thema im Bass, darüber wechselnde Verzierungen von eigenwilliger Farbe, zunächst ähnlich bewegungsarm wie das Thema, von dem sich die Varianten dann zunehmend lösen und in höhere Bereiche der Tonskala aufsteigen. Immer bleibt das Bassthema gut hörbar, wie ein stets gegenwärtiger  Wegweiser. Dann wird das ganze Modell in höhere Tonlagen befördert, wo es sich in unterschiedlichen Charakterzügen entwickelt. Der Organist führt die Struktur des Ganzen wunderbar klar und gut identifizierbar vor. Das Klangbild wird dichter und beginnt zu leuchten. Die transparente Exaktheit des ganzen Bauwerks ist bemerkenswert. Wenn man das Bassthema einmal vermisst, taucht es Sekunden später mit Entschiedenheit wieder auf und verträgt sogar die Zusatzlast dazwischen gesetzter Akzente. Mit einem Schlussakkord endet die meisterlich exekutierte Tonwanderung.

Im Anschluß kurz und bündig Bachs Choralversion „Liebster Jesu, wir sind hier“ BWV 731 aus der Weimarer Zeit des Komponisten. Eine liebliche Choralmelodie mit lange schwingend ausgehaltenen Tönen leitet die Komposition  ein. Dieser langsam schreitende Duktus bleibt erhalten und gibt dem Ganzen eine schwebende Klanggestalt.

Als nächstes präsentiert der Gast eine Eigenkomposition, die „Improvisierte Suite im barocken Stil“. Deren „Ouvertüre“ bringt einen festlich großen Auftritt zu Beginn, gefolgt von einer sauber fugierten Passage, als hätte ein Neffe von Bach dies komponiert. Beim folgenden „Air“ wird dieser Satz in lieblich-gefälligem Sound geruhsam ausformuliert.  Auch hier ist die absolute Stilsicherheit hervorzuheben, mit der das geschieht, ohne die geringste Scheu vor dem Griff in die kompositorische Handwerkskiste verflossener Zeiten. Die anschliessende „Bourrée“kommt regelrecht pfiffig daher, mit auftrittssicheren Schlußformeln.  Das „Menuett“ lebt, wie es sich gehört,  von einer galanten Grundhaltung und anmutiger Melodieführung, gefällig abgewandelt und das Tänzerische betonend.
Eine „Badinerie“ ist gleichfalls etwas Unterhaltsames, den Geist auf angenehme Weise mit sich fortführend. Einprägsame Melodik und ein höflicher Schluss.

Der Komponist des folgenden Musikstücks ist der Brite Sir Charles Hubert Parry. Drei Sätze aus der siebensätzigen „An English Suite“, entstanden im Jahre 1914, erklingen in der Orgelfassung von Wolfgang Stockmeier. Das „Prélude“ scheint den Klangcharakter der vorigen Komposition fortzuführen und läßt gleichwohl die Handschrift des Komponisten von "Jerusalem" erkennen, Wolfgang Stockmeiers Orgelfassung transportiert ganz vorzüglich den Fundus volksliedhafter englischer  Melodieelemente samt einer geschickt vorbereiteten Steigerung. „In minuet style“ schliesst sich an : Nun sind wir richtig im Milieu der Romane von Jane Austen angekommen. Klangfarbe und Melodieführung geleiten den Zuhörer ins Milieu seelenvoller Dispute und dekorativer Ballereignisse im England des 19. Jahrhunderts. Der Satz „Frolic“ nimmt's wörtlich: Ein schmissiger, mitreissender Tanzsatz, dessen ungetrübte Heiterkeit  beinahe dazu auffordert, sich den Tanzenden anzuschliessen. Glänzende Wiedergabe durch den Organisten.

Nun wieder französisch, sowohl im Stil einer Meditation wie in der hierfür gewählten Ausdrucksskala. Louis Viernes „Méditation“ ist der zweite Satz seiner „Trois Improvisations“ von 1928.  Ein breit dahinfliessender Klangstrom, der die Gedanken mit sich fortführt. Dunkle Elemente werden durch hellere Eingebungen auf eine höhere Ebene gehoben, alles in tröstlicher Ruhe.

Den Abschluß bildet die „Fantaisie“ B-Dur op. 18, der sechste von zwölf Sätzen einer Komposition aus dem Jahre 1856 von Alexandre-Pierre F. Boely. Kreisende, aufwärts gerichtete Akkordfolgen. Der Einleitung folgt eine in fugiertem Stil gehaltene Passage, der sich immer wieder die verschiedensten Einsprengsel überlagern. Der Organist kann hier noch einmal seine Fähigkeit ausspielen, zahlreiche Klangvarianten einzuführen, ohne damit die Grundforderung der Transparenz zu verletzen. Schöne Akkorde zum Schluss.

Nachdrücklicher Applaus für  abwechslungsreiche, technisch überaus versiert dargebotene Orgelmusik.

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Klassik und Romantik
Klavierabend der Klasse UdK-Prof. Klaus Hellwig
im Konzertsaal Bundesallee Berlin

Mit einem ungewöhnlich feinfühlig und spannungsreich gestalteten Programm pianistischer Highlights aus Klassik und Romantik eröffnete die Klavierklasse  von UdK-Professor Klaus Hellwig jetzt die Reihe der Konzertauftritte im laufenden Wintersemester 2016/17.  Auf der "playlist" stand Mozarts letztes Klavierkonzert, eingerahmt unter anderem von mehreren Klavierzyklen Robert Schumanns.

Als erste interpretiert die japanische Pianistin Tomoyo Umemura den Klavierzyklus „Papillons“ op. 2 aus dem Jahre 1832 von Robert Schumann. Die einzelnen Sätze sind in Zusammenhang mit dem Romanfragment „Flegeljahre“ von Jean Paul entstanden.

Das Eingangsthema des ersten Stücks tritt klar und gut markiert hervor. Das bleibt ein Charakteristikum auch in der weiteren Fortführung. Der spielerische Ausdruck ergänzt sich kontrastreich mit raffinierten Akzentbetonungen. Sprunghaft tanzende Akkorde, ohne übertriebene Anstrengung. Die elegant fliessende Harmonielinie erwächst unmittelbar aus der Handhaltung der Pianistin. Ein vital akzentuierter Walzer bleibt im Ohr, die anschliessend rasch taktierten Akkorde beeindrucken durch den genau bemessenen Anschlag. Ein hübsch nachklingendes Echo, dem wieder härtere Ausdrucksformen folgen. Die Pianistin reiht eine Folge erzählender Bilder mühelos und mit Charme aneinander, ohne sich der Effekthascherei schuldig zu machen. Deklamatorisches gelingt im Detail ebenso formsicher wie das verträumte Nachklingen eines Gedankens. Dabei wird die Spannung zwischen dem Ausdruckscharakter der Stücke feinsinnig gehalten.

Es folgt Schumanns Zyklus „Waldszenen“ op. 82, komponiert 1849, eine Folge stimmungsvoller Bilder unter dem Eindruck  des deutschen Waldes. Ein schlichtes Entree, dann der "Jäger auf der Lauer", der in großen Sprüngen von Versteck zu Versteck huscht. " Einsame Blumen" verlieren sich auf einer Wiese, schlicht und ohne großen Anspruch. Eine "verrufene Stelle" verbreitet eine unheimliche Atmosphäre, vorsichtig setzt der Wanderer Fuss vor Fuss. Dann dehnt sich eine "freundliche Landschaft" vor seinen Blicken aus, wird mit raschen Strichen skizziert. Eine "Herberge" ist gefunden, die Atmosphäre in volksliedhafter Manier umschrieben. Ein "Vogel als Prophet" ist zu vernehmen, flattert in zarten Aufschwüngen herum und verkündet dann feierlich eine Vorhersage. Das "Jagdlied" erklingt in männlichem "Freischütz"-Ton, feiert den Wald in prächtigen Akkorden. " Abschied" hat die Herbstfarbe leiser Melancholie. Die einzelnen Szenen sind mit Feingefühl und bildhafter Phantasie gestaltet, wobei nichts zerfliesst, sondern stets die geschlossene Form wahrt.

Schliesslich Schumanns Komposition „Widmung“ aus dem Liederzyklus „Myrten“ op.25 Nr. 1 in der Klavier-Transkription von Franz Liszt, erschienen 1849. Der emphatische Aufschwung dieses Preislieds kommt überzeugend zum Ausdruck, wobei Franz Liszts effektvolle Instrumentierung dem ganzen Auftritt strahlende Lichter aufsetzt, die von der Pianistin formsicher dargereicht werden.

Schon vor Beginn des Konzerts hatte Professor Hellwig eigenhändig die beiden Steinway-Flügel auf der Bühne des Konzertsaals in eine Position geschoben, dass beide Klaviaturen nahezu nebeneinander liegen. Dies ist nun die Startposition für die Darbietung einer kammermusikalischen Version von Wolfgang Amadeus Mozarts letztem Klavierkonzert B-Dur KV 595 aus dem Jahre 1791. Den Solopart übernimmt die japanische Pianistin  Yuka Morishige, den Orchesterpart steuert der japanische Pianist Yoshito Kitabata aus der Klavierklasse von Prof. Markus Groh bei.

Der ausführlich einleitende Orchesterpart im ersten Allegrosatz gibt das Thema vor, mit pointierter Sicherheit und in bestem Verständnis der mozartschen Ausdrucksskala. Dann die Solistin im Dialog mit dem Orchester. Das Zusammenspiel der beiden gelingt aufs Angenehmste. Sie reichen sich die Einsätze zu, dass der Zuhörer mit gespannter Aufmerksamkeit folgt und die Reise durch die mannigfaltigen Dur-Moll- Wendungen mitvollzieht. Die heitere Geläufigkeit beider Solisten bringt das Melodiegeflecht zum Schweben, wobei der Orchesterpart die Pianistin quasi auf Händen trägt. Kadenz mit virtuosen Trillern, dann zurück zur Einmündung in den Orchesterpart.
Zweiter Satz „Larghetto“ : Mit dem ruhigen Atem der Wortführerin beginnt das Soloklavier, ergänzt dann wenig später den Orchesterpart und trägt das Thema  ausdruckssicher weiter. Beide Spieler finden den gleichen Duktus, kommen aus dem selben Empfinden. Man folgt dem Vortrag mit Bewunderung. Schliesslich als dritter Satz erneut ein „Allegro“: Ein heiter daher springendes Thema zum Abschluss, vertrackt schwierige Synchronisierungsaufgaben, beiderseits mit sicherer Hand gemeistert. Das Echo vom Orchesterpart klingt immer etwas markanter als die prächtige Geläufigkeit der Pianistin, deren präzise dosierter Anschlag besonders hervorzuheben ist. Eine überzeugende Aufführung, mit viel Beifall bedacht.

Nach einer kleinen Pause ist der chinesische Pianist Cheng Zhang mit Robert Schumanns „Kreisleriana“ op.16 aus dem Jahre 1838 an der Reihe, einem Zyklus, der auf die Figur des Kapellmeisters Kreisler Bezug nimmt, die wiederum dem Schriftsteller E.T.A. Hoffmann zu verdanken ist.

Ein wild fiebriger Einstieg „äusserst bewegt“ mit einem sanften Mittelteil, der bereits die ganze Ausdrucksskala dieser Reihe von Fantasien umreisst. „Sehr innig und nicht zu rasch“ ist die Fortsetzung überschrieben, vom Pianisten sehr genau erfasst. Er vermag es überzeugend, dem Geist dieser Kompositionen nachzuspüren, die Verwandlungen der Szene und der darin verborgenen Empfindungen zu erlauschen. Das Geheimnis der suggestiven Kraft , Energieballungen und dann wieder ein fliessendes Sich-Auflösen, entschiedene Akzentsetzungen. Die Empfindungen werden vom Pianisten ganz nach innen genommen und einer strengen  Disziplin des Ausdrucks unterworfen.  Eine grandiose Farbpalette leuchtet auf, in der sich heisse und  kühle Töne in jeweils faszinierender Geschlossenheit ablösen. Der Klang erstirbt und gewinnt neue Kraft: sprunghafte Wiederbelebung. Das "Wie" und "Warum" dieser schroffen, sich aufbäumenden Anläufe wird entschlüsselt und gleichermassen vor Ohren und Augen ausgebreitet. Da steht die nur angetupfte Akkordfolge neben einer liedhaft vorgetragenen Melodie, als werde die " Loreley" apostrophiert, Ein ungewöhnliches Gestaltungstalent offenbart sich hier am Flügel mit eigenem Zugang zu Schumanns Höhlen- und Landschaftswelt. In rascher Spieltechnik zeigen sich atemberaubende Virtuosität und hinreissende Intensitätswechsel. Nachdrücklicher, anhaltender Beifall für eine sehr beeindruckende Interpretation.

Das Finale dieses Abends bestreitet der kanadische, in Hongkong geborene Pianist Avan Yu. Er beginnt mit Frédéric Chopins Ballade f-moll Nr. 4 op. 52 aus dem Jahre 1842. Die Einleitung ganz beiläufig und zart, dann folgt ein etwas melancholisch klingender Walzer. Der weitere Verlauf  gewinnt  an Kraft, wird mehrstimmig und steigert sich über einen Lauf bis zu einer schwingenden Erzählung von intimem Reiz, die dann wieder zu tänzerischen Akkorden aufblendet. Zauberhaft leicht und von verträumter Eleganz. Herrliche Läufe in größter Leichtigkeit, die abrupt zum Stillstand kommen und einem neuen Anlauf Platz machen. Stupende pianistische Technik und absolute Stilsicherheit.


Den Abschluss bildet die „Toccata“, der letzte Satz aus Maurice Ravels „Le tombeau de Couperin“, komponiert 1917. Quirlende Tongirlanden von spielerisch rankendem Charakter. Ein geschlossenes Klangbild, das gleichwohl die einzelnen Anschläge säuberlich erkennen läßt und mit einer Liedmelodie schliesst. Akkorde wie Glockenklänge folgen, darüber zirpende Triller - die zaubrische Wirkung eines Feenreichs, durch keinen Einwand getrübt. Dann ein rascher, virtuoser Schlussteil, wieder von wunderbaren Akkorden mit motorischer Energie vorangetrieben. Lebhafter Applaus für einen überaus virtuosen, buchstäblich hinreissenden Klaviervortrag.

Damit schließt ein bewunderungswürdiger Klavierabend auf internationalem Konzertniveau.

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Ouvertüre mit Pianoforte
Klavierabend Klasse UdK-Prof. Mi-Joo Lee
im Konzertsaal Bundesallee Berlin

Den Auftakt der Konzerte im diesjährigen Wintersemester der UdK-Instrumentenklassen übernahm diesmal die Klavierformation von UdK-Professorin Mi-Joo Lee. Im Konzertsaal an der Berliner Bundesallee hörte ein wie stets zahlreiches Publikum Klaviermusik von Bach bis Debussy.

Eröffnet wird mit Mozart. Nala Baik spielt sein  Rondo a-moll KV 511, komponiert 1787 in Wien. Die ersten Töne perlen noch etwas verloren dahin, finden dann aber wie selbstverständlich in den 3/4-Takt des Rondos hinein. Anmutig kreisende Figuren, die in ihrer straffen Struktur fast ein wenig nach Bach klingen. Dem wechselnden Charakter der Themen spürt die Pianistin einfühlsam nach. Nun ist auch die Gelöstheit zu spüren, die im Einklang mit spieltechnischer Geläufigkeit den Reiz des Stückes ausmacht.

Es folgt Ludwig von Beethovens frühe Sonate Es-Dur op. 7, die Nummer 4 aus dem Jahre 1797. Sie beginnt lebhaft, Allegro molto e con brio. Nala Baik gibt ihrer Darstellung Farbe und Leben, ohne Gewalt anzuwenden. Prächtige Akkorde, glänzende Läufe und spannende Taktverlagerungen verleihen dem Melodiefluss Richtung und Kontur. Rhythmischer Drive und eine ausgefeilte Sprungtechnik beeindrucken besonders. „Largo, con gran espressione“ ist der zweite Satz bezeichnet. Verhaltene Schritte führen in diesen Abschnitt ein. Die Ruhe des thematischen Duktus gibt Raum für den geforderten nachhaltigen Ausdruck. Ein bedachtsam gezeichnetes Landschaftsbild, das die Pianistin mit Gelassenheit und gestalterischer Hingabe entwirft. Der dritte Satz „Allegro“ ist ein heiterer Lauf mit verspielten Drehungen und Wendungen, hier mit ausdrucksvollen Akzentuierungen versehen, die dem ganzen Satz federnde Spannung verleihen. Der balladeske Mittelteil bekommt eine besonders markante Kontur. „Rondo, poco Allegretto e grazioso“ steht über dem letzten Satz. Anmutig und galant tritt das Thema herein, wird dann durch wechselnde Schattierungen geführt, die bei aller Schlichtheit pianistisch durchaus anspruchsvoll sind. Dann folgt eine Variation mit stärker akzentuierten Impulsen, die auf den Rückweg zum Ausgangsthema führen. Schlichter Schluss.

Als nächste kommt die Pianistin Miyeon Lee aufs Podium. Sie spielt drei Präludien und Fugen aus dem „Wohltemperierten Klavier“ von Johann Sebastian Bach. Zunächst G-Dur aus Band I, komponiert 1722. Das Präludium in flottem Lauf mit präzisem Ausdruck. Dann die Fuge mit klarem Blick für Linie und Tragweite, das Tempo gut gehalten, die Struktur mit fein gezeichneter Akzentuierung herausgearbeitet. Darauf c-moll aus Band II aus dem Jahre 1740. Ein tänzerischer Einstieg ins Präludium. an eine Gavotte erinnernd. Straff und in guter Koordinierung beider Hände vorangeführt, markant und pointiert. Die Fuge setzt fast verträumt ein und findet dann zu thematischer und melodischer Breite. Schöne Entschiedenheit gepaart mit dem Sinn für harmonische Spannbögen. Schliesslich F-Dur aus Band II: Das Präludium eine weiträumig geführte Linie von melodischer Schönheit, bedächtig und deliberativ vorgetragen. Eine Fuge aus lauter aufeinander folgenden Sprungfiguren, die ein dichtes, sich dauernd veränderndes Klangbild ergeben.

Den letzten Vortrag vor der kleinen Pause gestaltet die Pianistin Fyuko Nakamura. Sie spielt Andante spianato („schlicht“)und Grande Polonaise op. 22 von Frédéric Chopin. Die Polonaise ist von 1831, das Vorspann-Andante von 1834. Über der präludierenden Linken führt die rechte Hand das perlend strukturierte Thema ein, das sich zunächst gemäß der Satzbezeichnung ganz schlicht gibt und nur durch ein paar raffinierte Ornamente auf Kommendes verweist. Chopins Diktion ist hier gut erfasst und mit zarten Effekten in Szene gesetzt. Dann drängt mit klarem Impetus und unverkennbarem Ankündigungscharakter das Polonaisen-Thema herein. Die Pianistin überzeugt durch leichten und gleichwohl stets präzisen Anschlag und überschwängliche rhythmische Präsenz. Eindeutig das erste Highlight dieses Abends. Sie beherrscht die Chopinsche Klangskala souverän und mitreissend. Ein blendender Vortrag, belohnt mit rauschendem Beifall und spontanen Bravo-Rufen.

Nach der Pause leitet die Pianistin Hansol Cho den zweiten Teil mit drei Etüden aus drei Jahrhunderten ein. Zuerst Domenico Scarlattis Sonate D-Dur K29 von 1739. Von größter Akkuratesse und Geläufigkeit gekennzeichnete Melodiebögen, schwieriges und bestens gemeistertes Zusammenspiel von linker und rechter Hand, eine springlebendige Präsentation von hohem rhythmischen Reiz mit fein abgetönten Echowirkungen, sehr virtuos. Darauf Frédéric Chopins Etüde As-Dur, op. 10,10 aus dem Jahre 1829. Kreisende Figuren mit reizvollem Nachhall. Auch sie trifft Chopins Ausdrucksstil gut, das pianistische Aufgabenfeld wird umfassend beherrscht. Zum Schluss die „Etude pour les octaves“ aus dem Jahre 1915 von Claude Debussy. Hier kommt nun der Klangsinn der Pianistin lustvoll zur Geltung. Akkorde wie Glockenklänge, dann huscht die rechte Hand einmal nahezu gespenstisch über die Tastatur. Farbcluster in faszinierender Reihung, grandios und effektvoll.

Als letzte der Vortragenden an diesem Abend setzt sich nun JuAe Ha in einem langen rotgetönten Abendkleid an den Steinway-Flügel und beginnt mit der Humoreske op. 20 aus dem Jahre 1839 von Robert Schumann. Die Eingangstöne träufeln „Einfach“, wie vorgeschrieben, ins Ohr. „Hastig“ das Folgende, ohne gehetzt zu wirken. Eher ein Tanz in abgestuften Sprüngen, mit Differenzierungen im wirbelnden Fortgang. Dann wieder „einfach und zart“, als ob der Pulsschlag sich beruhigt. Verträumtes mischt sich in der Folge mit Nachdenklichem, Schumann weist sich hier mehr durch romantische Gefühle als durch seelische Abgründe aus. Dennoch werden auch jähe Aufschwünge geboten, von der Pianistin mit explodierendem Temperament als Kontrast eingebaut. Der Abschluss liedhaft und mit großzügiger Rhetorik ausformuliert, von JuAe Ha mit Verve gestaltet bis zur kursorischen Schlussformel.

Das zweite Highlight des Abends liefert sie dann mit Felix Mendelssohn Bartholdys „Rondo capriccioso“ op. 14 aus dem Jahre 1830. Ein zärtlicher, liedhafter Einstieg, der in das flinke  Rondo überleitet, das in seiner vitalen Fröhlichkeit ein überaus passendes Finalstück für diesen gelungenen Klavierabend ist und der Pianistin noch einmal Gelegenheit gibt, ihre Gestaltungsqualitäten eindrucksvoll vorzuführen. Das Publikum dankt mit überschwänglichem Applaus, und der Blumenstrauss einer begeisterten Zuhörerin krönt  die Szene.

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Treue auf Probe
Premiere von „Cosi fan tutte“
in der Deutschen Oper Berlin

Saisoneröffnung an der Deutschen Oper Berlin. Als Startereignis hat sich Intendant Dietmar Schwarz das 1790 am Wiener Burgtheater uraufgeführte Dramma giocoso „Cosi fan tutte“ mit dem Text von Lorenzo da Ponte ausgesucht, eins von Wolfgang Amadeus Mozarts sakrosankten musikalischen Meisterstücken. Regie und Bühnenbild steuert diesmal Robert Borgmann bei, ein Theaterregisseur, der unter anderem ein Regiestudium an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ absolviert hat und hier sein Debüt als Opernregisseur vorstellt.

Es ist ein Klischee, das sich da Ponte hier auf vielfach gespiegelte Weise vornimmt. Alle Frauen, so seine These, nehmen es mit der Treue nicht gar so genau und sind nur allzu gern bereit, ihre eben geleisteten Schwüre zu vergessen, wenn die Liebhaber in der Ferne sind und stattdessen neue attraktive Männlichkeiten in greifbare Nähe rücken und reale Wonnen verheissen. Nach der Sitte der Zeit werden die daraus resultierenden Konflikte, Skrupel und Selbst- wie Fremdvorwürfe sehr ausführlich ausgebreitet und reflektiert. Es käme also darauf an, ein Regiekonzept zu entwickeln, das diesen streckenweise sogar etwas frivolen Stoff mit seinen bis heute auffindbaren Problemen auf intelligente, aber bitte auch überzeugende Weise in unsere Zeit holt und auf der Bühne nacherleben lässt.

Alles beginnt in durchaus passabler Weise und lässt den ersten Akt über weite Strecken hin leidlich unterhaltsam und gewinnend wirken.Eine pantomimische Rahmenhandlung propagiert während der Ouvertüre das Postulat „Youth“ und nimmt dieses Motiv später mit dem Schlußvorhang erneut auf.  Der Bühnenboden ist zunächst eher karg mit gelbfarbigen Stoffbahnen drapiert, die an die Umrisse einer Insel erinnern und durch angedeutete Vegetation ergänzt und belebt werden. Farbige Lichtspiele, Videoprojektionen und ein paar Reminiszenzen an Kostüme und Stilelemente aus Mozarts Zeit wie etwa ein zeitlos dekorativer Kerzenleuchter und einzelne Möbelstücke sind teils auf der kreisenden Bodenplatte der Drehbühne montiert und bringen immer wieder etwas Bewegung in die Szene. Im zweiten Akt wird dieser bis dahin durchaus tolerable Eindruck allerdings durch Versatzstücke und Projektionen ergänzt, die sich nur mit Mühe und viel Phantasie in eine Beziehung zur Handlung bringen lassen. Die Energiewende wird beschworen, indem die Bühne  von der übergroßen beweglichen Plastik einer texanischen Ölförderpumpe beherrscht wird, während am Horizont ein dichtes Gewirk von Windrädern auszumachen ist, wie wir es heute aus der brandenburgischen Landschaft kennen.

Angesichts solcher Rätsel wendet sich der Zuschauer desto aufmerksamer dem Spiel der handelnden Personen zu. Da ist zuerst der Advocatus diaboli namens Don Alfonso, verkörpert vom Bariton Noel Bouley, der seine markante und flexible Stimme spielfreudig und situationsgerecht einsetzt. Er nutzt persönliche, etwas pessimistische Lebenserfahrungen, um die beiden jungen Offiziere Guglielmo (John Chest) und Ferrando (Paolo Fanale) zu einer Wette zu überreden. Es sei nicht allzu schwer, so seine These, ihre beiden Geliebten Fiordiligi (Nicole Car) und Dorabella (Stephanie Lauricella) die Partner vergessen zu lassen, wenn die Militärs in den Krieg ziehen, und die Daheimgebliebenen dann zu verleiten, sich mit neuen, attraktiven Jungmännern zu trösten. Die solchermassen disponierte Falle wird eingerichtet, und die fabelhaft wendige Despina (Alexandra Hutton) geht Don Alfonso dabei zur Hand, der Handlung immer wieder die nötigen Impulse zu geben, damit die Wette im Sinne von Alfonso gewonnen werden kann. Was sie dabei mit verstellter Stimme als Notar leistet, verdient besonderen Applaus. Die beiden Soprane, der von Nicole Car und der Mezzo von Stephanie Lauricella, sind gut ausgewählt und ergänzen einander klangschön in den Duettpassagen, haben aber auch dramatischen Ausdruck in ihren ausführlichen Monologen voller Zweifel und Selbstanklagen. Der Bariton von John Chest und der auch in der Höhe schön aufblühende Tenor von Paolo Fanale kämpfen in ihren verwandelten Rollen als attraktive Fremdlinge wacker gegen den anfänglichen Widerstand der beiden verlassenen Geliebten, bis zuerst Dorabella und dann auch Fiordiligi dem Reiz des Neuen erliegen. Resultat sind zwei Eheverträge, vom Notar Despina präsentiert. Kaum ist die Tinte der Unterschrift getrocknet, verwandeln sich die beiden jungen Herren wieder in die heimkehrenden Kriegshelden, die über die kurzlebigen Treueschwüre ihrer Verlobten redlich empört zu sein vorgeben. Am Ende mündet alles in eine umfassende Geste des Vergebens und Vergessens: die Jugend ist vorüber, jetzt beginnt das Erwachsensein.

Donald Runnicles leitet sein aufmerksames Orchester (schöne und saubere Horneinsätze, samtene Streicher) nach dem etwas wuchtigen Einstieg dann ungewohnt leise und sensibel, obwohl ihm Mozart vermutlich weniger liegt als Wagner oder Richard Strauss. Der Schlussbeifall im übrigens nicht gänzlich ausverkauften Haus tönt etwas matt und verklingt ungewohnt früh, wobei das Regieteam ein paar kaum hörbare Anstands- Buhrufe kassiert. Der stets ersehnte „große Wurf“ war’s nicht, aber eine gefällige Aufführung, solide erarbeitet, die ihren Platz im Repertoire finden wird.

070416
Zauber der Klarinette
Sabine Meyer beim
Choriner Musiksommer 2016

Sie hat ihren ganz besonderen, unverwechselbaren Reiz: die Ruine des Zisterzienserklosters Chorin unweit Eberswalde in Brandenburg aus dem 13. Jahrhundert, in lieblicher Landschaft gelegen und baulich mit Sorgfalt vor dem weiteren Verfall bewahrt. Die hohe Halle des Kirchenschiffs ist alljährlich im Sommer der Veranstaltungsort für eine ganze Reihe beliebter Sommerkonzerte, in denen sich Orchester und Solisten aus Berlin und der umgebenden Region abwechseln. Ein herausragendes Ereignis war diesmal der Auftritt des Orchesters der Komischen Oper Berlin unter der Leitung seines ungarischen Generalmusikdirektors Henrik Nánási mit der Klarinettistin Sabine Meyer als Solistin.

Konzerte in Chorin sind weder von der Atmosphäre noch von der Akustik mit ähnlichen Events in konventionellen Konzertsälen vergleichbar. Die eine Flanke der Konzertkirche ist fensterlos und öffnet sich zu einem grasbewachsenen Innenhof, auf dem sich ein Teil der Konzertbesucher lagert, um den Musikgenuß mit dem Verzehr mitgebrachter Picknickelemente zu verbinden. Die Akustik erreicht nicht das ausgeklügelte Klangbild geschlossener Konzerträume, aber dafür klingen Vogelstimmen von draussen herein, und gelegentlich ist auch einmal ein bellender Hund oder ein Babyruf zu vernehmen - das stört hier niemanden und unterstreicht nur die Besonderheit des Ortes.

An den Anfang seines Programms setzt Nánási Ludwig van Beethovens „Egmont“-Ouvertüre op. 84 aus dem Jahre 1810. Etwas wuchtig-schwergewichtig im Einstieg, dann aber mit farbenreicher Erzählfreude und dramatischer Steigerung, zur Freude des lebhaft applaudierenden Publikums.

Dann folgt der Auftritt einer heiteren, liebenswürdigen Solistin von Weltrang. Sabine Meyer ist seit ihren Anfängen als Orchestermusikerin geradezu zum Inbegriff der Soloklarinettistin   geworden, und das Instrument, auf dem sie spielt, ist wohl jene Bassettklarinette, für die Mozart sein wundervolles Klarinettenkonzert A-Dur KV 622 im Jahr seines Ablebens 1791 komponiert hat. Diese Klarinette ist etwas länger als das gewohnte Orchesterinstrument und hat zusätzliche Klappen, mit denen sich die tiefen Töne im originalen Satz wiedergeben lassen. Was Sabine Meyer nun aus ihrem Part macht, bei dem ihr das Orchester ein zuverlässiger, einfühlsamer Partner ist, das kann man ohne Übertreibung als eine Sternstunde bezeichnen. Dass ihr virtuose Geläufigkeit und rhythmische Pointierung gänzlich mühelos und selbstverständlich zu Gebote stehen, war zu erwarten, aber es fasziniert gleichwohl, dieses souveräne Können hier live zu erleben. Die Krönung ist der mittlere Adagiosatz, seit dem Film „Jenseits von Afrika“ auch denjenigen bekannt, die sonst weniger in der Klassik zu Hause sind. Wie Sabine Meyer hier ihre Klarinette atmen lässt, unglaublich fein differenziert im Ausdruck, überaus bewegend in der Tonsprache, das ist unvergeßlich. Das abschließende Rondo Allegro geht ihr so behende und gleichwohl absolut natürlich über die Lippen, daß man meint, sie habe den Komponisten noch persönlich gekannt. Ausgiebiger Jubel vom zuvor atemlos lauschenden Publikum ist der Lohn für diese denkwürdige Interpretation.

Nach der Pause, die traditionell zum Verzehr mitgebrachter Leckereien genutzt wird, spielt das Orchester der Komischen Oper Beethovens bekannte und sehr geschätzte Sinfonie Nr. 7 A-Dur aus dem Jahre 1812. Dirigent Henrik Nánási gibt klare Zeichen, wählt kraftvolle, zügige Tempi und arbeitet die Feinheiten samt den Steigerungen sorgfältig heraus. Dass die Orchestertutti dank der ortstypischen Akustik etwas verschwimmen, tut dem Hörgenuß keinen Abbruch. Das abschliessende Allegro con brio klingt mitreissend und triumphal bis zum letzten Ton. Erneut lebhafter Applaus aus dem vollbesetzten Auditorium, belohnt mit wiederholten Auftritten des Dirigenten, der seine Musiker mehrfach sich von den Orchesterstühlen erheben lässt. Ein beglückender Nachmittag in diesem Einklang von Musik und Naturkulisse.


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Befreiung aus dem Erotik-Drogenlabor
Mozarts „Entführung aus dem Serail“
in der Deutschen Oper Berlin

Wolfgang Amadeus Mozart komponierte 1782 ein „deutsches Singspiel“, im Umfeld der italienischsprachigen Oper damals eine wegweisende Innovation. Die Handlung kreist um die Themen Liebe und Treue, bekommt nach damaliger Mode neben dem deutschen Text auch als Kontrast stellenweise orientalisches Kolorit und „türkische Musik“, lauter Elemente, die dem Auftragswerk von Kaiser Franz Joseph II.  vom Start weg einen stetigen Bühnenerfolg sicherten.

Nach mehr als 200 Jahren ist die Attraktivität des Opus bis auf Mozarts meisterliche Partitur allerdings verblasst, die Handlung wirkt betulich und kann den an starke Reize gewöhnten Zuschauer unserer Tage in der Regel kaum mehr fesseln. So entschließt sich der kolumbianische Filmregisseur Rodrigo Garcia für seine erste Musiktheater-Inszenierung zu einer Totalresektion und eliminiert als erstes sämtliche deutschsprachigen Dialoge. Aus dem „deutschen Singspiel“ wird auf diese Weise eine Verknüpfung deutschsprachiger Arien mit englischsprachigen Dialogen. Das szenische Geschehen wird kräftig aufgepeppt, vor allem durch einen voluminösen Monstertruck und einen überdimensionalen Stoffballon in Gestalt einer Orange, der die linke Bühnenhälfte füllt und für ausgedehnte Videoprojektionen genutzt wird. Der inneren Logik und Plausibilität der Handlung wird damit kein rechter Dienst erwiesen, aber der Opernbesucher unserer Tage ist es zumindest in Deutschland ja ohnehin gewohnt, überlieferte Werke mit kräftigen Verfremdungseffekten präsentiert zu bekommen.

So werden hier Pedrillo, Blonde und Konstanze während eines Picknicks in ein Raumschiff hinaufgebeamt, das sie im orientalischen Serail des hier weiblichen Bassa Selim (Annabelle Manding) wieder ablädt. An diesem Ort der Begegnung sind Frauen und Männer vor allem mit ausgiebigen Sexspielen beschäftigt, deren Totalität auch durch allerlei labormäßige Apparaturen und flankierende Hilfen in Form  mental wirksamer Drogen unterstrichen wird.  Belmonte (Matthew Newlin) und Pedrillo (James Kryshak) planen und exekutieren die titelgebende Befreiung von Konstanze (Kathryn Lewek) und Blonde (Siobhan Stagg), nicht ohne zuvor ausführlich über Liebe, Treue und Partnerbindung meditiert zu haben. Als Verfechter von Bassa Selims orthodoxer Rechtsposition agiert Osmin (Tobias Kehrer), der die importierten Nicht-Muslime am liebsten auf jede nur denkbare Weise zu meucheln gedenkt. Gleichwohl entscheidet sich die Drogenbaronin Bassa in einer abrupten Kehrtwendung, die Fremdlinge unbehelligt ziehen zu lassen, was ihr von den akklamierenden Untertanen als Zeichen überlegenen Großmuts gutgeschrieben wird. Bassa Selim bekommt Gelegenheit zu einem salvatorischen Schlusswort, demzufolge es sich „nirgendwo so gut leben läßt wie hier“.

Gesungen wird durchgehend untadelig. Allen voran die Konstanze von Kathryn Lewek, die in ihrer Bravourarie „Martern aller Arten“ ein wahres Feuerwerk gesangstechnisch heikler Sopranleistungen in sehr klangschöner Form abbrennt. Tobias Kehrers Osmin kommt  mit der Rolle des buchstabengetreuen Haremswächters überzeugend zurecht, auch wenn die Stimme in der Tiefe gelegentlich etwas die notwendige Kraft vermissen läßt. Der Musikchef des Hauses, Donald Runnicles steuert sein gut disponiertes Orchester solide durch Mozarts kammermusikalischen Satz, wobei man ihn gleichwohl nicht als den geborenen Mozartdirigenten apostrophieren würde.

Die eigentliche Überraschung kommt zum Schluss der Premiere. Nach dreimaliger Wiederholung des üblichen Applausballetts blicken die als Chorus line aufgereihten Mitwirkenden erwartungsvoll in die Gasse, aber der übliche Auftritt des Regieteams entfällt. Stattdessen fällt der Vorhang mit dem Tempo einer Guillotine, und das aufblendende Saallicht signalisiert das Ende der Beifallszeremonie, was vom düpierten Publikum mit lauten „Buh“- und „Pfui“-Rufen quittiert wird. Kein Zweifel: derartige Fluchtreaktionen sollten nicht zur Regel werden, wenn sich das Haus nicht dem Vorwurf einer Missachtung des Publikums aussetzen will.


051616
Viva la famiglia
Puccinis "Gianni Schicci"
aus Los Angeles auf Arte

Ins das Nachtprogramm am Pfingstsonntag setzte der Fernsehsender Arte diesmal zwei musikalische Leckerbissen, deren erster eine besondere Aufmerksamkeit verdiente. Mahlers zweiter Sinfonie, der "Auferstehungssinfonie" in einer Aufzeichnung aus Lille unter der Leitung von Jean-Claude Casadesus, ging die Wiedergabe einer Aufführung vom September 2015 aus dem Opernhaus von Los Angeles voraus, die mit zwei wohlbekannten Namen glänzen konnte: Filmregisseur Woody Allen als Inszenator und Placido Domingo in der Titelrolle.

Was zunächst eher als Kuriosum bemerkenswert schien, erwies sich bei näherem Hinsehen als ein überaus gelungener, mit feinem Gespür gezeichneter Volltreffer, der in mehrfacher Hinsicht Bemerkenswertes enthielt. Wer mit dem Opernhaus des Hollywood-nahen Los Angeles nicht näher vertraut ist, lernt diese Spielstätte wohl erstmalig kennen und nähert sich dem Ereignis ohne besondere Erwartungen.Giacomo Puccinis 1918 in New York uraufgeführter Einakter entrollt die Geschichte einer nicht ganz legalen Testamentskorrektur. Ort der Handlung ist Florenz im Jahre 1299. Eine geldgierige Verwandtschaft ist um das Bett des soeben verstorbenen Buoso Donati versammelt, der allerdings seinen gesamten Besitz einem Kloster vermacht hat. Händeringend suchen alle nach einer Möglichkeit, das gefundene Testament doch noch zu ihren Gunsten zu verändern. Am dringendsten wünschen dies die beiden Verliebten Lauretta und Rinuccio, die ohne entsprechende Mitgift keine Heiratserlaubnis bekommen würden. Laurettas Vater Gianni Schicci kommt ins Haus und präsentiert eine verblüffende Lösung: er will sich anstelle des Verstorbenen ins Totenbett legen und das Testament mit notarieller Unterstützung einfach neu diktieren. Da vom Ableben des reichen Buoso noch nichts öffentlich bekannt ist, funktioniert die Täuschung überraschend gut. Der gerissene Gianni Schicci verteilt in der Neufassung des letzten Willens ein paar Kleinigkeiten an die Verwandtschaft, sichert aber sich selbst das meiste, darunter Buosos Haus, das er nun den jungen Liebenden vererben kann. Die ohnmächtige Wut der erneut geprellten Erbschleicher kulminiert in einem tödlichen Messerstich von Buosos Kusine Zita für den pfiffigen Gianni.

Wie Regisseur Woody Allen nun diesen Plot in Szene setzt, ist ebenso souverän wie amüsant. Er umgibt die zusammengewürfelte Buoso-Verwandtschaft mit einer mafiösen Aura und orientiert sich stilistisch am neorealistischen italienischen Schwarzweiss-Film wie de Sicas "Fahrraddiebe" von 1948. Jede einzelne Figur wird bis ins Detail liebevoll gestaltet und bekommt eine entsprechende Legende auf den Weg. Don Buosos entseelter Körper wird kurzerhand in Bettlerpose vor die Tür gesetzt und empfängt dann noch eine Spende für seine Sammelbüchse von jedem Passanten.

Eine besondere Lust ist die Besetzungsliste, die mit jungen, sehr ausdrucksvollen Stimmen aufwarten kann, die hierzulande kaum einer kennt. Die große Ausnahme ist natürlich Placido Domingo in der Titelrolle des verschlagenen Testamentsreformators, ein Erzkomödiant, bestens bei Stimme und schon mit rauschendem Auftrittsbeifall vom Publikum begrüßt. Aber auch die anderen Protagonisten stehen ihm keineswegs nach. Herausragend vor allem Adriana Chuchman als Lauretta mit ihrem zauberhaft warm getönten Sopran und einem dahinschmelzenden "O mio babbino caro". Ihr zur Seite Arturo Chacón-Cruz, ein hellgetönter, kraftvoller Tenor als Rinuccio. Ausdrucksvoll und von drolliger Spielfreude auch die Nella von Stacey Tappan und die machtvolle Gestalt der Zita von der Altistin Meredith Arwady. Das wendige, akkurat intonierende Orchester unter der Leitung von Grant Gershon gibt der Aufführung den puccini-gerechten Rahmen.

So bleibt der Gesamteindruck einer überaus gelungenen, aus intelligenter Spielfreude geborenen Inszenierung mit trefflich individueller Typisierung jeder einzelnen Rolle.


220416
Die belebende Wirkung von Untermietern
Sternheims "Die Hose"
im Renaissance-Theater Berlin

Im Grunde spielt Carl Sternheims 1911 erschienener Erstling "Die Hose" in einer für uns heute recht weit entfernten Zeit. Zwei Weltkriege sind seither über uns hinweggegangen, die kaiserliche Majestät gibt's nicht mehr, und dass einer Dame inmitten einer jubelnden Menschenmenge vor den Augen des Herrschers ein schlecht befestigtes Unterhöschen herabrutscht, würde heute wohl eher als Petitesse empfunden. Aber die Vorlage hat auch in unseren Tagen durchaus ihren Reiz, und pointierte Attacken auf bürgerliche Doppelmoral haben ja keineswegs alle Aktualität verloren. Wie aber soll man es anfangen, der Bühnenhandlung die notwendige Vitalität einzuhauchen ?

Regisseurin Tina Engel setzt auf die  Wirkung der wundervoll gestelzten, weit ausschwingenden Sprache und läßt im Renaissance-Theater Berlin konsequent Groteske spielen, was den zauberhaften Effekt einer durchgehenden Stilisierung hat. Dieser Aspekt ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert, weil er einerseits den Staub von dem überlieferten Sternheim-Stück fortbläst und andererseits die geschlossene Wirkung dieser Art, Theater zu spielen, vor unseren überraschten Augen und Ohren lebendig werden lässt. Man braucht ein paar Augenblicke, bis man sich in diese kontinuierlich überreizte und übersteigerte Diktion hineingehört hat, aber dann ist die Aufführung das reine Vergnügen. Wortwitz und geschliffene Sprache werden hier in heute nur noch selten zu erlebender Weise in ihre angestammten Bühnenrechte eingesetzt.

Dafür kann die Regisseurin ein fabelhaft ausgewähltes Schauspielerensemble einsetzen. Allen voran der exzellent gezeichnete und gesprochene Theobald Maske von Klaus Christian Schreiber, ein Macho-Ekel aus dem Bilderbuch, der davon lebt, die eigene Person zu überhöhen und seine etwas verschüchterte Frau Luise bei jeder sich bietenden Gelegenheit verbal zu schuriegeln. Für ihn zählt sie lediglich als Wirtschafterin und Köchin, während die Attribute ihrer Weiblichkeit erst dann eine Rolle spielen, wenn ein Missgeschick dem sturen Beamten Ungemach bereitet und ihn um seine Stellung fürchten lässt. In Wahrheit rückt aber diese unscheinbare Luise (Christin Nichols) in den Mittelpunkt der Handlung, als die beiden Untermieter Scarron (Guntbert Warns) und Mandelstam (Boris Aljinović) in der Wohnung der Maskes Logis nehmen. Der eine ein verstiegener Intellektueller, der Nietzsche schätzt und von der Höherentwicklung der Menschheit faselt, und der andere ein kleiner jüdischer Barbier, der ausgerechnet für Wagner schwärmt. In Wahrheit sind sie wohl beide Luises wegen hier eingezogen, vom Klatsch über die Höschen-Affäre angelockt.

Ein spezielles Lob verdient Anika Mauer für ihre kauzig-komödiantisch überdrehte Rolle des Fräulein Gertrud Deuter, die liebeshungrig aus der unschuldigen Luise pikante erotische Details herauszulocken sucht. Ausgerechnet ihr widerfährt das unerwartete Erlebnis, dass Theobald Maske sie in einem unbewachten Moment heftig bedrängt, während seine Frau die Kirche besucht.

Herrlich auch die Szene zu Beginn des zweiten Teils, als die zusammengewürfelte Wohngemeinschaft einträchtig bei Tische sitzt und "Ein Jäger aus Kurpfalz" als Gesangsquartett anstimmt. Am Ende führen die Vorauszahlungen der beiden Untermieter dazu, dass Theobald Maske die wirtschaftliche Basis für gegeben hält, seiner darob sprachlosen Frau ein großes Geheimnis anzuvertrauen, das aber hier nicht gelüftet werden soll.

Viel Applaus für einen Theaterabend, der die Schauspieler ausfüllt und das Publikum glücklich macht.

041516
Stipendiaten als Stars
Kammerkonzert der Hindemith-Gesellschaft
im Joseph-Joachim-Konzertsaal Berlin

Ein intelligent gemixtes Programm konnte die Berliner Paul-Hindemith-Gesellschaft bei ihrem jüngsten Kammerkonzert im Joseph-Joachim-Konzertsaal an der Bundesallee präsentieren, das sie in Kooperation mit der Berliner Universität der Künste veranstaltete. Diese Konzertreihe mit Stipendiaten der Gesellschaft hat das Ziel, Spenden einzuwerben, mit denen hochbegabte Musik- und Schauspielstudenten unterstützt werden können, die auf materielle Hilfe angewiesen sind. Im einleitenden Grußwort dankte der Vorsitzende der Gesellschaft, der Cellist Prof. Wolfgang Boettcher, für den zahlreichen Besuch und die aufgeschlossene Spendenbereitschaft des Publikums.

Den Anfang des Programms übernimmt der 1994 geborene  Pianist Marcel Mok, der bei Prof. Klaus Hellwig studiert und seit 2014 Stipendiat der Hindemith-Gesellschaft ist. Franz Schuberts Impromptu B-Dur op. 142 Nr. 3 aus dem Jahre 1827 bringt ein sorgsam ausformuliertes Thema zu Gehör, dem Variationen folgen. Der junge Solist interpretiert die Komposition prägnant und mit ausgeprägtem Sinn für die tänzerischen Passagen des Stückes. In balladeskem Ton werden reizvolle Veränderungen mit gewandtem, von leichter  Hand mit feinfühligem Anschlag geprägten Läufen vorgestellt, die schließlich zum Eingangsthema zurückführen.

Anschließend widmen sich Yejin Ahn (Violoncello) und Naoko Sonoda (Klavier) der Sonate für Violoncello und Klavier op. 119 in C-Dur aus dem Jahre 1949 von Sergej Prokofiev. Die Cellistin ist jetzt Stipendiatin, die Pianistin war es 2008. Die Satzbezeichnungen lauten Andante grave-Moderato animato, Moderato-Andante dolce und Allegro ma non troppo. Das Cello setzt mit ernstem, sonorem Ton ein, und schon die ersten Takte offenbaren Prokofievs typische Tonsprache. Das "Moderato animato" wird vom sanglichen Cello angeführt, unterfangen vom Klavier. Beide Solisten sind ausdrucksstark, bestens abgestimmt und gut aufeinander eingehend.  Eine raschere Passage, bei der das Cello pizzikato und das Klavier mit rhythmischen Einwürfen agiert, gelingt besonders mitreissend. Ein vom Klavier eingeführtes tänzerisches Thema, leichtfüssig und gut gelaunt,wird vom Cello mit kraftvollem Strich rhythmisch akzentuiert. Ein dritter Satz, flott in der Motorik, bringt wieder markante Klaviereinsätze, die pizzikato vom Cello kommentiert werden. Manches erinnert an Johannes Brahms' Diktion in seinen Cellosonaten.

Auf eine behutsame Überleitung des Klaviers findet das Cello bezaubernde,in weiten Bögen herumgeführte Formulierungen. Breite Klavierakkorde, über denen die Doppeltöne des Cellos schweben. Thriumphaler Schluss. Zur Belohnung gibts ausser dem lebhaften Applaus noch langstielige Freilandrosen aus der Hand von Hindemith-Beirätin Jutta von Haase - eine liebenswürdige Geste, die auch den übrigen Solisten im Laufe des Abends
zuteil wird.

Dann ist die Bühne frei für den ersten Gesangsbeitrag. Die Sopranistin Elene Khonelidze, Stipendiatin seit 2015, trägt mit der Begleitung durch Gast-Pianistin Klara Hornig das Lied "Automne" op. 18 Nr. 3 von Gabriel Fauré vor, das im Jahre 1880 entstanden ist. Ein angenehm warm klingender, ausdrucksvolle Sopran, der die melancholische Herbststimmung des Gedichts von Armand Silvestre überzeugend umsetzt.

Von Wilhelm Hering stammt der Text des anschließend vorgetragenen Duetts "Walpurgisnacht", den Johannes Brahms 1878 in seinen "Balladen und Romanzen für zwei Singstimmen und Klavier  op. 75 Nr.4" vertont hat. Elene Khonelidze und Mengqi Zhang, eine Goergierin und eine Chinesin, beides Sopranstimmen, werden wieder von Klara Hornig begleitet. Dramatische Klaviereinleitung, die dann zu einer wilden Szenerie überleitet. Sie wird im Balladenton geschildert, der ein wenig an Goethes "Erlkönig" erinnert und um den Tanz der Hexen auf dem Blocksberg kreist.

Nach der Pause haben die beiden Sopranistinnen einen zweiten Auftritt. Den beiden Liedern liegt der gleiche Text "Abschied der Vögel" von Josef von Eichendorff zugrunde. Die erste Vertonung aus dem Jahre 1893 stammt von Heinrich von Herzogenberg und ist sein Opus 91, die Nummer 6. Der Komponist war seit 1885 Professor für Komposition an der Berliner Hochschule für Musik gewesen. Mengqi Zhang singt mit der Klavierbegleitung von Klara Hornig schöne, weit ausschwingende Melodiebögen, in denen sich der romantische Text mit einfühlsamer Klavierbegleitung verbindet. Die Hoffnung auf die Wiederkehr des Frühlings wird mit Gefühl ausgedrückt. Dann eine zweite Vertonung des selben Textes von Eugen Hildach aus dem Jahre 1890, "Abschied der Vögel" aus "Drei Duette für zwei Stimmen und Klavier op. 14". Erneut Mengqi Zhang und Elene Khonelidze, beide Hindemith-Stipendiatinnen, begleitet von Klara Hornig. Dem stimmungsvollen Text wird sensibel nachgespürt, die Wirkung des hoffnungsvollen Schlusses wird durch die beiden Stimmen noch verstärkt.

Danach ist noch einmal der Pianist Marcel Mok an der Reihe. Zunächst spielt er zwei Sätze aus "Le Tombeau de Couperin", 1914-1917 komponiert von Maurice Ravel. "Rigaudon" klingt lebendig und farbig, wird rhythmisch wirkungsvoll pointiert. Das folgende "Menuet" ist ein mit ruhiger Anmut dargebotener Schreittanz, stimmungsvoll und mit gutem Empfinden für den schwebend zarten Charakter der Melodie ausgeführt. Frédéric Chopins Scherzo Nr. 3 op.39 in cis-moll aus dem Jahre 1839 schließt sich an. Ein paar große Akkordsprünge führen ins Thema, das mit nachdrücklicher Entschiedenheit vorgestellt wird. Dann folgen Akkordblöcke, von denen Töne staubfein herabrieseln. Wunderbar geläufige pianistische Ausdruckskraft, die Leichtigkeit mit wuchtiger Pracht verbindet. Eine sanfte Abtönung nach Moll, danach ein befreites Aufatmen. Rasantes Tempo bei präzisem Anschlag. Ein mitreissender Vortrag, der begeistert.

Den Abschluss des Abends bildet die Sonate für Flöte und Klavier op. 23 aus dem Jahre 1987 vom amerikanischen Komponisten und Dirigenten Lowell Liebermann, der 1961 geboren wurde.  Fan-Yu Chung (Querflöte), Hindemith-Stipendiatin aus Taipeh, wird begleitet von der Gast-Pianistin Herin Sung. Im Satz "Lento" erklingt schwebender Flötenton über sanft grundierendem Klavierklang. Die Tonsprache ist eher dem Stil französischer Impressionisten verwandt. Die Flöte illustriert reizvoll mit häufigen Halbtonschritten. Dann erhebt sich der Flötenton vogelgleich mit flirrenden Trillern über den Klavierpart, ergeht sich in stimmungsvollen Verzierungen und fliegt mit dem lang ausgehaltenen Schlusston davon. Im folgenden Satz "Presto"liefert das Klavier die unruhige Grundierung mit pointierter Struktur, die Flöte flattert illustrierend auf und ab. Virtuose Intonationstechnik, mitreissender Rhythmus von minutiöser Genauigkeit, beide Solisten agieren feinst abgestimmt.

Ausführlicher, begeisterter Beifall für dieses Kammerkonzert der Sonderklasse.

041416
Ravels "La Valse" mit Schwung und Feuer
Klavierabend Klasse UdK-Prof. Mi-Joo Lee
im Konzertsaal Bundesallee Berlin

Mit vier Studentinnen aus dem asiatischen Raum hat die Klavierklasse von UdK-Prof. Mi-Joo Lee im Joseph-Joachim-Konzertsaal an der Berliner Bundesallee erneut eine kaum glaubliche Versammlung pianistischer Qualität realisiert.

Den Anfang übernimmt JuAe Ha mit drei Präludien und Fugen aus Teil II des "Wohltemperierten Klaviers", 1742 komponiert von Johann Sebastian Bach. Die Version in F-Dur bringt einen leichten, unverkrampften Start in freundlichem Erzählton. Die linke Hand gibt eine These vor, die rechte antwortet. Genau das Richtige, um sich in die Bachsche Gesprächskultur einzuhören. Die Fuge zügig, klar artikuliert und in gewandtem Wechselspiel beider Hände. fis-moll ist bedachtsamer im Mollton, mit feinem Sinn für die figurativen Verzierungen, dabei durchaus spannungsreich gestaltet. Die Fuge setzt mit der linken Hand ein, die Antwort kommt von rechts. Eine fein verzahnte Wegführung in sauber durchgehaltenem Tempo. Das dritte Stück in h-moll ist ein hübsch akzentuierter, mit Verzierungen garnierter Auftritt. Leichtigkeit kombiniert mit kluger Betonung. Die Fuge hat ein klar formuliertes, überschaubares Thema. Der Vortrag zeichnet sich durch gutes Empfinden für die Verschränkung und Gegenläufigkeit der thematischen Verarbeitung aus.

Es folgt von Frédéric Chopin die Etüde cis-moll, die Nummer 4 aus Opus 10, komponiert 1833. Dramatisch vorwärtsdrängende Läufe, blitzend und rauschend, virtuos im Anschlag.

Darauf die Étude tableau D-Dur op. 39, 9 aus dem Jahre 1914 von Sergej Rachmaninoff. Groß gegriffene Akkorde, kraftvoll gezeichnete Farbstrecken. Raffinierte Synkopierungen und tückische Taktverlagerungen , die der melodischen Entwicklung Spannung und Dimension geben.

Sie beendet ihren Part mit "La Campanella", einem Klavierstück von Franz Liszt über ein Thema von Paganini, komponiert 1851. Ein Paradestück einprägsamer, liedhafter Melodik. Die Pianistin setzt die einzelnen Passagen gut gegeneinander ab und gebietet über alle erforderlichen Ausdrucksmittel. Feine, leicht hingezauberte Läufe, mit sicherem Stilempfinden gestaltet.

Als nächste spielt Hyojeong Lim die Fantasiestücke op. 12 aus dem Jahre 1837 von Robert Schumann."Des Abends" klingt schlicht, verhalten, nachdenklich, als ob jemand über einen ruhig verbrachten Tag reflektiert und das Erlebte an sich vorüberziehen lässt. Der Satz "Aufschwung" bringt stürmische Anläufe, gefolgt von kreisenden Figuren. Der federnde Duktus wird gut beherrscht und überzeugend wiedergegeben. Mit dem Titel "Warum ?" ist eine Frage formuliert, die mit weit ausholendem Atem gestellt wird und die sich in mehreren Stufen empor schraubt. Ein nachsinnender Ton klingt auch hier an.

Sprunghaft zucken dann "Grillen" durchs Hirn. Eingangsthese und Kommentar; schöne, gross gegriffene Akkorde. Gute Differenzierung der widerstreitenden Stimmungen. "In der Nacht" herrscht keineswegs Ruhe, sondern der Komponist wird von Traumbildern heimgesucht, die in Wellen gegen ihn anstürmen, sich zwischendurch beruhigen und dann erneut aufleben. Das Bedrängende dieser Visionen wird farbkräftig betont. In der "Fabel" wirds wieder taghell, heiter und springlebendig. Eine gut gegliederte Erzählung, deren Kapitel hübsch gegeneinander abgesetzt werden.

"Traumes Wirren" besteht aus einer quirligen Jagd in brillanter Gestalt. Unterwegs entschlossene Schritte zur Beruhigung, bis die Gischt wieder hochschäumt. Zauberhafter Ausklang. Das "Ende vom Lied" wird mit entschiedenem Ausdruck verkündet, wie eine vorformulierte Erklärung. Ein munteres Zwischenspiel entkrampft das Bekenntnis ein wenig. Akzentuierung und Tempovarianten absolut stimmig, kraftvoll ohne Gewaltanwendung. Der leise Nachklang ist bewegend.

Auch der zweite Teil des Abends nach der Pause wird mit Bach eröffnet. Eunhee Baek spielt seine Französische Suite E-Dur BWV 817 aus dem Jahre 1725. Die "Allemande" ist ein pointiertes, hingetupftes Schrittmuster, dem durch eingebaute Triller noch irisierende Lichter hinzugefügt werden. Die "Courante" lässt an Tempo und gleitender Eleganz keine Wünsche offen. Die "Sarabande" gebietet gemessene Schritte, die nobel und würdig wirken sollen . Ein Ruhepunkt unter den Tanzrhythmen, der zu weit ausgreifenden Figuren und freien Drehungen anleitet. Die "Gavotte" weiss durch Anmut und grazilen Auftritt zu gewinnen. Eine Variation namens "Polonaise" schließt sich an, fein gestaltet und plausibel akzentuiert. Das "Menuet" gefällt durch Leichtigkeit und Anmut. Die "Bourrée" stürmt herein und fordert große pianistische Geläufigkeit, hier ausgezeichnet dargeboten. Schließlich verbindet die "Gigue" noch einmal Prägnanz und leicht fliessende Vortragsweise, die hier besonders durch leichten Anschlag und rhythmische Betonung für sich einnimmt.

Ein harter Kontrast ist danach die Etüde c-moll op. 2,4 aus dem Jahre 1909 von Sergej Prokofieff. Die Pianistin kann zum Abschluß ihres Vortrags Virtuosität und kraftvoll drängende Motorik in der Tonsprache des zwanzigsten Jahrhunderts verknüpfen.

Der letzte Teil des Konzerts gehört der Pianistin Miyeon Lee. Sie spielt eingangs die "Kreisleriana" op. 16 aus dem Jahre 1838 von Robert Schumann. Die einzelnen Sätze haben Vortragsbezeichnungen, die zumeist durch den Zusatz "Sehr" intensiviert sind. Also eine Komposition, die vollen Einsatz erfordert. "Äusserst bewegt" ist gleich der erste Satz: ein wilder Sturm, der gleichwohl nach Transparenz verlangt. Das andere Extrem im zweiten Satz: "Sehr innig und nicht zu rasch" klingt verträumt und wie aus einer anderen Welt. Ein Märchen aus alter Zeit mit allem Charme einer solchen Erzählung, als geschlossenes Stimmungsbild gezeichnet, dazu ein kraftvolles Zwischenspiel mit einem bedächtigen Ausklang. "Sehr lebhaft": Aufbrausende Figuren, die sich aus einem Lauf entwickeln. Erregende Steigerung. "Etwas bewegter": Das innige Thema kehrt wieder wie eine Erinnerung und wird zum Ruhepunkt geführt. "Sehr aufgeregt": Ein sprunghaftes Thema, dessen Rhythmus an trabende Pferde gemahnt. Dazwischen eine nachdenkliche Phase, dann Wiederholung. "Sehr langsam" ist eine verträumte Sequenz, die mit großer Einfühlung gestaltet wird. Der Satz wirkt wie der Ansatz zu immer neuen Erzählungen, die der allmählichen Einführung bedürfen und leider auch bisweilen etwas an Spannung verlieren, bis dann sehr rasch wieder Fahrt aufgenommen wird. Gestaltung und Differenzierung sind jedenfalls hervorragend. Abermals "sehr langsam" mit einem vertieften, lyrisch formulierten Thema, das an die Melodie der "Loreley" erinnert und dann in großen Bögen fortgeführt wird, endend "sehr rasch" in raunendem Ton. Schließlich "Schnell und spielend" : nochmals ein wilder Anlauf zur Schlußformel. Ein forciertes Tempo, das gleichwohl die geforderte Leichtigkeit nicht ausschließt. Ein in ruhigen Schritten ausformulierter Übergang, dann wieder das Thema mit dem trabenden Akzent. Leiser Ausklang.

Zum Abschluß Maurice Ravels "La Valse" von 1920, der seltenere Fall einer Komposition, von der zunächst die Orchesterfassung entstand und erst danach eine Version für zwei Klaviere sowie für Piano solo. Dieses Sinnbild einer Zeitenwende ist zugleich eine grandiose pianistische Herausforderung. Ein Bassgrummeln in der linken Hand eröffnet den Tanz.  Dann nimmt das Walzerthema erste Anläufe. Aus dem wolkigen Mix des Anfangs schwingt es sich auf, von der Pianistin instinktsicher herauspräpariert. Dann absolviert es den Pflichtteil seines Tanzes. Donnernde Akkorde und blendende Glissandi beflügeln es zu ungeahnter Kraftentfaltung. Schließlich, nach einem Zwischenspiel, aus dem thematischen Material heraus die unvergleichliche, rasende Schlußsteigerung, die von der Pianistin mit fulminanter spieltechnischer Perfektion dargeboten wird.

Begeisterter Applaus für diese überzeugende Leistung und einen insgesamt sehr fesselnden Klavierabend.


040916
Mamelis Zauberwald
Ibsens "Gespenster" im
bat-Studiotheater

Wenn das bat-Studiotheater der Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch" ankündigt, Henrik Ibsens 1882 uraufgeführtes Stück "Gespenster, Ein Familiendrama in drei Akten" aufzuführen, darf man natürlich nicht erwarten, ein bürgerliches Trauerspiel traditionsgetreu vom Blatt gespielt zu erleben. Was Regisseur Dennis Metaxas, Regiestudent im 3. Studienjahr, allerdings aus der Vorlage macht, gleicht eher einem Kahlschlag, der vom ursprünglichen Milieu oder den Persönlichkeitsprofilen der handelnden Personen kaum etwas übrig läßt. Statt eines Gartenzimmers auf dem Gut der Familie Alving empfängt den erwartungsvollen Zuschauer eine Bühne mit allerlei skurrilem Kram, der auf dem Trödelmarkt ergattert sein könnte, und eine weibliche Person (Kara Schröder) wäscht sich ausgiebig das Blondhaar, während sie Abendlieder vor sich hin summt. Dann tritt Pastor Manders (Max Martens)herein und erfreut das Publikum mit der hingebungsvollen Rezitation eines Lautgedichts, dessen Nonsens-Text bereits das erste, noch schüchterne Gekicher im Publikum auslöst. Spätestens dann ist klar: eine ernsthafte Darstellung ist hier nicht zu erwarten und auch gar nicht angestrebt. Stattdessen erscheint nun Alving-Sohn Osvald auf der Szene, verkörpert von Christopher Heisler, und beginnt einen ausführlichen Dialog mit der Frau, die inzwischen ihr Haar getrocknet hat und die er mit "Mameli" anredet, woraus man schliessen kann, dass es sich um eine Adaption seiner Mutter, der Witwe Helene Alving, handeln könnte. Heisler spricht überaus geläufig ein drolliges Schwyzerdütsch, das er sich während seines Praktikums am Schauspielhaus Zürich angeeignet haben könnte. Nun werden in aller Kürze zwei weitere Figuren in die Handlung eingeführt, die auf Ibsen zurückgehen: der Tischler Jakob Engstrand und seine Stieftochter Regine, die als Bedienstete im Hause Alving tätig ist. Die entsprechenden Textpassagen zur Skizzierung dieser Personen sind als hilfreiche Zettel deutlich sichtbar an den Baumstämmen befestigt, hinter denen sich die Sprecherin verbirgt. Weitere Konsequenzen oder Verknüpfungen ergeben sich aber aus diesen Kurzporträts nicht.

Die Aufführung, ursprünglich für drei Stunden ohne Pause angekündigt, scheint nach der Premiere etwas schlanker geworden zu sein und bekam die Pause nachgereicht. Nachdem im ersten Teil das "Mameli" noch mit einer nagelneuen Axt einen Kohlkopf zerspalten und vergeblich versucht hat, ihn einem störrischen Spielzeugschaf zu verfüttern, rührt sie eine zerschnittenen Zwiebel zu Tränen, woraufhin sie den kränkelnden Sohn mit einer Pistolensalve fürs erste aus dem Leben befördert.

Teil zwei beginnt mit einer längeren Live-Videoproduktion, die aus einem links auf der Bühne platzierten Zelt auf die Projektionswand im Bühnenhintergrund projiziert wird. Das Schwarzweiss-Fernsehepos enthält längere Mono- und Dialoge, und Pastor Manders darf sich sogar in gereimter Rede ausführlich zu Wort melden. Als die szenische Spannung dann doch allmählich zu erlahmen beginnt. setzt der wiederbelebte Christopher Heisler zu einem schwungvollen Plädoyer an. Zuerst begeistert er sich und das Publikum für "Kunscht", das sind drei imaginäre Gemälde, die er selbst erschaffen hat und die auch seine Mutter "schön" findet. Als kleine Reverenz an Ibsen lesen dann beide noch einen Dialog vom Blatt, der tatsächlich den "Gespenstern" entstammt. Darauf wird der Fortgang noch durch etwas revolutionäre Würze aktualisiert, und aus Büchners Schlachtruf von 1834 wird in der Umkehrung "Krieg den Hütten, Friede den Palästen" - Zeitkritik per Seitenhieb. Mameli gibt ihrem kranken Sohn mit einer zweiten Salve den Gnadenschuss und verkündet das "Ende" der Geschichte. Das etwas ratlose Publikum entschließt sich erst nach einer Denkpause zu achtungsvollem Beifall. Insgesamt ein nicht gerade hochseetüchtiges Schiff ohne großen Tiefgang.

031716
Geheimnisvolle Sammlung
"Entartete Kunst" von Ronald Harwood
im Renaissance-Theater Berlin

Der britische Autor Ronald Harwood, im Jahr nach Hitlers "Machtergreifung" in Kapstadt geboren, hat unter anderem das mit einem Oscar gewürdigte Drehbuch für den Film "Der Pianist" verfasst. Aus seiner Feder stammen aber auch Bühnenstücke, die zumeist "Fälle" behandeln, die sich im Schatten des Dritten Reiches zugetragen haben. Dazu gehört auch seine Version des "Falles Cornelius Gurlitt", jenes freundlichen älteren Herrn aus München, der dort in einer Luxuswohnung lebte und irgendwann vom bayerischen  Zoll ins Auge gefasst wurde, weil er die Grenze mit einer ungewöhnlich großen Bargeldsumme überquert hatte.. Was daraufhin ans Tageslicht kam, war die krimireife Story einer umfangreichen Gemäldesammlung, die der Vater des Grenzgängers ungeachtet seiner jüdischen Herkunft im Auftrag der Nazis zusammengetragen hatte, um beschlagnahmte Werke der "entarteten Kunst" im Ausland zu Geld zu machen.

Ronald Harwood nähert sich dem "Fall Cornelius Gurlitt" behutsam und ohne  vordergründig Partei zu ergreifen. Sein Stück ist weder eine akribische Chronik noch eine Dokumentation. Es ist vielmehr ein Feuilleton über eine Verkettung von Merkwürdigkeiten vor historischem Hintergrund. Damit wird er einer Geschichte gerecht, die bei ihrem Bekanntwerden einen Aufschrei in der Öffentlichkeit auslöste, während heute die Meinung vorherrscht, dass der Justiz und Steuerfahndung dabei auch manche Fehlleistungen unterlaufen sind.

Die Inszenierung von Torsten Fischer mit dem Bühnenbild von Herbert Schäfer und Vasilis Triantafillopoulos  startet mit einem originellen Einfall: Anfangs verdeckt eine riesenhohe, olivfarbene Plane die Szene, so dass nur eine alpine Gebirgslandschaft am Horizont zu erkennen ist. Unter dieser vom Wind bewegten Plane taucht dann der Kopf von Gurlitt alias Udo Samel auf, der sich mit weißer Schminke zum Quasi-Clown maskiert. Wenn die Plane dann in die Höhe gezogen wird, blickt der Zuschauer in einen Wohnraum, der zum großen Teil vom Schienenrund einer Modelleisenbahn ausgefüllt wird, auf dem zwei Züge ihre Kreise ziehen. Damit sind zwei Elemente des Alltags von Gurlitt skizziert, der hier als etwas schrulliger, aber durchaus pfiffiger älterer Herr gezeichnet wird, der am liebsten mit seiner Eisenbahn spielt und gelegentlich mit den zahlreichen am Boden stehenden, zur Wand gedrehten Gemälden redet, die er "seine Familie" nennt.

Der Glücksfall dieses Abends ist ohne jeden Zweifel Udo Samel, der dem inzwischen durchaus etwas schwergewichtigen, in die Jahre gekommenen Gurlitt Gestalt und durchgängige Bühnenpräsenz gibt. Im Gespräch mit dem Augsburger Justizbeamten (Boris Aljinović) und seiner Assistentin Lise Schmidt (Anika Mauer) wird der mißliche Hergang der ganzen Geschichte aufgeblättert - in einem Gespräch, das eigentlich mehr einem Verhör gleicht, gegen das sich der Inquirierte vehement und mit verbalen Ausfällen wehrt. Sein Vater Hildebrandt Gurlitt, ein angesehener Kunsthistoriker und Sammler, hatte ihm bei seinem Tode 1956 eine größere Anzahl von Bildern vermacht, die dem Bereich der im Dritten Reich verfemten "Entarteten Kunst" zuzuordnen sind. Kein Geringerer als Joseph Goebbels hatte den Kunstkenner mit jüdischen Vorfahren seinerzeit beauftragt, diese in Museen konfiszierten Werke für die Nazis zu verkaufen. Was davon übrig geblieben war, gehörte nun dem Gurlitt-Sohn, der seinerseits von Zeit zu Zeit einzelne Exemplare davon veräußerte, um seinen Lebensunterhalt zu finanzieren.

Udo Samel gibt diesem zunächst kaum glaublichen Lebenslauf eine einleuchtende Plausibilität. Jeder Schatten eines Unrechtsbewusstseins fällt von ihm ab, und was übrig bleibt, ist die Rolle eines Mannes, der niemandem ein Leid zugefügt hat und stattdessen nur versucht hat , die ihm zugefallenen Schätze zu hüten und vor dem schließlich doch unvermeidbaren Zugriff der Behörden zu bewahren. Bis zum Ableben Gurlitts im Jahre 2014 dauert der Rechtsstreit um den Großteil der Bilder, die dieser schließlich testamentarisch dem Kunstmuseum in der schweizerischen Hauptstadt Bern übereignet hat.

Naturgemäß sind die Personen um Udo Samel eher Randfiguren, die aber die Rolle von Duellpartnern haben. Boris Aljinović ist ein etwas öliger Stichwortgeber, und Anika Mauer wird im Ton gelegentlich etwas zudringlicher, reizt Gurlitt mit Unterstellungen. Gegen Ende liefert noch der ungarische Kunsthändler Andras Weisz (Ralph Morgenstern) ein paar hübsche Pointen zur Rolle des internationalen Kunsthandels in diesem kauzigen Drama.

Insgesamt ein mit viel Beifall bedachter Theaterabend klassischen Stils mit überzeugenden schauspielerischen Leistungen.

030416
Beziehungs-Dreieck
Domorganist Daniel Beckmann (Mainz)
an der Eule-Orgel der Französischen Friedrichstadtkirche Berlin

Beim traditionellen Orgelkonzert am ersten Donnerstag eines Monats begrüßt Kirchenmusikdirektor Kilian Nauhaus in der Berliner Friedrichstadtkirche am Gendarmenmarkt diesmal den Organisten des Mainzer Doms, Daniel Beckmann. Der 1980 geborene Gast war nach Studien in Detmold und intensiver Praxis als Orchesterleiter und Universitätslehrer in Paderborn 2010 von Karl Kardinal Lehmann auf diesen Posten berufen worden. Seither zeichnet er sich durch eine überaus vielfältige Tätigkeit in der liturgischen und außerkirchlichen Orgelmusik aus. Nauhaus rechnet ihn zu den führenden Orgel-Interpreten seiner Generation.

Eingangs erläutert Konzerthaus-Dramaturg Dr. Dietmar Hiller das Programm des Orgelkonzerts , das drei Komponisten zusammenführt, die gewissermaßen durch ein "gleichschenkliges Beziehungsdreieck" verbunden sind. Sowohl César Franck wie Felix Mendelssohn Bartholdy bezogen sich nachdrücklich auf Johann Sebastian Bach. Von Kontakten zwischen Franck und Mendelssohn-Bartholdy ist allerdings nichts bekannt.

Mit besonderem Geschick löst der Gast aus Mainz die Aufgabe, die erstaunliche Wandlungsfähigkeit der Eule-Orgel einmal mehr unter Beweis zu stellen. César Franck hat seine "Trois Pièces" 1878 zur Einweihung der Cavaillé-Coll-Orgel im Trocadéro-Konzertsaal aus Anlass der Pariser Weltausstellung komponiert, und der Charakter dieser Stücke zielt nicht auf eine liturgische Verwendung, sondern auf den repräsentativen Effekt, den eine große Orgel auch in einer profanen Umgebung erreichen kann. Also verwandelt sich die kompakte Berliner Eule-Orgel nun durch die Kunst der Registrierung in ein großes Instrument nach französischer Tradition, und das Experiment gelingt eindrucksvoll.

Zuerst also "Fantaisie" von César Franck. Ein irgendwie gepresster Ton zum Beginn, kräftige Rufe, gefolgt von lieblicheren Ausdrucksformen. Dennoch bleibt insgesamt die Anmutung des Klanges so, als ob auf einer verhältnismässig kleineren Orgel der Klangauftritt einer sehr viel größeren nachgebildet werden soll. Die melodische Entwicklung folgt Francks typischem Dur-Moll-Changieren, wandert mit wechselnden Registern durch unterschiedliche Farbfelder. Kilian Nauhaus steht neben dem Organisten und hilft beim Registrieren. Große Akkorde blenden kraftvoll auf, werden übereinander geschichtet und kulminieren in einer breiter angelegten Quasi-Choralversion. Dann folgen spielerische Varianten, die etwas unvermittelt enden.

"Cantabile" bringt eine betont sangliche Sequenz mit dem Charakter eines Spaziergangs in gefälliger Landschaft. Das überaus farbenreiche Klangregister-Spektrum dieser Eule-Orgel ist hier gut zu verfolgen. Immer wieder vielseitige Abwandlungen, denen die Fantasie des Hörers gern folgt.

"Pièce héroïque" ist eine der bekannteren Kompositionen von Franck. Der ausgeprägte rhythmische Fond und die unterstützende Bassfärbung liefern den prägenden Klangeindruck. Umfang und Weite der Akkordschritte vergrößern sich. Ein weiter unruhiges Grundmuster liefert die vitale Basis dieser Komposition. Ein Dreischritt-Motiv wird mehr fliessenden, strömenden Passagen gegenübergestellt. Das Klangbild öffnet sich, Fanfaren erklingen, eine dröhnende Basisfigur prägt nun den Auftritt, Pause. Dann großformatige Akkorde mit Glanzeffekt, ein mächtiger Klang, den man diesem kompakten Instrument gar nicht zutrauen würde. Nicht St. Sulpice oder St. Eustache, aber ein verwandter Eindruck. Anerkennender Zwischenbeifall der Zuhörer.

Es folgen Präludium und Fuge a-moll BWV 543 von Johann Sebastian Bach, komponiert zwischen 1708-und 1717 in Weimar. Zunächst leichte Improvisation im Manual über dunklem Basston, dann nach gleichem Bauprinzip eine bewegte Fortführung, recht massiv im Klang. Dann kommt das vergleichsweise federleichte Fugenthema, etwas länger ausformuliert, das danach wunderbar transparent durch die Verschränkungen geführt wird, mit feinem Sinn für das stabil durchzuhaltende Tempo. Die Orgel zeigt hier eine gänzlich andersartige, selbst in den Basspartien leichtgefasste Klanggestalt. Erneut Beifall nach dieser Interpretation. 

Zuletzt die Sonate f-Moll op. 65/1, im Jahre 1831 komponiert von Felix Mendelssohn Bartholdy. "Allegro moderato e serioso" hat einen klangmächtigen, aus großen Akkorden gefügten Einstieg. Ihm folgen intermittierend sanftere Klangfarben, denen dann wieder das Orgelplenum antwortet. Diese Wechselrede setzt sich fort,die Struktur wird dichter und wird durch verschiedene Abschlüsse zum Ende geführt. Im "Adagio" herrscht ein eher sanftmütiger und andächtiger Duktus vor. Artig und bedachtsam gesetzte Akkordfolgen, denen sich die Gedanken ohne Überhitzung anschliessen.

"Andante. Recitativo" und "Allegro assai vivace" lauten die Bezeichnungen der beiden letzten Sätze. Zunächst feine, einstimmige Töne, die vom Orgelplenum beantwortet werden. Das Muster wird in mehrfacher Abfolge wiederholt und erinnert an einen Dialog von Vorsänger und Gemeindechor. Dann setzt in grossen Schritten eine repräsentative Akkordfolge ein, ein Brodeln unter dunkler Oberfläche. Das Leuchten wird stärker bei ansteigender Tonhöhe, und dann ergibt sich ein geschlossener Zug in Richtung der abschliessenden Akkordfolgen.

Viel Applaus für einen sehr kontrastreichen, virtuos vorgetragenen Orgelabend.

030116
Belcanto in Reinkultur
"I Capuleti e i Montecchi" konzertant
in der Deutschen Oper Berlin

Vincenzo Bellinis Opera seria liegt der selbe Stoff zugrunde, den auch William Shakespeare für seine 1597 erschienene, heute ungleich berühmtere Version der Liebestragödie um Romeo und Julia nutzte, die Geschichte von den beiden Liebenden aus verfeindeten Lagern. Felice Romani verarbeitete verschiedene italienische Quellen zu einem Libretto, das Bellini vertonte, wobei er musikalische Motive aus früheren eigenen Werken verwendete. Uraufführung war 1830 im Teatro La Fenice in Venedig.

Die Handlung des Zweiakters spielt im Verona des 13. Jahrhunderts. Auf der Bühne der konzertanten Aufführung in der Deutschen Oper Berlin ist das Orchester platziert, dahinter der Chor, diesmal als reiner Männerchor, der abwechselnd die Position der widerstreitenden Parteien, der Capuleti und der Montecchi, einnimmt. Einen Frauenchor hört man lediglich aus dem Off, wenn  die Grablegung der vermeintlich verstorbenen Giulietta zu schildern ist.

Die beiden zu Todfeinden gewordenen Familien Capuleti und Montecchi trennt ein tiefer Graben. Eine Versöhnung scheint ausgeschlossen. Schon wenn  sie einander ansichtig werden, beginnen die Drohungen und Beschimpfungen. Giulietta, die Tochter des Capulet-Fürsten Capellio, soll den Capulet-Parteigänger Tebaldo heiraten. Ihr Herz gehört aber fatalerweise Romeo, dem Anführer der Montecchi, der zuvor ihren Bruder im Kampf getötet hatte. Pater Lorenz  fädelt im Anschluss an die jüngste Auseinandersetzung der beiden Familien-Heere einen Deal ein, in dessen Verlauf Giulietta einen starken Schlaftrunk einnimmt, der sie wie tot ins Grab sinken lässt. Romeo findet die vermeintlich Entschlafene und nimmt aus Verzweiflung selber Gift. Giulietta erwacht, findet den tödlich vergifteten Romeo und stirbt an seiner Seite.

Einer der musikalischen "Gags" von Bellinis Partitur besteht darin, ausgerechnet die Rolle des kämpferischen Kriegshelden Romeo mit einem Mezzosopran zu besetzen. Damit diese Rechnung aufgeht, bedarf es einer ausdrucksstarken Sängerin, die aus dieser Hosenrolle wirklich ein glaubwürdiges Rollenbild zu gestalten vermag. Diese knifflige Aufgabe übernimmt in Berlin die weltweit derzeit wohl bekannteste Mezzo-Sängerin Joyce DiDonato, und sie beherrscht schon mit ihrem ersten Auftritt die Szene. Ihre Stimme ist ungewöhnlich wandlungsfähig, kann mit einer schön timbrierten Höhe in die Sopranlage reichen und andererseits tiefe, männliche Töne artikulieren, die der Romeo-Rolle den markigen Nachdruck verleihen. Der Ausdruck von Schmerz und tiefer Verletzung steht ihr ebenso zu Gebote wie der Ausdruck kämpferischer Entschlossenheit. Ihr Counterpart Gulietta (Venera Gimadieva) bleibt im mimischen und gestischen Ausdruck eher etwas starr, kann aber mit einem sicher geführten, auch in der Höhe überzeugend präsenten und warm klingenden Sopran aufwarten. Celso Albelo gibt dem vergeblich hoffenden Romeo-Rivalen Tebaldo mit hellem, angenehm timbriertem Tenor die nötige Kontur. Pater Lorenzo ist mit kraftvollem Baßbariton Marko Mimica, und Alexei Botnarciuc singt die Partie des unversöhnlichen Capellio.

Paolo Arrivabeni leitet das Orchester mit suggestiver Gestik, die es auch erlaubt, die zahlreichen kontrastreichen Aufschwünge der Bellini-Partitur hellwach und fein differenziert wiederzugeben. Anspruchsvolle solistische Aufgaben sind dem Hornisten, der Harfenistin und dem Klarinettisten übertragen. Die Publikumsreaktion ist dem musikalischen Ereignis angemessen: überschwänglicher Applaus und zahlreiche Bravorufe.

022616
Jubiläum mit Forelle
Hindemith-Gesellschaft Berlin
besteht 50 Jahre


Ihr 50jähriges Bestehen feierte jetzt die Berliner Paul-Hindemith-Gesellschaft mit einem Festkonzert, das der Präsident der Berliner Universität der Künste, Prof. Martin Rennert, mit einer Ansprache eröffnete. Dabei erinnerte er an die verdienstvolle Leistung dieser Stipendiengesellschaft, die ihre Tätigkeit im Februar 1966 als "Gesellschaft der Freunde der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Berlin" begonnen hatte. Im Kreis der Gründer finden sich illustre Namen wie Maria Ivogün, Frida Leider, Boris Blacher, Hans Scharoun und Herbert von Karajan. Vorsitzende des Vereins waren im Lauf der Jahre unter anderem Elisabeth Grümmer, Dr. Joachim Tiburtius und Eberhard Finke. Derzeit steht der als Cellist wie als Universitätslehrer gleichermaßen bekannte Wolfgang Boettcher an der Spitze der Gesellschaft, die seit dem  Jahre 2000 zu Ehren des Komponisten und Professors Paul Hindemith dessen  Namen trägt. Aus Mitgliedsbeiträgen und Spenden stammen die Mittel, mit denen die Gesellschaft Musikstudenten fördert, die durch überragendes Talent auffallen, aber wirtschaftlich schlecht gestellt sind. "Die Förderung der Künste ist eine erfreuliche Konstante in schwieriger Zeit", rühmte der Universitätspräsident die Tätigkeit der Paul-Hindemith-Gesellschaft.

Das Konzert beginnt mit Ludwig van Beethovens Trio op. 11, Nr. 4 aus dem Jahre 1798, bekannt als "Gassenhauer-Trio". Nadezda Filippova am Flügel, Tibor Reman spielt Klarinette und Wolfgang Boettcher übernimmt den Cellopart. "Allegro con brio" ist ein heiteres Terzett, in dem die sensibel geführte Klarinette und das farbenreich intonierende Cello mit dem markant artikulierenden Klavier sich in bester Spiellaune aufeinander einschwingen. Die melodische Leitlinie wird von Klarinette und Cello schön ausformuliert und vom Klavier mit Feingefühl umspielt. Der weit ausschwingende Celloklang ist ebenso zu bewundern wie die kultivierte Klangschönheit der Klarinette und die Prägnanz des Klavierparts.

Im "Adagio" trägt das Cello zunächst das Thema vor, dem sich die Klarinette behutsam anschließt. Die weitere Fortsetzung wird von fein ausgearbeiteter Auswertung des Themas geprägt. Das folgende "Allegretto" bringt dann den im Beinamen angesprochenen "Gassenhauer", ein Motiv aus der komischen Oper "L'amor marinaro" von Joseph Weigl, das auch von anderen Komponisten für Variationen verwendet wurde. Das Thema wird einfallsreich und virtuos variiert, erst vom Klavier, dann folgen Cello und Klarinette. Darauf setzt die Klarinette zu einer weiteren Variante ein, bevor das Klavier eine Mollversion davon darbietet. Anschliessend setzt sich wieder das Klavier an die Spitze, die beiden anderen Instrumente folgen bald heiter verspielt, bald mit entschiedenem Auftreten. Die sangliche Stimme des Cellos führt das Trio weiter. Dann eröffnet ein Lauf des Klaviers eine neue, rhythmisch versetzte Passage, die zum Schluss führt. Zum Dank gibt's für die Ausführenden außer lebhaftem Applaus auch langstielige Rosen aus der Hand von Hindemith-Beirätin Jutta von Haase, die sich seit vielen Jahren mit Hingabe um die Konzertveranstaltungen der Gesellschaft kümmert.

Aus dem Jahre 1971 stammt die Sonate für zwei Violoncelli von Boris Blacher, der diese Komposition Eberhard Finke und eben jenem Wolfgang Boettcher widmete, der sie heute zusammen mit dem jungen Tomáš Jamník spielt. "Allegro" ist der erste Satz benannt, Bogenstrich und Pizzikato im Wechsel. Beide Cellisten fallen sich alternierend ins Wort oder verbünden sich zu energischer, voranstürmender Aktion. Überaus engagiertes, klangschönes Zusammenspiel, von "kraftvoll" bis "äußerst behutsam". Zum folgenden "Presto" legen beide den Bogen zur Seite und inszenieren ein Pizzikato-Duett von jazziger Pointierung. Rhythmisch äußerst herausfordernd und stilistisch glänzend vorgetragen. Der letzte Satz " Andante" wird mit leisem Anschleichen eingeleitet, fast dem Violinenklang verwandt. Verträumte, langgezogene Laute mit Pizzikato über breit angelegtem Bogenstrich.

Dann wird der Namensgeber der Gesellschaft, Paul Hindemith, mit einem seiner Werke geehrt. Karolina Errera spielt die "Sonate für Bratsche allein " op. 25 Nr. 1 aus dem Jahre 1922. "Breit, dann sehr frisch und straff" ist der erste Satz zu spielen. Die Viola erweist sich auch solo als durchaus klangintensives Instrument, das hier eingangs mit sehr farbigen Doppeltönen aufwartet, virtuos gestaltet in einem Dialog mit sich selbst. Die Solistin verfügt gleichermaßen über Kraft und Feingefühl, um die thematische Motivgestaltung als eine Folge von abwechslungsreichen Klangereignissen darzustellen. "Sehr langsam" ist der nächste Satz bezeichnet, eine überaus klangschöne, meditative Sequenz einprägsamer Überlegungen , streckenweise liedhaft und mit intensiver Empfindung vorgetragen, bedachtsam verklingend. "Rasendes Zeitmaß. Wild. Tonschönheit ist Nebensache " lautet die Spielanweisung für den folgenden Satz. Vibrierender Ton, der sich unter dem Bogen zwischen den Saiten hervorzudrängen scheint. Gleichwohl ein wohlstrukturierter, vorwärtsdrängender Abschnitt. Im abschließenden Satz "Langsam, mit viel Ausdruck" ist wieder Gelegenheit zum Nachsinnen, für auf- und abschwellende Klangphänomene, die sich durch Doppeltöne verstärken und große Klarheit im Ausdruck gewinnen. Der eigentlich dunkle Bratschenton reicht dabei bis in die Violinlage hinauf. Von großem Ernst geprägt, reich an Schattierungen und sinnlich im Stil ist dieser beeindruckende Vortrag.

Nach der Pause erneut so etwas wie ein renommierter "Gassenhauer", Franz Schuberts Quintett D 667 A-Dur aus dem Jahre 1819, besser bekannt als sein "Forellenquintett". Am Flügel Prof. Sorin Enachescu, Julia Suslov spielt Violine, Sander Stuart die Viola, abermals Prof. Wolfgang Boettcher das Cello und Joan Cantallops den Kontrabass. Ins "Allegro vivace" führt ein vitaler, sensibel vom Klavier angeführter Einstieg, dem die Streicher mit zunehmendem Einklang folgen. Auch die Violine findet sich gut in ihre klangliche Führungsrolle hinein und gewinnt an Farbe und Leichtigkeit. Die dynamische Inszenierung fasziniert zunehmend. Der Klavierpart setzt die entscheidenden Strukturmarkierungen rhythmisch und klanglich gleichermaßen präzise.

Im folgenden "Andante" bestimmt erneut das Klavier Tempo und Ausdruck, bevor dann die Streicher das Thema aufnehmen und umspielen. Die anschließende Umsetzung ist klar und ausgewogen, mit feiner rhythmischer Abstimmung . Die Viola klingt gut hervor. Der Ausklang des Satzes ist geschlossen und synchron.

Darauf "Scherzo" und "Presto": jetzt führen einmal die Streicher die melodische Entwicklung an, das Klavier ergänzt in glänzender Laune. Im Mittelteil gehen wieder die Streicher voraus , das Klavier folgt mit großen Akkorden. Darauf zurück zum Eingangsthema. Dann taucht sie auf, die namensgebende Forelle im Satz "Andantino(Thema mit Variationen)" . Zuerst wird sie in den Streichern gesichtet, ehe das Klavier dann blitzende Wassertropfen beisteuert, denen die Violine noch Sonnenreflexe hinzufügt. Dann die blendend vom Klavier exekutierte Tempo-Variation. Nun tauchen die Solisten allesamt in den quirlenden Klangfluss ein. Es folgt der Auftritt des Cellos, vom Klavier flankiert, bis das Thema zur Ausgangslage zurückfindet, mit wellenförmigen Einwürfen der Streicher.

"Allegro giusto": mit kurzen, flotten Schritten geht's ins Finale, der herrlich fließenden melodischen Entwicklung folgen alle mit Hingabe. Der Beinahe-Schluß mit anschließender Reprise rauscht vorbei, ohne verfrühten Beifall auszulösen, der aber dann desto lauter nach dem endgültigen Schlußton losbricht.

Ein würdiger Konzertabend zum Jubiläum eines halben Jahrhunderts für die verdienstvolle Paul-Hindemith-Gesellschaft.



022116
Facetten der Liebe
"Ein Gespräch im Hause Stein
über den abwesenden Herrn von Goethe"
im Renaissance-Theater Berlin

Das vielleicht berühmteste Stück von Peter Hacks, inszeniert von Brecht-Enkelin Johanna Schall, gespielt von einer Schauspielerin, die Absolventin der "Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch" ist, und das alles nicht etwa im "Deutschen Theater" oder im "Berliner Ensemble", sondern im Herzen des alten West-Berlin, nämlich im "Renaissance-Theater" ?  So ganz nebenbei ist hieran auch abzulesen, was sich seit 1989 alles verändert hat.

Dabei ist diese intelligente Fiktion aus dem Jahre 1976 alles andere als ein Spiegel gesellschaftspolitischer Auseinandersetzungen. Sie bildet vielmehr in einer Momentaufnahme die Empfindungen und Überlegungen einer berühmten Hofdame aus dem Herzogtum Weimar ab, jener Charlotte von Stein, die als Geliebte des Dichterfürsten Johann Wolfgang von Goethe in die deutsche Literaturgeschichte eingegangen ist. Was der Autor Peter Hacks hier als exzellente literarische Fingerübung vorlegte, hat seither seinen Weg über die Bühnen der Welt gemacht und ist an 200 deutschen Theatern und in 21 Ländern der Erde aufgeführt worden. Und das alles, obwohl das Stück des DDR-Autors  keinerlei radikale Tendenzen erkennen und  jedes revolutionäre Pathos vermissen läßt. Oder vielleicht gerade deshalb ?

Anika Mauer ist Charlotte von Stein, die in der stillen Häuslichkeit ihres Weimarer Heims in der vermuteten Gegenwart ihres Gatten Freiherr Gottlob Ernst Josias Friedrich von Stein, herzoglicher Stallmeister von Sachsen -Weimar-Eisenach eine Art Herzensbeichte ablegt. Anknüpfungspunkt ist die Romreise ihres Geliebten, des Ministers Johann Wolfgang von Goethe, die dieser im Jahre 1786 ohne Abschied oder Erlaubnis quasi über Nacht angetreten hatte und von der er erst zwei Jahre später zurückkehrte. Die enttäuschte, jählings verlassene Charlotte von Stein macht reinen Tisch mit ihrem Monolog, der an Goethe kein gutes Haar lässt und dennoch die sehnsüchtige Erwartung seiner Rückkehr überall durchklingen lässt.

Alles, was ihr bleibt, sind Erinnerungen und Goethes Briefe, die sie in einer voluminösen Schublade aufbewahrt. Dabei verschlingt sie diese Briefe keineswegs, sondern hat sie manches Mal erkennbar ungelesen liegen lassen, um den lobeshungrigen Goethe quasi ein wenig zappeln zu lassen. Die monologisierende Charlotte erinnert sich ausgiebig, wie sie den Ihr ans Herz gelegten Dichter, streckenweise ein ungehobelter Flegel und überdies ein konsequent selbstbezogener Hypochonder, Schritt für Schritt zu einem umgänglichen Menschen mit sogar ein paar liebenswerten Eigenschaften umerzogen hat.

Anika Mauer schafft es in bewunderungswürdiger Form, diesem Monolog der Herzensergießungen eine Struktur und eine spannende Dramaturgie mitzugeben. Sie spricht mit volltönender Stimme, die sich bis zum geflüsterten Hinweis "Pause" dämpfen läßt. Sie wahrt stets die Contenance einer gebildeten Dame, kann sich aber auch herrlich versprechen, wenn ihr ein Unwort nicht über die Lippen will. Sie läßt ein Porzellantäßchen zu Boden fallen und sammelt die Bruchstücke dann wieder in einen Blecheimer ein. Johanna Schall inszeniert den ganzen Ablauf aus einer ironischen Distanz, die der szenischen Lebendigkeit gut bekommt. Charlotte von Stein setzt sich ans Cembalo, spielt einige Takte und lässt dann das Instrument wie selbstverständlich die Melodie allein  fortführen. Ja, und dann kommt endlich die mehrfach apostrophierte Post und bringt ein Paket vom abwesenden Herrn von Goethe, "aus Rom", wie Charlotte mit Bewunderung festhält. Es enthält wieder einen der Briefe für die Schublade und eine Herakles-Statue, die zunächst auf einem Beistelltischchen Platz findet, bevor Charlotte sie wieder in distanzierender Geste zu Boden gleiten läßt.

Das Publikum dankt mit anhaltendem Applaus für einen Abend intelligenter Unterhaltung und eine bewundernswerte schauspielerische Leistung.

022016
Ade Unsterblichkeit
"Die Sache Makropulos"
in der Deutschen Oper Berlin

Es ist eine eigenartige Sache mit der "Sache Makropulos". Ursprünglich war die Vorlage eine Komödie des tschechischen Schriftstellers Karel Čapek, die sich der Komponist Leoš Janáček zum Opernstoff wählte. Er schrieb selbst den Text und formte die Handlung zum Krimi um. Die Uraufführung fand 1926 im Brünner Nationaltheater statt. Den Handlungstypus könnte man nach heutiger Terminologie als Fantasy-Opernkrimi bezeichnen. Das Werk ist eine selten gespielte Kostbarkeit mit herrlicher Musik in Janáčeks unverwechselbarer Handschrift - wenn, ja wenn das richtige Realisierungsteam diese "Sache" in die Hand nimmt.

Die Handlung hat eine Vorgeschichte, die bereits einige Anforderungen an die Phantasie stellt, sich darauf einzulassen. Kaiser Rudolf II., der von 1552 bis 1612 lebte, läßt von seinem Leibarzt, dem Griechen Hieronymos Makropulos, ein Elixier mixen, dessen Einnahme das Leben des Kaisers um runde 300 Jahre verlängern soll. Der mißtrauische Monarch  verlangt aber von seinem Arzt, das Gebräu zunächst an dessen Tochter Elina auszuprobieren. Die fällt darauf hin ins Koma, erholt sich aber und lebt fortan ohne älter zu werden unter wechselnden Namen, die aber alle mit den Initialen E.M. beginnen.

Der erste Akt spielt in der Anwaltskanzlei des Doktor Kolenatý (Seth Carico).Der seit fast hundert Jahren unentschiedene Erbschaftsstreit zwischen den beiden Familien Prus und Gregor wird erneut vor Gericht verhandelt. Albert Gregor (Ladislav Elgr) fragt in der Kanzlei nach dem Stand der Dinge. Der Anwalt kommt in Begleitung der schönen Opernsängerin Emilia Marty(Evelyn Herlitzius) herein, die merkwürdigerweise großes Interesse an dem schwelenden Prozeß zeigt und Details zum Testament des verstorbenen Barons Prus und dessen Lebensgefährtin Ellian MacGregor kennt, die bislang unbekannt waren. Im zweiten Akt steht die junge Sängerin Krista (Jana Kurucová) vor der Wahl zwischen einer Bühnenkarriere und der Verbindung mit dem Prus-Sohn Janek (Gideon Poppe).Ein alter Narr namens Hauk-Šendorf (Robert Gambill) meint in Emilia Marty die Sängerin Eugenia Montez wiederzuerkennen, mit der er vor fünfzig Jahren liiert war. Emilia Marty bietet dem Baron Jaroslav Prus (Derek Welton) eine gemeinsame Nacht an, um an die gesuchten Dokumente zu kommen, die ihr Prus am nächsten Morgen übergibt.

Im dritten Akt stellt sich heraus, dass Emilia Marty deshalb der Handschrift nachjagt, weil sie tatsächlich Elina Makropulos ist, die bislang ihr Leben um weitere 300 Jahre verlängern wollte. Als das geheimnisvolle Rezept nun in Reichweite ist, vollzieht sich ein Sinneswandel in der alterslosen Sängerin: sie legt keinen Wert mehr auf die Verlängerung ihrer Unsterblichkeit und will nun ihr Leben zu Ende leben wie alle anderen auch.

Diese ebenso fantasievolle wie streckenweise etwas verwirrende Handlung wird in der Inszenierung von David Hermann und in dem adäquaten, einfallsreichen  Bühnenbild von Christof  Hetzer so plausibel wie möglich vorgeführt, wobei auch für das Romantische und Märchenhafte stets genügend Raum bleibt. Die verschiedenen Ebenen der Realität kommen dank intelligenter Farb- und Lichtgestaltung auf fesselnde Weise zum Ausdruck. Ein besonders sympathischer Einfall war es, die sechs Inkarnationen von E.M. in Kostümen verschiedener Zeitalter auftreten zu lassen.

1929 war das Werk erstmals in Deutschland zu sehen, und erst 1966 erfolgte die erste Aufführung in den USA, bezeichnenderweise in der San Francisco Opera, in der auch Donald Runnicles, der Dirigent der jetzigen Berliner Premiere, von 1992 bis 2008 musikalischer Leiter war. Die ungemein lebhafte, bisweilen flammend irisierende Musik Janáčeks war bei ihm und seinem aufmerksamen, voll konzentrierten Orchester in besten Händen. Evelyn Herlitzius verkörperte die Rolle der ewig jungen Opernsängerin mit dem Hauch des Geheimnisvollen in geradezu idealer Weise, und das bestätigte ihr wie auch dem Ensemble und Donald Runnicles der brausende Jubel aus dem merkwürdigerweise nicht restlos ausverkauften Haus. Ein seltenes Erlebnis: Auch das schwarzgekleidete Regieteam wurde mit begeistertem Applaus überschüttet und durfte sogar zweimal an die Rampe treten. Ein glücklicher Premierenabend ohne Mißfallenskundgebungen.

021916
Psychogramm einer Terrorgruppe
"Die Gerechten/Das fahle Pferd"
im bat-Studiotheater Berlin

Was sich bei flüchtigem Hinsehen wie ein Abend mit zwei Theaterstücken ausnimmt, ist in Wahrheit die raffinierte Nutzung eines Tagebuchromans vom russischen Schriftsteller Boris Sawinkow für ein Drama des Franzosen Albert Camus, das sich in visionären Bildern und poetischer Sprache mit einem Phänomen beschäftigt, das in unserer Zeit mit veränderten Vorzeichen gräßlicher Alltag geworden ist: dem Psychogramm einer Terrorgruppe, deren Gedanken darum kreisen, im Jahre 1905 den russischen Großfürsten Sergej, den Onkel des Zaren, durch ein Bombenattentat aus dem Wege zu räumen. Albert Camus schrieb 1949 sein Drama, das 1959 bei Rowohlt erschien.

Das bat-Studiotheater der Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch" hat während des Umbaus seiner Spielstätte im Berliner Stadtbezirk Prenzlauer Berg in einer Theaterbaracke in Berlin-Weissensee Asyl gefunden, die mit Geschick und einfachsten Mitteln zu einem Studiotheater auf Zeit umgebaut wurde. In diesen denkbar schmucklosen Rahmen fügt sich die Neuinszenierung von Marcel Kohler gut ein, die von Studierenden des 3. Studienjahres im Studiengang Schauspiel gestaltet wird.

Die Bühne ist ein kahles Geviert, das von einer Stuhlreihe mit Zuschauerplätzen eingerahmt wird. Auf einer der vier Seiten sieht man die ansteigenden Reihen eines Auditoriums, das diesmal aber ungenutzt bleibt. In der Mitte der Bühne ragt lediglich eine mit weißem Tuch umwickelte Stange empor, die sich später als weit ausladende Fahne erweist. Drei Instrumente warten auf Spieler, die nach und nach hinzukommen. Eine Klarinette, eine Gitarre und eine Ukulele sind die Vorboten einer auch musikalisch sehr sorgfältig von Alexander Wanat, einem der Schauspieler, einstudierten Aufführung.

Was dann schrittweise ausgebreitet wird, ist die psychologische Situationsanalyse einer Gruppe junger Sozialrevolutionäre, die ein Bombenattentat auf den Vertreter einer verhaßten, privilegierten Führungskaste planen. Ihr Leben empfinden die jungen Rebellen als schal und unerfüllt. Zunächst kreist ihr Denken um Einzelheiten der Vorbereitung und des Ablaufs für das geplante Attentat. Sehr bald rücken aber auch die Rechtfertigungsgründe für das Töten in den Mittelpunkt, die in dem utopischen Satz "Russland wird schön sein" kulminieren. Ein abgrundtiefer Hass auf das bestehende Gesellschaftssystem und seine führenden Vertreter liefert die Basis ihrer Gemeinsamkeit. Die Bombe wird geworfen, der Großfürst ist tot.

Dann fällt Schnee vom Himmel, bestehend aus weißen Plastikflocken, die sich auf den Bühnenboden ergießen und auch die Zuschauerreihen einbeziehen. In der Euphorie nach dem gelungenen Attentat sind die Akteure wie Kinder im Schnee: sie toben herum, wälzen sich prustend in den weißen Flocken und stopfen sich damit den Mund voll bis zum Erbrechen.

Dann schwebt wieder das Fahnentuch über ihnen, die am Boden liegen und "Jesu meine Freude" a capella singen, in bewunderungswürdigem Einklang, aber eben in hartem Kontrast zur Realität. Der Bombenwerfer kommt in Haft. Skuratow, der Polizeivorsteher, führt das Verhör. "Ich bin Kriegsgefangener, kein Mörder" ist die These des Verhafteten. Andere Häftlinge fragen ihn nach den Beweggründen für seine Tat, was als geschicktes Satyrspiel zwischen ihm und der Gruppe inszeniert ist. Die Großfürstin, die der Bombenwerfer verschont hat, sucht ihn auf und will um Gnade bitten, was er aber ablehnt. Schliesslich wird er in tiefschwarzer Nacht dem Henker überliefert.

Als grelles Intermezzo wird die Seeschlacht von Tsushima 1905 mit ihren tausenden  "sinnlosen" Todesopfern der ethisch fundierten Einzeltat des Bombenwerfers gegenübergestellt. Auch die religiös-metaphysische Dimension wird mit der Leidensgeschichte Jesu einbezogen. Eine Lösung der Divergenz in der Sinnfrage wird aber nicht angeboten. Jede Haltsuche bleibt "Trug und ein Haschen nach Wind ".

Was Luise Pöls und ihre fünf Kommilitonen Joshua Jaco Seelenbinder, Samuel Simon, Alexander Wanat, Lukas Gabriel und Roman Schomburg auf die Szene bringen, summiert auf eindrucksvolle, streckenweise sehr poetische Weise alle Dimensionen eines Attentats aus vorgeblich sozialrevolutionärer Motivation. Ausgiebiger Applaus belohnt die beachtliche und sehenswerte szenische Ensembleleistung.

021316
Der Zauber Erster Sätze
Zweiter Klassenabend  Artemis Quartett
im Joseph-Joachim-Konzertsaal Berlin

Mit einem ebenso originellen wie leistungsstarken Programm konnte die UdK-Klasse Artemis-Quartett beim zweiten Klassenabend des Wintersemesters 2015/2016 im gut besuchten Joseph-Joachim-Konzertsaal an der Berliner Bundesallee aufwarten. Zwar waren die Programmzettel nicht rechtzeitig fertig geworden, aber Artemis-Cellist Eckart Runge konnte diese Scharte auswetzen, indem er die einzelnen Werke und die Namen der Ausführenden mündlich ankündigte. Ein Reiz der Programmfolge bestand darin, dass im ersten Teil des Abends lauter erste Sätze berühmter Streichquartette ausgewählt worden waren, was einerseits zur Straffung des Programms beitrug, durch die künstlerische Qualität aber andererseits eine anregende Vorschau auf den Rest der jeweiligen Komposition vermittelte.

Als Auftakt gleich ein Highlight der Streichquartett-Literatur: der erste Satz aus Franz Schuberts berühmtem Streichquartett Nr. 14 d-Moll "Der Tod und das Mädchen" D 810 , komponiert 1829 und uraufgeführt im März 1833. Das "Allegro" spielen Mayu Tomotaki und Yuri Katsumata (Violinen), Johann-Vincent Slawinski (Viola) und Wolf Hassinger (Violoncello). Es erklingt ein sehr lebendiger, kraftvoller und dank Bratsche und Cello markant konturierter, von den hell klingenden Violinen überflogener Satz, in der Dynamik fein ausdifferenziert. Große Spannweite von leidenschaftlichem Bogenstrich bis zu den ganz leise und behutsam angesetzten Tönen der beiden Violinen.

Darauf der erste Satz "Allegro vivo apassionato" aus Bedřich Smetanas Streichquartett e-moll "Aus meinem Leben", komponiert 1876. Aron Cavassi und Miyuko Wahr spielen die Violinen, Akiko Hirataka die Viola und Lukas Wittrock das Violoncello. Sehr ausdrucksvolle 1. Violine, ausgezeichnetes Zusammenspiel. Eine Ouvertüre, deren Fortsetzung bei anderer Gelegenheit man mit Spannung erwarten darf.

Als nächstes der 1. Satz aus Edvard Griegs revolutionärem Streichquartett op. 27 g-moll aus dem Jahre 1877/78.  Es spielen Romane Queyras und Nicolas Sublet, Violine, Ulla Knuuttila, Viola und Cristoph Heesch, Violoncello. Unisono-Auftakt, dann eine unterschwellig vor Leidenschaft brodelnde melodische Gestaltung, mitreissend und in besonders intensiver Abstimmung untereinander. Eine sehr engagierte und überaus sauber intonierende 1. Violine; das Zusammenwirken mit dem Cello ist besonders ausgeprägt und bringt noch eine Qualitätssteigerung im Verlauf dieses Abends. Hier ist die Perfektion schon zum Greifen nahe. Ein sehr konzentrierter Vortrag, woran auch die 2. Violine und die Bratsche grossen Anteil haben.

"Wenn fünf Stühle auf der Bühne sind, steht etwas Besonderes bevor" lautet die Einleitung von Eckart Runge zum folgenden Stück, dem 1. Satz aus Franz Schuberts Streichquintett op. posth. 163  D956 aus dem Jahre 1828. Mayu Tomotaki, Darral Cheuk Nam Tse spielen die Violinen, Akiko Hirahata die Viola und Yeo-Rhim Yoon sowie Lukas Wittrock die Celli. Intensiv sanglich, die Melodieführung liegt auch einmal bei den Celli, von den beiden Violinen umspielt. Klanglich sehr fein und ausgewogen gestaltet, warm und leidenschaftlich aufglühend. Alle hören sehr genau aufeinander und reagieren in engstem Verbund, bringen auf diese Weise grandiose und in der Wirkung sehr präzise disponierte Steigerungen zuwege. Ein hervorragend eingespieltes Ensemble.

Nach der Pause ein Frühwerk von Dmitri Schostakowitsch, sein Klaviertrio op. 8 aus dem Jahre 1923, bei dem sich eine Satzauswahl erübrigt, weil die Komposition nur aus einem Satz mit zwei Tempi besteht. Ony Yan, Klavier, Maīlis Bonnefous, Violine, und Romane Montoux-Mie, Violoncello, gestalten ein bedachtsames Hineingleiten in die melodische Entwicklung, dann folgen ein paar schroffe, scharf artikulierte Akkorde. Darauf wieder der versonnene Duktus des Anfangs, der in einen tänzerischen Rhythmus beider Streicher hineinführt. Das Klavier ergänzt mit flotten Figuren, dann sind alle drei wieder beisammen in einer fast elegischen Passage. Erst das Cello, dann tritt die Violine hinzu. Ein sehr stimmungsvoller und bestens abgestimmter Vortragsstil, Violine und Cello bewegen sich zu den stimmführenden Akzenten des Klaviers, rhythmisch durchaus vertrackt. Dann wieder ruhiger Einklang, poetischer Ausdruck, streckenweise elegante Salonmusik. Ein neuer Anlauf des Cellos, den das Klavier entschieden fortführt. Schliesslich ein intensiver Gesang beider Streicher, dann der Schlussakkord.

Das Finale des Abends übernimmt ein Quartett besonderer Art, das Berlage Saxophon Quartett mit Lars Niederstraßer, Sopransaxophon, Peter Vigh, Altsaxophon, Kirstin Niederstraßer, Tenorsaxophon und Eva van Grinsven, Baritonsaxophon. Sie spielen die Orchestersuite Nr. 6 op. 40, Arr. Christoph Enzel, aus dem Jahre 1933/34 von Hanns Eisler, das ist Filmmusik zu dem 1934 herausgekommenen Film "Le Grand Jeu". Eine sehr lebendig auftretende und wirkende, illustrative Musik, die eine gewisse Verwandtschaft mit Kurt Weills rhythmischen und klanglichen Ausdrucksformen der Zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts hat. Der zweite Satz bringt eine fugierte Sequenz, die in ihrer fein abgestimmten Melodik sehr gefällig wirkt. Auch  hier ist wieder das gegenseitige Aufeinander-Eingehen und das aufmerksame Zusammenwirken besonders hervorhebenswert. Jedes der Instrumente kann überzeugend solistisch agieren, aber ebenso gemeinsam mit den anderen beispielsweise eine mitreissende Marsch- Sequenz realisieren. Im Lento gelingen balladeske Züge. Es wird überaus sauber und fehlerlos intoniert, und der Hörer erlebt eine besonders suggestive atmosphärische Wirkung. Auch ein flottes Tänzchen ist eingefügt.

Dem begeisterten Publikum spendiert die "Viererbande" noch ein Arrangement aus Griegs "Lyrischen Stücken". Das Sopransaxophon schwebt über dem Ton der drei anderen, was eine geradezu choralähnliche Intensität ergibt. Ein fein abgestimmter, überaus harmonischer Sound.

Ausführlicher Beifall für einen sehr abwechslungsreichen Konzertabend mit ausgewählten "Appetizern" aus dem Quartettrepertoire.



020916
Auf dem Prüfstand
Zwei Konzertexamina
an der Sauer-Orgel des Berliner Doms

Der Berliner Dom hat es seinen Schwesterinstituten St. Pauls' und Westminster Abbey in London längst gleich getan und erhebt eine spürbare "Domerhaltungsgebühr" für Besucher außerhalb eines Gottesdienstes. Aber es gibt ein Schlupfloch für diejenigen, die einen solchen Obolus scheuen: gelegentlich finden Orgelprüfungen bei freiem Eintritt statt. Solche Termine, obwohl nur über den Veranstaltungskalender der Berliner UdK annonciert, sprechen sich erstaunlich rasch herum und füllen die Bankreihen im Parkett des Kirchenraums so weitgehend, dass man davon sprechen kann, die Veranstaltung sei "gut besucht" gewesen.

Zum Konzertexamen Orgel 1 tritt Annette Diening aus der Klasse von UdK-Prof. Leo van Doeselaar an. Der Professor und seine Schülerin beim Vorgespräch auf der Orgelempore: beide wirken buchstäblich klein vor dem imposanten Prospekt der Sauer-Orgel mit ihren 7200 Pfeifen und 113 Registern.

Annette Diening beginnt mit Improvisation und Fuge op. 65, Nr. 5 und 6 von Max Reger in der Bearbeitung des verdienstvollen Leipziger Thomaskantors und Orgelprofessors Karl Straube, auf dessen Arbeit im Programm dieses Tages mehrfach Bezug genommen wird. "Sempre un poco agitato, ma non Allegro" ist der erste Satz benannt. Er beginnt mit tiefen Bässen, die in dem riesigen Kirchenraum lange nachhallen. Leise angestimmte hohe Töne, dann ein paar kräftige Akkorde, gefolgt von erneut scheinbar aus großer Entfernung herübergewehten Klanggeweben. Dann eine Folge von Ausrufen und Anrufungen, gefolgt von Sprüngen und breiten Akkordsetzungen. Das Überrschendste sind immer diese ganz leise herüberklingenden Harmonien, als erzählten sie von einem anderen, weit entfernten Land. Ein die Spannung auflösender Schlußakkord.

"Molto tranquillo" der zweite Satz. Das Fugenthema in absteigender Tonfolge, in mittlerer Klangintensität, ohne Schärfe. Eine ruhige Schrittfolge; jeder abgeschlossenen Phrase folgt eine nächste, fein mit der vorangegangenen verwoben. Heitere Gelassenheit. Ein ruhiger Strom, aus dem immer wieder Bruchstücke des Fugenthemas herausragen. Einmal wird die Intensität noch weiter zurückgenommen, um dann aufsteigend wieder präsenter in den Vordergrund zu streben. Kerniges Klangbild, Schlußakkord.

Als nächstes folgt die berühmte Chromatische Fantasie und Fuge BWV 903 von Johann Sebastian Bach, entstanden um 1720, hier in der Orgelfassung von Max Reger. Ein kreiselnder Lauf als Einstieg, sanft intoniert wie eine von einer Windbö getriebene Staubwolke. Virtouse Tastenbehandlung, dann eine aufbrausende Steigerung in großer Klangpracht. Wechselrede zwischen den Ausdrucksformen von Läufen, Trillern  und Akkorden. Effektvoll abgetönte Akkordsequenzen, immer wieder abgebremst. Aufgeblendete Klangfächer. Behutsames Geleit zum sanften Schluss.

Dann das Fugenthema, verhältnismässig lang und gleich mit den Veränderungen verquickt. Mittlere Intensität, mehr ein Erzählmodus., der den Charakter eines Choralvortrages bekommt. Langgezogene Trillergirlanden,, anmutig auf- und absteigendeThemenlinien. Weiter geht die untereinander verzahnte Erzählfolge, bis sie von einer stärker dominierenden thematischen Wendung überlagert wird. Jede folgende Wendung tritt dann stärker auf und leitet schliesslich über zum Schlussakkord.

Das dritte Probestück ist Franz Liszt's Phantasie und Fuge über den Choral "Ad nos, ad salutarem undam", komponiert 1850 in Weimar, hier in einer Bearbeitung von wiederum Karl Straube. Das Stück ist ein häufig gewählter Prüfungsgegenstand, der an Vortragstechnik und gestalterisches Können gleichermaßen hohe Ansprüche stellt.

Mächtig der Choraleinstieg, vom Nachhall verstärkt und in den Umrissen geglättet, dann die sanft fortgesponnene Umspielung ganz im Hintergrund. Kehrt zurück nach vorn, ein langgezogener Triller-Lauf, gefolgt von rhythmisch pulsierenden, schrittweisen Akkorden. Perlende Verzierungen, stärker akzentuiert. Dann das Choralthema laut und prägnant, kleinere Schrittsequenzen, grummelnder und tiefer grabender Ton. Der schwebt sich frei, aber die rhythmisch so reizvoll pointierten Passagen werden vom Nachhall zugedeckt. Das Thema einmal in tiefer Lage, von einem Kommentar kontrastiert. Lange Pause, ein paar verhallende Rufe im Hintergrund.
Abermals Stille, sehr leise Bewegung im Hintergrund, dann tastet sich die nächste Variation heran. Das Thema in tiefstem Bass, darauf schrittweise aufgeblendet in verheissungsvollem Glanz neu gestärkt. Das Thema in lyrischer Verkleidung, umspielt von verklärenden Läufen. Die alternierenden, rhythmisch akzentuierten Sprünge sind fast unhörbar, alles bekommt eine verschwebende himmlische Überhöhung, überaus fein intoniert. Aus dem tiefen, sanften Bass heraus ein erneuter Anlauf zu grösserer Wirkung, dann setzt höhere Klangstärke ein, stufenweise in ansteigender Tonhöhe bis zum Plenum. Dann in kleinen Sprüngen zur Schlussfuge, sehr virtuos ausgeführt. Steigerung, Kräftigung, das Thema wird zitiert, führt in kräftig aufgeblendeter Schrittfolge zum thriumphalen Finale.

Die technisch beeindruckende Ausführung ändert nichts an der Tatsache, dass dieses an Schattierungen und Abtönungen so ungemein reiche, sehr kraftvolle  Werk, das alle paar Schritte zu einem akustisch radikal neuartigen Klangeindruck führt, hier über weite Strecken zu einem säuselnden Brei verschwimmt. Ob dies mehr der Straube-Bearbeitung oder der unglücklichen Raumakustik anzulasten ist, muss offen bleiben.

Ihr Orgel-Konzertexamen II absolviert anschliessend Jieun Song aus der Klasse von UdK-Prof. Paolo Crivellaro.  Sie beginnt mit der Passacaglia in d-moll des deutschen Komponisten  Johann Kaspar Kerll, der von 1627 bis1693 lebte - erneut in einer Fassung des Leipzigers Karl Straube.

Das Thema setzt behutsam und leise ein, ist aber klar zu vernehmen, erstarkt dann allmählich , kunstvoll und angemessen registriert, transparent trotz Nachhall. Reizvolle Variationen, die sich auch in der Dynamik und Dimensionierung unterscheiden, von vordergründiger Präsenz bis zu leise verwehendem Rauch. Die einzelnen Abschnitte werden klar erkennbar voneinander separiert. Virtuose Tastenbeherrschung. Schöner Schlussakkord.

Von Raffaele Manari, der von 1887 bis 1933 lebte, stammt die anschliessende reizvolle Erzählung "Leggenda", die in sanften Akkorden gehalten ist und mit einer spielerischen Melodie aufwartet, die sich frei im Raum bewegt und eine Atmosphäre wunderbarer Ereignisse suggeriert. Eine Verkündigungsformel wird nach vorn getragen und strahlt nach alle Seiten aus. Alles sehr farbig und fantasievoll, souverän vorgetragen. Innig, andächtig, konzentriert und meditativ, feinst abgestuft. Der kunstvolle Dialog mit den Xylophoneffekten am Ende ist besonders zu bewundern.

Richard Wagners Pilgerchor aus "Tannhäuser" hat Wagners Schwiegervater Franz Liszt für die Orgel eingerichtet. Die Pilger kommen von weit hinten und werden auf ihrem Weg an die Rampe immer deutlicher sichtbar. Das "Halleluja" wird besonders vernehmlich artikuliert. Am stärksten wirkt dieses Motiv, wenn es ganz leise verschwebend erklingt. Mächtiger Schlussakkord .

An nächster Stelle stehen Fantasie und Fuge in d-moll op. 135b aus dem Jahre 1916 von Max Reger. Fein ziseliert führt sich die Fantasie ein und erstarkt dann zu brausender Fülle. Feinfühlig abgestuft. Dann ein perlendes Spiel mit kleinformatigen Wirkungen. Ständiger Wechsel zwischen hauchzarten Hintergrundmalereien in den unterschiedlichsten Farben und prägnanteren, stärker vordergründigen Passagen bis zu einem breit angelegten, nahezu donnernden Klangbild mit abenteuerlich rauschenden Läufen. Schlussakkord der Fantasie.

Das Fugenthema tritt in kleinteiliger Formatierung hervor, anfangs sehr zurückhaltend. Flächigere Elemente legen sich über die fugierte Verarbeitung, erstaunlich klar und durchsichtig gestaltet. Der kontinuierliche Klangfluss blendet stärker auf und steuert dem Schlussakkord zu. Hier ist dann der volle Klang dieser Mammut-Orgel erreicht. Hervorragende Disposition.

Drei Methamorphosen nach Themen aus der vorangegangenen Reger-Komposition von Werner Jacob, der von  1938 bis 2006 lebte, stehen am Schluß der Examensvorträge. Zunächst tastende Schritte in einer fremdartigen Atmosphäre, etwas gläsern und gezügelt dissonant. Klangballungen türmen sich zu grossen Sprüngen.

Dann dumpfes Grollen, ein paar silbrige Töne über pulsierendem Bass.

Die dritte ein schäumender Klangfluss, in dem man zunächst vergeblich Halt sucht, bis man ein paar thematische Rudimente wahrnimmt. Immerhin eindrucksvoll und mit einem überraschend harmonischen Schluss dekoriert, ehe der Ton hinauswandert.

Lebhafter Applaus wie auch bei der Vorgängerin.

020816
Ein feste Burg
Vortragsabend der Orgelstudenten
im UdK-Institut für Kirchenmusik Berlin

Einmal im Semester öffnet sich das "Burgtor" für Interessierte, die Eingangspforte zum Institut für Kirchenmusik,"die Burg" genannt, in dem turmähnlichen Gebäude aus rötlichem Sandstein an der Hardenbergstrasse Berlin-Charlottenburg, für einen Vortragsabend von Orgelstudentinnen und -studenten von Prof. Paolo Crivellaro, Prof. Leo van Doeselaar und Erwin Wiersinga..Ein nicht zahlreiches, aber wohlinformiertes Publikum besetzt zuerst die wenigen Plätze des kleinen Orgelsaals im Erdgeschoss, der zu einem Viertel von der mächtigen Rowan West Orgel aus dem Jahre 2007 eingenommen wird.

Nach dem Grußwort von Prof. van Doeselaar spielt zuerst Justus Lorenz auf dieser Orgel die Passacaglia in d BuxWV 161 von Dieterich Buxtehude, der von 1637 bis 1707 lebte. Machtvoller Klang, in den man sich zuerst etwas hineinhören muss. Die Variationen über das Passacaglia-Thema werden abwechselnd auf dem unteren und oberen Manual gespielt, die ruhenden Basstöne kommen vom Pedal.

Konrad Körnig interpretiert danach die "Toccata quarta" von Georg Muffat, entstanden vermutlich um 1690. Wärmer im Klang, die Melodie mit Trillern verziert. Nach einem Vorspiel eine mehrstimmige Durchführung, dann ein Registerwechsel, der den Klang zum Helleren verändert. Darauf wird ein neues Thema eingeführt, das mehrstimmig abgewandelt wird, in schöner, stetiger Schrittweise, beidhändig auf dem unteren Manual, die  Bassfundierung vom Pedal.

Darauf Margarita Yarushkina  mit zwei Sätzen aus BWV 527 , der Sonate Nr. 3 d-moll von Johann Sebastian Bach. "Andante" : Schrittfolge mit Trillerverzierung, gespielt auf dem unteren Manual. Reizvolle Melodieführung mit aufeinanderfolgenden Einsätzen der rechten und der linken Hand. "Adagio e dolce": Auf dem oberen Manual intoniert die rechte Hand die süss schwebenden Töne, die Repliken kommen mit der linken auf dem unteren Manual, die fundierenden Basstöne wie stets aus dem Pedal. Ein gemessenes Schreiten in gut zu verfolgendem Moll-Duktus.

Konrad Furian ist dann mit zwei Stücken aus dem "Orgelbüchlein" von Johann Sebastian Bach an der Reihe,  entstanden etwa um 1710. BWV 641 "Wenn wir in höchsten Nöten sein " auf dem unteren Manual, eine gemächlich schreitende, vielfach mit recht virtuos ausgeführten Trillern verzierte Melodie. BWV605 "Der Tag, der ist so freudenreich": ein forscher, fast trompetenähnlicher Klang für eine Choralmelodie, die sich schon recht entschieden ausnimmt und auch so entschlossen auf beiden Manualen vorgetragen wird.

Ein Ortswechsel steht an : Die Hörergemeinde begibt sich nebenan in den noch etwas kleineren Raum für die 1894 errichtete Gebr. Dinse-Orgel. Von Johannes Brahms stammen Choralvorspiel und Fuge über "O Traurigkeit, o Herzeleid", erstere entstanden 1858, die Fuge dann 1873. Jihee Jeon spielt. Das Instrument klingt weich und harmonisch, vor allem in den höheren Tonlagen. In der Fuge ergänzen sich beide Hände und lösen einander ab, das Vorbild Bachs ist spürbar. Fliessender, gewandter Vortragsstil mit exakt gehaltenem Tempo, auch im Pedalspiel.

Abermals ein Ortswechsel in die große Aula im zweiten Stock, wo neben der großen Karl Schuke-Orgel von 1993 noch ein kleines italienisches Instrument steht, das vermutlich um 1740 gebaut worden sein könnte.

Auf dieser italienischen Orgel spielt zunächst Damian Skowronski "Variazioni d'Invenzione" von Bernardo Pasquini, komponiert vermutlich um 1697. Heller, freundlicher und intimer Klang des kompakten, mit kunstvoller Malerei auf Holz verzierten Instruments. Die Variationen werden formgerecht und in der geeigneten Disposition vorgetragen. Die Melodie geht in einzelnen Abschnitten durch sehr individuell klingende Pfeifenreihen, hell und klar, aber auch dunkel schwebend. Variantenreich das Tempo, und auch die zwitschernden Vogelstimmen dieses Instruments kommen zur Geltung.

Auf der grossen Schuke-Orgel spielt zuerst Johanna Schuler das "con moto maestoso" aus der etwa 1845 entstandenen 3. Sonate in A-Dur op. 65 von Felix Mendelssohn Bartholdy. Die Orgel läßt sich in der Tat "maestoso" vernehmen. Eine erste Fuge erklingt in dezenter Registrierung, stetiges, dann sich steigerndes Tempo. Durchsichtiger Klang, dadurch gut gehaltener Spannungsbogen. Gewandte Spieltechnik, kraftvolle Schlussakkorde.

Paul Roßmann ist der nächste mit der 1.Fuge über die Tonfolge B-A-C-H op. 60 komponiert 1845/46 von Robert Schumann. In gelassener Grundstimmung wird das Thema eingeführt und dann durch verschiedene Wandlungen geleitet, die immer wieder die vier Noten des Themas an den verschiedensten Stadien der Entwicklung aufleuchten lassen. Der Klangeindruck wächst durch unterwegs hinzugefügte Register.

Gleb Bubnov spielt die Toccata a-moll op. 80 , im Jahre 1904 komponiert von Max Reger. Nun hat die Orgel eine mächtige Bass-Stimme und den Klangauftritt einer großen Kirchenorgel. Auf dem obersten von vier Manualen eine leicht intonierte Überleitung , dann darunter mit entschiedenem Fingersatz grosse Akkorde, weit ausladenden Harmonien, die Orgel scheint mehrsprachig zu formulieren.

Vom Franzosen Louis Vierne stammt das "Impromptu" aus den "Pièces de fantasisie", komponiert 1927., das Bubnov anschliessend spielt. Ein leicht gefasster, fliessender Klang ,der in seinen heiteren Figuren an den Sound einer Jahrmarktsorgel erinnert und eine aparte, gefällige  Grundstimmung verbreitet. Selbst ein akkordeonähnlicher Klang ist zu vernehmen. Alles wird sehr flüssig vorgetragen.

Anastasia Sidorkina kommt mit "Cortège et Litanie" op.19 Nr. 2 aus dem Jahre 1921 von Marcel Dupré an die Reihe. Ein bedachtsamer Aufzug würdevollen Schrittes zu Beginn. Allmählich öffnet sich der Klang, der dann wieder in den Hintergrund zurückgenommen wird. Die Litanei wird in verschiedenen Klangfarben nacheinander zelebriert, tritt dann breiter in den Vordergrund, steigert sich in Wiederholungen zu einer Choralmelodie. Sehr formsicher und technisch versiert in der Gestaltung.

Den Schlußpunkt setzt Vladimir Magalashvili an der Schuke-Orgel mit dem "Allegro deciso" aus dem Poème Symphonique op. 37 "Évocation" aus dem Jahre 1941 von Marcel Dupré. Breit und entschieden gesetzte Akkorde, vibrierende Klangfelder, technisch sehr anspruchsvoll und in ausgefeilter Form dargeboten. Ein warmer Nebel leitet über bewegte Strukturen wieder zu einem wabernden Klangfeld weiter, das von Akkorden gestützt wird. Stillstand, dann helle Klangfiguren, die nach oben leuchten. Bassfundierte, breit ausgreifende Akkorde, springende Cluster, die in eine volltönende Schlussformel münden.

Viel Applaus für diese kurzweilige, instruktive Leistungsschau.


020516
Wer Ohren hat zu hören, der höre
Kommentierte Kammermusik
mit UdK-Dozent Wendelin Bitzan

Zum Abschluss seines Seminars "Höranalyse- Musikalische Strukturen hörend erschließen" präsentierte UdK-Musiktheorie-Dozent Wendelin Bitzan jetzt eine öffentliches Kammermusik-Konzert im Kammersaal an der Berliner Fasanenstraße , in dem Kompositionen von Ludwig van Beethoven und Nikolaj Medtner erläutert und gespielt wurden. Als Interpreten gewann er zwei herausragende, vielfach preisgekrönte Künstler: den aus Moskau stammenden, jetzt in London lebenden Pianisten Alexander Karpeyev und die Violinsolistin Viktoria Kaunzner, die in Deutschland aufgewachsen ist und heute als Dozentin für Violine und Kammermusik in Südkorea wirkt. Beide sind durch zahlreiche CD-Aufnahmen und Konzertauftritte bekannt.

Zu Beginn des Konzerts legt Wendelin Bitzan in erfreulich verständlichen Worten seine Konzeptidee für diese Veranstaltung dar. Ludwig van Beethoven bedarf als Komponist und Persönlichkeit kaum mehr zusätzlicher Bekanntheit. Anders bei dem russischen Komponisten Nikolaj Medtner, der in die Lebenszeit und Stilepoche von Alexandr Skrjabin und Sergej Prokofjew hineingehört, 1880 geboren und während der russischen Oktoberrevolution über Berlin nach London emigriert, wo er bis 1951 lebte. Sein kompositorisches Werk umfaßt vierzehn Klaviersonaten, drei Violinsonaten und eine Sonate für Singstimme und Klavier. Bitzan sieht in den Intentionen und Werken beider Komponisten durchaus verwandte Züge.

Nach einigen Erläuterungen von Merle Krafeld zum Aufbau der folgenden Beethoven-Sonate setzt sich dann der Pianist Alexander Karpeyev an den Steinway-Flügel für Beethovens Opus 27 Nr. 1, die Klaviersonate Nr. 13 "Quasi una fantasia" aus dem Jahre 1801. Eine reizvolle Dreiteilung im ersten Satz: "Andante-Allegro-Andante". Der Pianist beginnt ganz leise und sehr natürlich, etwas geheimnisvoll und in nobler Atmosphäre. Er verfügt über zahlreiche Darstellungscharistika, die der Beethoven-Interpretation abgesehen vom reinen Notenbild zusätzliche Dimensionen erschliessen. Grosse dynamische Spannweite und souveräner Umgang mit Kontrasten, die durch ausdrucksvolle Pausen geweitet werden. "Allegro molto vivace" der zweite Satz: Eleganz des Auftritts wird hier gepaart mit markanter Präsenz in einem galoppähnlichen Thema, das sowohl lyrisch fliessend wie rhythmisch pointiert auftreten kann. "Adagio con espressione": Das klingt nun wirklich fast wie ein Gesangsvortrag, dessen Farbe und Ausdruck wieder weitgehend durch die dynamische Skala des Pianisten bestimmt wird.
Schließlich "Allegro vivace": Jetzt wird fröhlich gesprungen und gehüpft. Vorwärtsdrängender Beethoven in der Originalsprache, gewandt und fetzig, entschieden und stürmisch. Ein auch pianistisch überaus mitreissendes Finale, in dem das Zitat des Themas aus dem vorigen Satz besonders beeindruckt.

In seiner Übergangsmoderation zur nächsten Komposition hebt Bitzan die Ambivalenz von Sonate und Fantasie bei Beethoven, Sonate und Suite bei Medtner hervor. Sämtliche Werke des russischen Komponisten haben einen Klavierpart. Lyrische und tänzerische Elemente verbinden sich in der anschliessenden Sonate für Violine und Klavier Nr. 1 h-moll  op. 21 aus dem Jahre 1910 von Medtner.

"Canzona" ist der erste Satz überschrieben. Sanglich und selig klingt er, insbesondere vom charakteristischen Klang der historischen Violine getragen. das Klavier liefert leichtgefasste Kommentare. Der Violinklang ist von eigentümlicher Süsse, gemahnt bisweilen an französisches Kolorit. Er kann verträumt dahingleiten und ebenso mit Leidenschaft davonstürmen. Mit Sordino wird dieser Klang noch gewissermaßen miniaturisiert und reizvoll abgetönt.  "Danza" ist das folgende "Allegro scherzando" betitelt, ein schwungvoller Tanz in einem eigenartig gemischten Takt, der ein raffiniertes Klangbild ergibt, bei dem mal die Violine, mal das Klavier ein wenig nachzuklappen scheint. Rhythmisch herausfordernd und zuweilen leidenschaftlich wild nach ungarischer Art. Eingestreute Pizzikati geben zusätzliche Farbe. Origineller Schluss.

"Ditirambo (Festivamente)" lautet die Vortragsbezeichnung für den dritten Satz.Große Akkorde des Klaviers, über denen sich die Violine großenteils in virtuos gefaßten Doppeltönen ergeht Thematisch wird die Entwicklung im wesentlichen aus einem einzigen Motiv gespeist, das sich mit Flirren und Knistern in ein rauschendes Finale ergießt. Im Dialog finden beide Instrumente zu effektvollen Formulierungen.

Dann nochmals Wendelin Bitzan: das folgende Medtner-Stück ist ein Hybrid aus Sonate und Ballade, die Balance zwischen beiden wird durch eine vielschichtige Semantik erreicht. Ein dreistophiges Gedicht und eine Liedmelodie sind eingearbeitet, die sich mit der Fabel von der Versuchung Jesu durch den Teufel in der Wüste befassen. Die Dreisätzigkeit der folgenden Sonate, die ein Paradebeispiel für symbolistische Kunst sei, korrespondiert mit der  Struktur von Beethovens "Waldsteinsonate".

Nun wieder Alexander Karpeyev mit Nikolaj Karlowitsch Medtners Klaviersonate Fis-Dur op. 27 aus den Jahren 1912-1914, genannt "Sonate-Ballade". Erster Satz "Allegretto": Leichthin im Erzählton, dann balladeske Anreicherung, stärkere Farbakzente. Das klingt bisweilen nach Rachmaninow. Kleine Sprünge, dann ein vorwärtsdrängender Impetus, in rhythmisierten Blöcken strukturiert. Das Liedmotiv wird zitiert, dann in bisweilen emphatischen Formeln aufgereiht und dramatisch gesteigert. Beide Hände des Pianisten sind an diesem grandiosen Klangbild durchgehend beteiligt.

"Introduzione" steht über dem zweiten Satz - eine ungewöhnliche Bezeichnung für einen Mittelteil. In erzählenden Schritten wird die Fabel ausgebreitet. Über dem rhythmischen Fundus der linken Hand setzt die rechte die erzählerischen Akkorde, rhythmisch vielfach gebrochen. Freie Sprünge mit zwischengelagertem Material.

Im "Finale (Allegro)" gibts dann sogar eine recht pointierte Fuge, die wie Rede und Gegenrede wirkt. Kraftvoll und mächtig im Ton, chorisch aufgefächert, bis ein Thema aus majestätischen Akkorden erreicht ist, dem wieder die kleinen Sprünge aus der vorangegangenen Passage folgen. Durchgehend vollmundiger Klang. Am Ende ein sich rasend drehender Wirbel bis zum Schlußakkord.


Viel Beifall aus dem gut besuchten Saal zum Dank für einen ebenso kurzweiligen wie instruktiven musikalischen Abend.




020316
Von Bach bis Kreisler
Vortragsabend Klavierklasse UdK-Prof. Sorin Enachescu
im Joseph-Joachim-Konzertsaal Berlin

Ein umfangreiches Programm mit Klaviermusik aus drei Jahrhunderten, das Kompositionen von Bach bis Kreisler umfaßte präsentierte die Klavierklasse von UdK-Prof. Sorin Enachescu im Joseph-Joachim-Konzertsaal Berlin. Die Nennung von Kreisler bezieht sich allerdings nicht auf den österreichischen Geiger und Komponisten Fritz Kreisler, der 1962 in New York gestorben war, sondern auf eine Kunstfigur, den von E.T.A. Hoffmann kreierten Kapellmeister Kreisler, der Robert Schumann zu seinem 1838 veröffentlichten Klavierzyklus "Kreisleriana" inspirierte.

Den Auftakt übernimmt die Pianistin Mo Zhou mit Johann Sebastian Bachs "Englischer Suite Nr. 2" BWV 807, die 1715 in Weimar entstanden ist. Man könnte die Tempobezeichnung "Saltarello" vermuten: Wie von einer Uhrfeder angetrieben, spult sich das flotte "Prelude" unter den Händen der Pianistin ab, wobei feine dynamische Differenzierungen das Geschehen interpunktieren. Ausgeprägtes Rhythmusempfinden fällt auf. Die "Allemande" klingt eher behutsam, ein wenig verträumt. Nicht jeder Anschlag trifft. Die "Courante" wird mit Sprung und federnder Bewegung auf den Weg geschickt. Die "Sarabande" ist gemessen und bedachtsam, ausdrucksvoll und melodiebetont, die "Bourrée"  springlebendig und von leichthändiger Beweglichkeit, mit hübsch akzentuierten Taktverlagerungen, sehr einnehmend. Die "Gigue"serviert jugendliches Feuer mit großer technischer Brillanz, dramaturgisch gut aufgebaut und vorgestellt.

Wolfgang Amadeus Mozarts Sonate Nr. 8 a-moll KV 310 aus dem Jahre 1778 beginnt die Pianistin  mit dem Satz "Allegro maestoso", den sie ohne auftrumpfendes Gebaren präsentiert, eher leicht und dennoch formbewusst, mit leichtem Anschlag und sehr beweglicher Gestaltung. Das "Andante cantabile" ist feinsinnig und von klarer Disposition. Dann geht es mit Geschick und Stilempfinden durch die thematische Verarbeitung. Im abschliessenden "Presto" wird das Tempo wörtlich genommen, kraftvoll und leicht zugleich, mit besonderem Talent für eine Darstellung aus federnder Energie heraus.

Zum Abschluß ihres Vortrags spielt Mo Zhou Claude Debussys Komposition "L'isle joyeuse" aus dem Jahre 1904, deren Name sich nach dem Urteil mancher Musikhistoriker auf die britische Kanalinsel Jersey beziehen könnte. Aus virtuosen Trillern wird der Ton aufgeblendet. Der Vortrag bleibt immer duftig leicht, wird nie zu gewichtig, behält durchgehend etwas Feenhaftes. Die perlenden Läufe gelingen makellos. Eindrucksvolle Steigerungen, kreisende Tanzbewegungen mit Glanz und Farbe. Virtuose Gewandtheit.

Als nächste ist die Pianistin Zhenyi Wu mit Ludwig van Beethovens Sonate Nr. 30 E-Dur op. 109 an der Reihe, komponiert 1820. Der erste Satz "Vivace" wird wunderbar leicht und spielerisch intoniert, lebhaft und kraftvoll, für beide Hände abwechselnd lyrisch und zupackend gestaltet. "Prestissimo" ist der zweite Satz überschrieben, wird entschieden und rasch gespielt, dabei aber sehr differenziert in der Darstellung. Größter Nachdruck und zarteste Tongebung sind unmittelbar benachbart. "Gesangvoll, mit innigster Empfindung" lautet die Vortragsbezeichnung für den dritten Satz. Geradezu andächtig wird das Thema hereingeführt, ein bedachtsames, aber sehr ausdrucksvolles Schreiten. Dann eine Variation mit zarten Nachschlägen, ein spannungsreicher Walzer, gefolgt von einer Sequenz kleiner Sprünge. Alles sehr virtuos mit präzisem Anschlag. Danach markanter, mit betonten Akzenten. Der gesamte Aufbau des Satzes ist intelligent durchleuchtet. Dann eine raffiniert zwischen Dur und Moll changierende Fuge, spieltechnisch anspruchsvoll und bestens beherrscht. Linke und rechte Hand sind gleichermaßen ausdrucksvoll beschäftigt, bis sich die andächtige Stimmung des Beginns erneut einstellt. Zartester Ausklang.

Anton Genkin spielt Sergej Prokofievs Sonate Nr. 3 a-moll op. 28 aus dem Jahre 1917. Acht wechselnde Tempi in einem Satz. Es beginnt mit großen Akkorden, die zu behutsamer gezeichneten Passagen führen. Dann eine Marschmarkierung, der eine liedhafte Strecke folgt. Glockentonartige, große Akkorde. Darauf ein stürmisches Losbrechen, gefolgt von motorischen Stakkati. Nun geht es in Akkordsprüngen auf größere Höhe,die Intensität läßt nach, steigert sich dann erneut, führt zu harten Akkordballungen . Darauf verspielte, eher heitere Szenen, die in einen kleinen Galopp übergehen, aus dem sich ein weiter sich steigernder Geschwindmarsch entwickelt, der dann mit Brillanz ins Finale führt.

Nach der Pause eröffnet der Pianist DongKyu Kim den zweiten Teil des Konzerts mit Frédéric Chopins Etude op. 10 Nr. 11 Es-Dur aus dem Jahre 1832. Aufzählende Akkorde, ein erzählender musikalischer Duktus. Darauf Johann Sebastian Bachs Partita Nr. 2 c-moll BWV 826 aus dem Jahre 1731. Eine "Sinfonia" führt in breiten Akkorden in das Stück hinein. Dann eine leichtgefasste und elegant vorgetragene "Allemande", die durch sehr akkurat gehaltenes Tempo beeindruckt, das in die erste "Courante" überführt. Behendes Tempo, pianistisch sehr präzise dargeboten, rechts und links gleichermaßen ausdrucksvoll und von transparenter Struktur. Eine zweite, etwas weniger wilde "Courante" folgt mit gewandten Akzentuierungen. Die "Sarabande" klingt nach gemessener Schrittfolge mit galanten Verneigungen. Das "Rondeau" scheint pointiert zu hüpfen und zu springen, sehr virtuos vorgetragen. Ein "Capriccio" schließt die Komposition ab, das den Tonfall des vorangegangenen Satzes aufnimmt. Sehr gewandt und genau vorgetragen.

Als nächstes vom selben Pianisten die Sonate Hob. XVI:33 D-Dur aus dem Jahre 1778 von Joseph Haydn. Sie beginnt mit einem "Allegro" in heiterer, blendend formulierter Diktion, überaus geläufig und technisch versiert, mit jeder Menge intelligenter Akzente. Das folgende "Adagio" ist ein vorsichtiges sich-Hineintasten, sehr leicht und behutsam formuliert, woraus sich dann eine anmutige Erzählung entwickelt. Das Werk schließt mit einem "Tempo di Menuetto". Ein gefälliges Thema, das mit kleinen Sprüngen aufwartet und dann variiert wird. Der Pianist versteht es, auch diesen Satz in höchst angenehmer Gestalt und in scheinbar mühelos beherrschter Technik vorzutragen. Alles sehr flüssig und mit der denkbar größten Akkuratesse.

Es folgen noch "five Bagatelles" vom australischen Komponisten Carl Vine aus dem Jahre 1994. Die virtuose Fingerfertigkeit wird herausgefordert. Akkorde und raffiniert gesetzte Einzeltöne lösen einander ab. Neben gehämmerten Akkorden gibt es aber auch konventionell verträumte Stimmungsbilder mit hingehauchten Akzenten. Große Schritte und pointierte Töne, einzeln gesetzte Wassertropfen, staunenswerte Koordinierung beider Hände. Behutsame Stimmungsmalerei, leicht hingehaucht, mit dem Charakter von Tuschezeichnungen.

Zu später Stunde dann noch der Pianist Mo Zhou mit Robert Schumanns Klavierzyklus "Kreisleriana" op. 16 von 1838. Das Werk, das Schumann für sein bestes hielt, verbindet acht Sätze, die Charakterskizzen darstellen. Sie beziehen sich auf Persönlichkeitsäusserungen des Kapellmeisters Kreisler, einer Kunstfigur des Dichters und Komponisten E.T.A. Hoffmann. Insgeheim sind darin aber auch Aspekte der Persönlichkeit des Komponisten Robert Schumann festgehalten und zueinander in Beziehung gesetzt. Der Pianist arbeitet die Kontraste wunderbar heraus, stellt die Schattierungen des Charakters plastisch dar, überaus feinsinnig, aufblühend und wieder absterbend , wechselnd zwischen Plauderton und gewichtigem Auftreten. Er mischt nächtliche Träumerei mit Sehnsucht und Entschlossenheit. Der letzte Satz ist pianistisch vortrefflich ausgefeilt, alle Varianten sind mit größter Sorgfalt erarbeitet. Das Liedhafte und das Nachsinnen kommen beide zur Geltung. Der Vortrag bietet romantische Gestaltung auf einem Höhepunkt und wird zu Recht mit langanhaltendem Beifall bedacht.


020216
Gut bei Stimme
Vortragsabend der Gesangsklasse UdK-Prof. Peter Maus
im Kammersaal Fasanenstrasse Berlin

Wer die Vortragsabende einer Gesangsklasse der Berliner UdK über einen längeren Zeitraum verfolgt, kann nicht nur das Programm des jeweiligen Abends hören, sondern auch die Fortschritte der Sängerinnen und Sänger in der stimmlichen und künstlerischen Gestaltung beobachten, wie dies jetzt wieder beim Vortragsabend der Gesangsklasse von Prof. Peter Maus der Fall war.

Der erste Teil des Konzerts ist dem romantischen Kunstlied gewidmet. Die Sopranistin JeeEun Kim singt als erste drei Lieder von Felix Mendelssohn-Bartholdy : "Die Liebende schreibt" auf einen Goethe-Text, "Suleika" von Goethe und Marianne v. Willemer sowie "Neue Liebe" von Heinrich Heine. Zu hören ist ein hell leuchtender, schön timbrierter Sopran, der in der Höhe aufblüht. Ausdrucksvolle Gestaltung verbindet sich mit feinem lyrischen Empfinden in der Passage "Gib mir ein Zeichen" beim ersten Goethe-Text. "Suleika" drückt inniges Gefühl aus, wobei auch die Bewegung der Hände gut integriert ist. So erreicht die Sängerin einen schön strömenden melodischen Fluss. Im Heine- Lied wird der rasche musikalische Duktus gut beherrscht. Die Pianistin Liana Vlad, die schon bei der Einstudierung der Vorträge unterstützend tätig war, ist nun während des gesamten Abends eine überaus aufmerksame, mitgestaltende Begleiterin von bestem rhythmischen Einfühlungsvermögen.

Charlotte Schetelich, Sopran, trägt danach drei Lieder von Franz Schubert vor. "Der Fischer" auf einen Goethe-Text setzt das Loreley-Thema um. Die Sängerin hat eine Stimme von ganz eigenem Charakter. Sie kann schlicht natürlich, aber auch überaus kunstvoll klingen und gibt dieser Ballade einen lebendigen Charakter. Es folgt "An den Mond" auf jenen Goethe-Text, der mit den Worten "Füllest wieder Busch und Tal" beginnt. Hier beeindruckt die ausdrucksvolle Artikulation , ebenso in der anschliessenden Romanze aus dem Schauspiel "Rosamunde", wobei weit ausgesungenen Bögen, die bisweilen etwas metallisch klingen, und gute szenische Gestaltung auffallen.

Aus Liedern von Robert Schumann auf Texte von Nikolaus Lenau op. 90 singt anschließend die Sopranistin JaeEun Park eine Auswahl. "Meine Rose": Was den vorangegangenen Vorträgen an Stimmkraft noch gefehlt haben mag, ist hier präsent. Die Stimme spricht weich an, überdies beeindrucken gute Artikulation und Textverständlichkeit. In "Kommen und Scheiden" überzeugt guter Ausdruck und angemessene Mimik, stimmlich eine gute Höhe ohne Schärfe. "Die Sennin" hat etwas lebhafteres Tempo, das auch in den höheren Lagen gut beherrscht wird. In "Einsamkeit" lassen weit ausschwingende Gesangsbögen die Wärme und Kraft dieser Stimme angenehm zur Geltung kommen. Ruhe und Nachdenklichkeit überzeugen gleichermaßen. In "Der schwere Abend" wird eine dunkle Nacht eindrucksvoll charakterisiert, die innere Bewegung gut in Ausdruck übersetzt.

Taejong Kim, Bariton, singt zunächst zwei Lieder nach Heinrich Heine aus op. 13 von Clara Schumann. "Ich stand in dunklen Träumen": die Stimme wird in der Mittellage und Tiefe gut geführt, ist in der Höhe leicht geschärft, bringt aber schöne weite Bögen und ausdrucksvolle Artikulation. "Sie liebten sich beide": die fesselnde Beschreibung eines Seelenzustands. "Die Mainacht" auf einen Hölty-Text von Johannes Brahms: Die Atmosphäre der Szene ist intensiv erfasst und in den Vortrag übersetzt, klug disponiert und auch in einer kraftvollen Passage stimmlich gut geführt.

Nach der Pause kommen Bravourarien aus bekannten Opern zur Geltung. Der immer wieder mitreissende junge Bassist Jongsoo Yang beginnt mit Rezitativ und Arie des Figaro "Tutto e disposto" aus der 1786 uraufgeführten Mozart-Oper "Le Nozze di Figaro". Schon im Rezitativ setzt er überaus sicher ein, mit gutem Gefühl für Bühnenaktion. Grosse Kraft und erhebliches Durchsetzungsvermögen der Stimme, die auch erregend tragfähig wirken kann. Im darstellerischen Ausdruck ist der hochgewachsene junge Sänger auf gutem Wege.

Hyelim Jo, Sopran, wagt sich danach an eine der gefürchteten Arien der Königin der Nacht "Der Hölle Rache" aus Mozarts 1791 uraufgeführter Oper "Die Zauberflöte". Die Stimme scheint zunächst etwas belegt, die Höhe muss erst freigesungen werden, liefert dann aber tadellos platzierte, absolut einwandfrei intonierte Spitzentöne. Mut und Geschick sind hier gleichermaßen zu bewundern.

Danach ist JeeEun Kim, Sopran, mit der Arie der Philine aus Ambroise Thomas' 1866 uraufgeführter Oper "Mignon" an der Reihe. Die Stimme ist absolut passend und wird auch leicht genug geführt, um sämtliche Tücken dieser Arie angemessen und nach Ausdruck wie nach musikalischem Gehalt gleichermaßen überzeugend zu verkörpern. Eine treffliche Besetzung, bei der auch die Pianistin besonders souverän agiert.

Mit der Arie des Fürsten Jeletzki aus Peter Tschaikowskys 1890 herausgekommener Oper "Pique Dame" ist anschließend der Bariton Taejong Kim in russischer Sprache an der Reihe. Die besonders wohlklingenden mittleren Lagen seiner Stimme werden klug eingesetzt. Leidenschaft und bewegter Ausdruck erzielen eine starke Wirkung. Strömende Stimmgewalt in bester Qualität.

Mit liebevoller Hingabe erinnert sich anschließend Hyelim Jo an ihr Rendezvous mit dem vermeintlichen Studenten Gualtier Maldè in der Arie "Caro nome" aus Giuseppe Verdis 1851 uraufgeführter Oper "Rigoletto". Die tückischen Höhen dieser nur zu Beginn einfachen Arie steuert sie sanft und sicher an. Überhaupt scheint sie mit der Psyche der jungen Gilda  besser zurande zu kommen als mit der kalt-dämonischen Königin der Nacht. Eine tadellose Leistung.

Darauf abermals der Bassist Jongsoo Yang mit der Arie des Mefistofele "Son Lo Spirito", auf deutsch "Ich bin der Geist, der stets verneint" aus der 1868 uraufgeführten Faust-Oper "Mefistofele" vom Italiener Arrigo Boito. Pianistisch und gesangstechnisch ein Paradestück. Die Stimme passt zur Mefisto-Rolle wie ein Maßanzug. Der Sänger hat die Beweglichkeit für ausdrucksvolle Gestaltung und eine ganz nach Wunsch samtige oder dämonische Tiefe, dazu eine wundervoll aggressive Höhe - die volle Skala !

Zum Schluß singt JaeEun Park, Sopran, Rezitativ und Arie der Anna Bolena "Piangete voi?" aus Gaetano Donizettis Oper "Anna Bolena", uraufgeführt 1830. Das Rezitativ in schöner Gelassenheit. Die Stimme hat leidenschaftliche Wärme in der Mittellage und eine aufregend timbrierte dramatische Höhe, ist dazu hinlänglich ausgereift, um einer solchen Partie die notwendige Dimension geben zu können. Wirklich schöne Wirkungen, strömende Fülle auch in der Höhe.

Allen Ausführenden gilt ausgiebiger, anhaltender Beifall, dazu gibt's einen Dankes- Blumenstrauß für Liana Vlad und Professor Peter Maus.

012816
Facetten der Romantik
Klavierabend der Klasse von UdK-Prof. Mi-Joo Lee
im Konzertsaal Bundesallee Berlin

Einen Akzent auf Klavierstücke der Romantik und Spätromantik legte das Programm beim jüngsten Klavierabend der Klasse von UdK-Prof. Mi-Joo Lee im Konzertsaal an der Berliner Bundesallee. Zwar waren auch zwei Kompositionen aus Johann Sebastian Bachs "Wohltemperiertem Klavier" zu hören, aber die anderen Stücke stammten sämtlich aus dem 19. und vom Beginn des 20. Jahrhunderts.

Den Auftakt übernimmt der Pianist Daniel Schneidt mit Präludium und Fuge c-moll BWV 871 aus Teil II des "Wohltemperierten Klaviers", komponiert 1742 von Johann Sebastian Bach. Ein tänzelndes Präludium, in belebtem Tempo dargeboten, flüssig und fesselnd. Das Fugenthema ist einfach und besteht aus wenigen Takten, dann beginnt bereits die zweistimmige Verschränkung, schön ausgewogen und transparent.

Es folgen drei Fantasiestücke op. 111 aus dem Jahre 1851 von Robert Schumann-. "Sehr rasch, mit leidenschaftlichem Vortrag" ist das erste betitelt. Es wird rauschend aufgeblendet, die geforderte Leidenschaft ist durchaus spürbar, es regiert fliessende Dynamik mit nachdrücklichem Akzent. "Ziemlich langsam" ist der folgende liedhafte Exkurs zu spielen. Der Pianist hat sich gut eingefühlt und präsentiert den Satz ohne Manierismen, poetisch und mit einem sensibel gestalteten Nachklang. "Kräftig und sehr markiert" steht über dem dritten Stück. Entschiedener Auftritt, der an der generellen Entschlossenheit keinen Zweifel lässt,aber in einer Seitenlinie gleichwohl lyrische Töne zu bieten hat. Daniel Schneidt gestaltet den Vortrag mehrdimensional und differenziert mit gutem Gespür.

Ihm schliesst sich Yuka Morishige an. Sie spielt zwei Sätze aus den "Moments musicaux" op. 16, komponiert 1896 von Sergej Rachmaninoff. Das erste ist "Andantino" überschrieben. Ein zart fliessender Beginn, dann ein bisweilen verträumter Aufbau einer romantischen Szenerie, in der die Töne nachdenklich verschweben, sich zu einer feinsinnigen Linie verbinden und in einem sensibel gestalteten Lauf aus der Höhe in die Tiefe stürzen. Wundervoll leichter, fliessender Anschlag. Ausführliche Läufe von kontinuierlicher Dichte. "Presto" lautet die Spielanweisung für das zweite Stück. Die linke Hand beginnt, die rechte setzt die thematischen Akzente. Entschieden und sicher platzierte Akkorde, überzeugende Präsenz, Nachdruck in der Gestaltung.

Es folgt SeongMin An . Der Pianist spielt zunächst Präludium und Fuge g-moll BWV 861 aus Teil 1 des "Wohltemperierten Klaviers", 1722 komponiert von Johann Sebastian Bach. Ein ganz leicht angesetztes Präludium, klar im Aufbau, ohne Härte im Anschlag. Das Fugenthema wird markant hingestellt, die Verschränkungen sind klar abgesetzt. Eine gute Übung.

Danach Frédéric Chopins Etüde Ges-Dur op. 10,5 aus dem Jahre 1830, auch "Schwarze Tasten-Etüde" genannt. Er spielt sie rasch. blitzend und quirlig. Bemerkenswert schöner Melodiefluss, federnd im Rhythmus, mit Charme und Eleganz, aber ohne äußerlich erkennbare Zeichen der Emotion.


JuAe Ha ist die nächste Kandidatin. Sie präsentiert Robert Schumanns "Humoreske" op. 20, eine  Folge von sechs Charakterstücken. Ins erste träumt sie sich hinein, schlicht und einfach. Dann gibt es eine sprunghafte Belebung, die sich weiter beschleunigt, ein verwirrend mitreissender Tanz in jubelndem Vortragsstil bei recht komplexer Struktur, dann geht's zurück zum Ausgangstempo. Eine Achterbahn der Stimmungen mit sanftem Ausklang. Nummer zwei klingt fliessend, aber nicht gehetzt. Die Entwicklung beginnt quasi im Miniaturformat, um dann mit Leidenschaft und in kraftvoller Technik weiter auszugreifen. Diese überaus farbenreiche Partie wird mit Hingabe gestaltet und führt dann zu einem verträumt ausklingenden Adagio. Einfach und zart ist Nummer drei, immer wieder verhaltend, mit Gespür und Ausdruck, ganz leise verklingend.

Das vierte Stück verbindet Innigkeit mit poetischer Intensität, hat wohlüberlegten Nachdruck. In Nummer 5 wird das Pompöse gut herausgearbeitet. Eine sehr lebhafte Szenerie von struktureller Dichte, in raschem Tempo skizziert, die komplizierte pianistische Technik wird mühelos beherrscht. Der Schlußteil Nummer sechs wird wieder im Erzählton eingeleitet, der Ausdruck hat Vorrang mit weiter Dimension des Gefühls. Das Schlußallegro wird mit großen Griffen gestaltet.


Nach der Pause setzt Hyojeong Lim das Programm mit der 1901 entstandenen Komposition "Pour le piano " von Claude Debussy fort. "Prélude" bringt eine farbkräftige Einleitung, grosse Akkorde mit virtuosem Nachklang, glänzend beherrscht, stimmungsvoll und duftig dargeboten, mit effektvollen Glissandi. Die "Sarabande" besteht aus sanfter, akkordfundierter Stimmungsmalerei mit raffinierten Tonalitätsfärbungen. Ganz behutsamer,genau disponierter Fingersatz. Der Zauber dieser Musik wird vorsichtig  heraufbeschworen und Schritt für Schritt enthüllt. Schließlich die "Toccata", ein perlender Lauf durch die Tonarten in flotten Sechzehnteln. Die Farben stehen lebhaft vor Augen, pure Lebensfreude in wohldosierten Quanten, technisch äusserst gewandt dargeboten, stilistisch sehr sicher.

Nala Baik spielt als nächste die Fantasie op. 28 aus dem Jahre 1901 von Alexander Skrjabin. Ein weitläufiges Terrain für die umherschweifende Fantasie wird umrissen. Die Pianistin begibt sich mit festen, wohlüberlegten Schritten auf dieses Terrain, das sich unter ihren Händen belebt und wechselnde Formen und Dimensionen annimmt. Bald fliessend und strömend, bald in strukturierten Blöcken folgen die Ereignisse einander, üppig und farbig ausgestaltet. Der pianistischen Technik sind unbegrenzte Horizonte geöffnet, die den Hörer abwechselnd anlocken und zum nächsten Landstrich weiterleiten. Mächtige Tontrauben dominieren.

Als letzte in der Reihe der Interpretinnen kommt nun Eunhee Baek auf die Bühne, eine grazile Persönlichkeit in langem schwarzen Abendkleid. Sie spielt zunächst die Variationen  über ein Thema von Schumann op. 9 aus dem Jahre 1854 vom damals 21jährigen Johannes Brahms, der die Komposition Clara Schumann widmete. Zart, bedachtsam und weitblickend wird das einleitende Thema skizziert. Kostbar, wohlbedacht und feinfühlig differenziert sind die Variationen. Sanft im Melancholischen, mit der notwendigen Prägnanz und manchmal auch mit blitzender Schärfe im Kontrast. Federnde Kraft und Dynamik, dann wieder Einzelschritte, denen die Pianistin nachlauscht. Einzelne Charakterfelder werden mit ausgeprägtem Sinn für die gegeneinander gesetzten Gestaltungselemente strukturiert und inszeniert. Eindrucksvolle Verwandlungskunst wird mit bereits reifem Können dargeboten.

Den Schluss des Abends bildet Sergej Prokofieffs Zweite Sonate op. 14 aus dem Jahre 1912. Das "Allegro ma non troppo" setzt mit kräftigen Akkorden ein, die zu ganz sanften Flügelschlägen überleiten. Fein gesetzte Sprünge, verspielte Jagden, ein Sich-Anschleichen und dann Explodieren. Zarteste Intonation und größter Kraftaufwand in unmittelbarer Nachbarschaft. Immer neue Proben pianistischer Eleganz und Geläufigkeit. Das folgende "Scherzo" bietet rhythmisch überaus markante Sprünge wie in einer tänzerischen Suite. Größte Präzision und mitreissende Gestaltung. Im "Andante" ist nahezu ein Trauermarsch zu hören, ein Kondukt von gezügelter Kraft. Er kommt näher, die Farbe wird greller, dann verschwimmt die Kontur wieder. Erneut zunehmende Deutlichkeit: man kann die Schritte zählen, dann entfernt sich der Zug wieder, ein paar helle Akkorde klingen von weitem herüber. Freie Bahn für das abschliessende "Vivace": Ein brausendes, quirliges Ensemble stürmt herein. Es wird marschiert, getanzt, synkopiert und akzentuiert. Die Fetzen fliegen, aber sie tun das mit größter Disziplin.Fesch, frech und umwerfend vital. Überschäumende Brillanz, in blendender Form dargeboten.


Begeisterter Applaus für einen in jeder Hinsicht vollendeten Klaviervortrag.

012616
Kleine Ensembles mit großer Wirkung
UdK-Klassenabend Artemis-Quartett
im Joseph-Joachim-Konzertsaal Berlin

Im Konzertprogramm der Berliner Universität der Künste haben die Auftritte der Klasse Artemis-Quartett besondere Attraktivität, weil hier hervorragende Ensembles zu hören sind, und entsprechend erwartungsvoll ist das Publikum im Joseph-Joachim-Konzertsaal an der Berliner Bundesallee gestimmt. Dozent und Pianist Frank Immo Zichner begrüßt die Gäste und gibt kurze Erläuterungen zum Programm.

Katharina Groß, Klavier, und Andreas Lipp, Klarinette betreten als erste die Bühne. Robert Schumanns Fantasiestücke für Klavier und Klarinette op. 73 aus dem Jahre 1849 stehen am Beginn. "Zart und mit Ausdruck" das erste Stück: Klavier und Klarinette erzählen in sanftem Fluss, die Zartheit des Ausdrucks kommt besonders in den schönen, vom Klavier unterstützten Aufschwüngen der Klarinette zur Ausprägung. "Lebhaft, leicht" klingt das zweite Stück, geprägt vor allem von der ausdrucksvollen Phrasierung der Klarinette und ihren Aufschwüngen zu heller und hoher Tonlage. "Rasch und mit Feuer" ist das dritte Stück zu spielen. Klavier und Klarinette ergänzen sich in einem bewegten, an lebhaften und rasch getakteten Aufschwüngen reichen Dialog.

Es folgen vier minimalistische, äußerst dezent formulierte Stücke op. 5 für Klarinette und Klavier aus dem Jahre 1913 von Alban Berg. Im Passus "Mäßig" erklimmt das Klavier die Höhen, die Klarinette bleibt mit fein gesetzten Tönen in der Tiefe. "Sehr langsam" gibt das Klavier mit sanften Akkorden das Tempo vor, die Klarinette philosophiert träumend auf eigener Route. Im Satz "Sehr rasch" eilt das Klavier in kleinen Sprüngen vorauf, die Klarinette folgt versonnen in höchster Lage. Dann ein knapp skizzierter Abgang, ein hingetupfter Klarinettenton zum Schluß. "Langsam" ist das vierte Stück betitelt. Akkorde des Klaviers geben der nachdenklich formulierenden Klarinette eIne tragende Basis, alles ganz zurückhaltend, dann jäh belebt, bis die Klarinette zu gänzlicher Ruhe zurückkehrt.

Von Johannes Brahms stammt die Sonate Nr. 2 für Klavier und Klarinette Es-Dur aus dem späten op.120/2, entstanden 1894. Im Satz "Allegro amabile" ergreift die Klarinette das Wort, vom fundierenden Klavier in grossen Akkordsprüngen unterstützt, gefolgt von einem gefälligen Dialog , von beiden einfühlsam geführt, bewegt in der Gestaltung, von der Klarinette lebhaft vorangetrieben. Darauf eine flanierende Passage, in der beide die Gestaltung der beschriebenen Landschaft besorgen. Der Satz endet in großer Harmonie. Ihm folgen "Allegro apassionato" und "Sostenuto". Das Klavier bewegt und in Akkordsprüngen vorwärtsdrängend, von der Klarinette in feiner Zeichnung umrahmt. Die Klarinette umschreibt die Formulierung des Klaviers und gibt ihr die melodische Kontur. Im selben Stil fahren beide fort und ergänzen einander sehr stimmungsvoll. "Andante con moto-Allegro-Più tranquillo" ist der dritte Satz bezeichnet. Unisono setzen beide ein, tragen dann die sangliche Melodie gemeinsam weiter, aufgesplittet in kunstvoll gegeneinander gesetzte Elemente. Dann wird eine Variation daraus, vom Klavier angeführt, von der Klarinette umspielt. Sanft gesetzte Klavierakkorde, mit wenigen genau platzierten Tönen von der Klarinette akzentuiert. Das eingestreute Allegro belebt die Szene, dann folgt ein schwungvoller Ausklang.

Gleichfalls von Johannes Brahms stammt das Trio für Horn, Violine und Klavier Es-Dur op. 40 aus dem Jahre 1865, aus dem Rakel Björt Helgadóttir (Horn), Solveig Steinthorsdóttir (Violine) und Uiin Cheon (Klavier) die ersten beiden Sätze spielen. "Andante-poco più animato" setzt die Violine in tiefem Bratschenklang ein, Horn und Klavier assistieren, bis alle drei in einen schönen melodischen Fluss münden. Die Violine stellt die Fragen, Horn und Klavier beantworten sie, dann wird die Gangart etwas kraftvoller. Die Violine kann sich klar und vernehmlich ausdrücken, Horn und Klavier liefern aparte, reizvolle Dekorationen und Umschreibungen, die mit Leidenschaft und sinnlicher Tongebung vorgetragen werden. Im "Scherzo, Allegro-Molto meno Allegro" ist das Klavier einmal der Vorreiter, die beiden anderen folgen in großer Spiellaune und mit heiterer Präzision. An der Kantilene der Violine orientieren sich Klavier und Horn. Auch dies ergibt wieder einen herrlich harmonisch voranstürmenden Brahms-Klang, den das Klavier anführt, vom Horn raffiniert pointiert.

Nach der Pause spielen Daria Tudor (Klavier) und Mao Konishi (Violine) Ludwig van Beethovens berühmte Sonate für Klavier und Violine A-Dur op. 47 aus dem Jahre 1802, dem französischen Geiger Rodolphe Kreutzer gewidmet und nach ihm "Kreutzer-Sonate" benannt. Das "Adagio sostenuto- Presto" hat ein Entrée mit Doppeltönen der Violine, dann im Wechsel mit dem Klavier, sehr verhalten. Dann das fein abgestimmte Presto, die Violine prescht vor, das Klavier folgt mit leichtem Anschlag, weiter sehr pointiert, vom Violinton überfangen, beide rhythmisch sehr gut abgestimmt. Leidenschaftlicher Melodiefluss, gelegentlich noch etwas harte statt federnder Intonation. Mitreissend und markant, rasanter Ausklang. Darauf "Andante con Variazioni": Das Klavier gibt Thema und Tempo vor. Die Violine nimmt beides auf und führt es nach erneuter Intervention des Klaviers fort. Sehr feinfühlig gezeichnet. Dann die leicht hingeworfene Klaviervariation, die von der Violine mit hohen Tönen interpunktiert wird. Zusammenspiel jetzt verfeinert und gut akzentuiert. Tückisches in hoher Violintonlage, ein toller Schrittwechsel inbegriffen. Dann ein sanfter Mollton, Dialog, dann abermals perlender Klavierauftritt mit Pizzikati der Violine, ein Frage- und Antwortspiel zwischen beiden Instrumenten. Besonders die Schlussformulierungen jeder Variation gelingen sehr exakt. In bestem Einklang zum Satzende.

Schließlich das "Finale.Presto": Das Klavier eröffnet den Lauf, dann preschen beide in geschlossener Formation mit Verve und Noblesse durch diesen herrlich dynamischen Satz, dessen Verlauf trotzdem immer wieder reizvolle Ruhepunkte bietet. Das überaus einprägsame Hauptthema des Satzes bleibt lange im Ohr.

Ausführlicher, begeisterter Beifall für einen vollendeten Vortrag zum Schluss dieses Konzertabends.

012516
Fashion Week in Judäa
Premiere "Salome" von Richard Strauss
in der Deutschen Oper Berlin

Dass Skandale ein Kunstwerk häufig keineswegs zerstören, sondern seinen Weg in eine breitere Öffentlichkeit eher befördern, ist an wenigen Werken so deutlich zu verfolgen wie an Richard Strauss' "Salome". Oscar Wilde hatte die literarische Vorlage 1891 in französischer Sprache verfaßt, die 1896 in Paris mit Sarah Bernhardt in der Titelrolle uraufgeführt worden war. Strauss war 1901 durch den Wiener Dichter Anton Lindner dazu angeregt worden, aus dem Bühnenstück ein Opernlibretto zu gestalten. Dafür zog der Komponist die deutsche Übersetzung von Hedwig Lachmann heran, nahm einige Kürzungen und Umstellungen vor, stützte sich aber weitgehend auf den Wortlaut von Wildes Theaterfassung. Das Werk wurde 1905 an der Dresdener Hofoper uraufgeführt. Gustav Mahler hatte die Oper eigentlich zeitgleich an der Wiener Staatsoper herausbringen wollen, was aber von der Zensur wegen "die Sittlichkeit beleidigender" Handlung abgelehnt wurde. Lasziv, zügellos und morbide sei nach zeitgenössischem Urteil insbesondere die Rolle der Salome,Tochter der Herodias, deren Verlangen nach sexueller Annäherung an Johannes den Täufer mit dessen Enthauptung endet. Salome lässt sich das Haupt des Predigers auf einer Silberschüssel präsentieren und küsst es auf die Lippen. Herodes befiehlt, sie zu töten.

Die Neuinszenierung von Claus Guth mit dem Bühnenbild von Muriel Gerstner an der Deutschen Oper Berlin verzichtet gänzlich auf morgenländische Repliken, auf mildes Klima und Mondschein. Stattdessen spielen die ersten Szenen im Halbrund eines Innenhofes, der sich zur Not noch als Teil eines dahinter befindlichen Palastes deuten läßt. Mit dem Auftritt des Herrscherpaares Herodes und Herodias verwandelt sich die Szenerie dann allerdings durch das Aufziehen verschiedener Vorhänge in den Verkaufsraum eines Maßateliers für Herrenmode, in dem aufgereihte Sakkos und Krawatten das Bild bestimmen. Die Regie folgt vor allem der zeittypischen Maßgabe, dass auf der Bühne permanent etwas zu geschehen habe, um die Aufmerksamkeit des Publikums zu fesseln. Das Quintett der streitenden Juden, die beiden Nazarener und die zwei Soldaten werden zu Angestellten des Modehauses. Jochanaan der Täufer muss nicht als Gefangener in einer Zisterne ausharren, sondern darf gleichfalls in modischer Herrenkleidung am szenischen Geschehen teilnehmen. Auch die im Text verankerte Silberschüssel als Präsentationsobjekt für das abgeschlagene Haupt des Jochanaan ist gestrichen. Stattdessen zieht Salome einer Kleiderpuppe den Kopf ab und führt mit ihm den fatalen Dialog über die Bitternis der Liebe. Aus dem "Tanz der sieben Schleier" wird der optisch durchaus reizvolle Auftritt von sechs Mädchen, die Salome im Kindes- und Jugendalter symbolisieren. Wenn der Reiz dieses Effekts verflogen ist, zerflattert die  Darstellung allerdings ohne zwingenden Kulminationspunkt. Die handelnden Personen verfallen abwechselnd in eine roboterhafte Starre, die sie wohl als fremdbestimmte Marionetten charakterisieren soll. Am Schluss schreitet Salome erhobenen Hauptes davon, der Tötungsbefehl des Herodes verhallt unbeachtet.

So rätselhaft und gewollt vieles an dieser Inszenierung bleibt, so offenkundig gelungen und mit Sorgfalt ausgeführt ist die musikalische Gestalt des revolutionären Strauss-Einakters. Allen voran die Titelheldin Salome, die in der Darstellung von Catherine Naglestad sowohl figürlich wie mit ihrem anfangs leichten, aber später metallisch kraftvollen Sopran die psychologischen Charakterbrüche der Prinzessin von Judäa glaubwürdig interpretiert. Jeanne-Michèle Charbonnet gibt der herrischen Frauenrolle der Herodias die nötige Kontur. Burkhard Ulrich als Tetrarch Herodes ist mit flexibler Stimme und hervorragender Textverständlichkeit eine ideale Verkörperung seines Parts. Am Pult des aufmerksamen, fein differenzierenden Orchesters der Deutschen Oper leitet Alain Antinoglu die Aufführung souverän und mit ausgeprägtem Sinn für die Reize der Strauss-Partitur.

Das Publikum dankt den Solisten und dem Orchester mit ausdauerndem Beifall, der sich erst beim Auftreten des Regieteams radikal ins Gegenteil verkehrt. Das Konzert der Buh-Rufe bildet einen herben Kontrast zum musikalischen Wohllaut dieser Premiere.






011416
Ehrenrettung einer Schlampe
"Helena" mit Georgette Dee
im Renaissance-Theater Berlin

Sie ist eine der mythischen Gestalten der Weltgeschichte: Helena, die Tochter des Göttervaters Zeus, der sich ihrer Mutter Leda in Gestalt eines Schwans genähert hatte. Paris, der Sohn von Priamos und Hekabe, erklärt Aphrodite für schöner als ihre göttlichen Schwestern Hera und Athene, und Aphrodite verspricht ihm dafür die schönste Frau der Welt, eben jene Helena, die er von Sparta nach Troja entführt. Deren bisheriger Gatte Menelaos von Sparta reist ihr nach und fordert seine Frau zurück. Darüber entbrennt der trojanische Krieg, der auf beiden Seiten fürchterliche Opfer fordert. Schliesslich nimmt Menelaos die vielfach Umworbene wieder zurück nach Sparta. Diese Schönheit ohnegleichen mit ihrem etwas lädierten Ruf hat seit der Antike viele große Schriftsteller wie Shakespeare und Goethe zu eigenen Exkursen über ihre schillernde Persönlichkeit angeregt. Der spanische Autor Miguel de Arco hat nun für die Schauspielerin Carmen Machi einen Helena-Monolog geschrieben, den Miriam Smolka ins Deutsche übersetzt hat. In der Aufführung des Berliner Renaissance-Theaters spielt Georgette Dee, als "Deutschlands größte lebende Diseuse" gerühmt, in der Inszenierung von Elias Perrig das Idol aus der Antike, das sein Leben resümiert und dabei unberechtigte Vorurteile zurechtrückt.

Georgette Dee fügt der Aura der antiken Diva, Sexsymbol und Superstar, die Dimension der androgynen Travestie hinzu. Helena ist in die Jahre gekommen, greift gern zur Flasche und läßt die Gestalten und Ereignisse ihres Lebens reflektierend an sich vorüberziehen. Sie ist inzwischen weisshaarig und tritt in einem langwallenden schwarzen Gewand vors Publikum, kombiniert mit einem rotschimmernden Seidenschal. Ihre Sprache ist der Slang unserer Tage, gewürzt mit respektlosen Randbemerkungen und erfrischenden Frotzeleien über Männerklischees und Frauenbilder. Sie führt Schmähreden gegen ihren Göttervater Zeus, die mehrfach von dröhnendem Donner aus der Höhe konterkariert werden. Sie dekoriert ihre Position mit suggestivem Tanz und mehreren Chansons, die eine Nähe zu "Non, je ne regrette rien" spüren lassen. Da geht es nicht nur um erotische Ambivalenzen, sondern auch um blutiges Schlachtgetümmel zur Musik von Wagners "Walkürenritt", und schließlich wird die Frage zum Hauptproblem, wie man die entfesselte Kriegsmaschinerie wieder zum Stillstand bringen kann. 

In der Darstellung von Georgette Dee hat Helenas Selbstverteidigung nichts Reißerisches oder gar Obszönes. Stattdessen gewinnt diese Gestalt Glaubwürdigkeit und weckt sogar Mitgefühl und Sympathie. Nicht die Frauen bestimmen den Gang der Weltgeschichte, sondern die unheilige Allianz der Götter mit den Männern. Die Männer zetteln mit ihrer Kampfeslust und Brutalität allen Streit an, und die Frauen sind lediglich die Opfer, die letztlich machtlosen Zuschauer. Was den Frauen am Ende bleibt, ist allenfalls ein schlechter Ruf. Da hilft kein Flehen und kein Gebet. Helena muss sich damit zufriedengeben, diesen antiken Weltkrieg ausgelöst zu haben, und sie erntet nur den Racheschrei "Tötet die Hure, die all dies verschuldet hat". Dabei wollte sie doch nur Frieden und Ruhe, um endlich mal wieder ungefährdet "zum Griechen gehen" zu können. Aber die Klage wird nicht uferlos, der sarkastische Kommentar liegt immer gleich daneben. Dementsprechend kehrt gegen Ende Erschöpfung ein, die Flaschen sind alle geleert, ein Gutenachtlied und Madrigalmusik signalisieren das Finale. Helena trollt sich auf die Seitenbühne mit dem Gefühl, sich heute vielleicht doch ein bißchen viel zugemutet zu haben.

Das Publikum, dem schon die zahlreichen Pointen des Textes hörbares Vergnügen bereitet haben, spendet der auferstandenen Superfrau begeisterten Applaus, in den sich sogar einige Bravorufe mischen.


010916
Pianistische Elite
Vortragsabend der Klavierklasse UdK-Prof. Markus Groh
im Joseph-Joachim-Konzertsaal Berlin

Unter den Vortragsabenden der Klavierklassen für künstlerische Ausbildung an der Berliner Universität der Künste ist das Auftreten der Klavierklasse von UdK-Prof. Markus Groh ohne jeden Zweifel nach Programm und Anspruch das ehrgeizigste Vorhaben. Eine Präsentation von dreieinhalb Stunden mit zwei Pausen, gespickt mit einigen der schwierigsten Stücke der Klavierliteratur, fordert nicht nur die jungen Künstlerinnen und Künstler aufs Äußerste heraus, sondern verlangt auch der Aufnahmefähigkeit des Publikums einiges ab. Untadelig und von höchstem Niveau war allerdings das, was geboten wurde.

Hongmei Kong eröffnet den Abend mit Johann Sebastian Bachs Partita Nr. 1 B-Dur BWV 825 aus dem Jahre 1725. Das "Präludium" als leicht gesetztes Vorspiel mit Verzierungen. Die "Allemande" flüssig und gut akzentuiert, rhythmisch stabil und federnd mit reizvollen dynamischen Schattierungen. Die "Corrente" ist ein flüssiger Lauf mit präzise platzierter Intonation, das tänzerische Element wird lebhaft wiedergegeben. Die "Sarabande" hat die gebotene Ruhe und klug gesetzte dekorative Elemente. Die beiden "Menuet"-Sätze absolut stilsicher mit zuverlässiger Kontinuität. Die "Gigue" setzt dem Vortrag mit spielerischer Gewandtheit die Spitze auf, frappierend exakt und mit wohlüberlegten Akzenten.

Danach spielt als Gast der 2001 geborene jugendliche Pianist Ron Maxim Huang, der an der Hochschule für Musik "Hanns Eisler" bei Prof. Thomas Just studiert, Ludwig van Beethovens Sonate Pathétique c-Moll Nr. 8 op.13 aus dem Jahre 1798/99. Der Eingangssatz "Grave" entschieden, aber nicht zu schwer. Nach den gewichtigen Akkorden dann "Allegro di molto e con brio", zügiges Tempo, präzise Läufe, gut und richtig disponierte Akzente, die Kontraste lebhaft herausgearbeitet. Das "Adagio cantabile" hat ruhige Sanglichkeit, ist bedächtig und umsichtig in der Gewichtung, mit insgesamt kluger Disposition. Das abschließende "Allegro" wirkt wie befreit, mit voranstürmendem Elan. Bei sehr flottem Tempo ist das Spiel dennoch in den diffizilen Läufen sauber und transparent. Eine erstaunlich reife Leistung.

Eine zweite Beethoven-Komposition schliesst sich an. Yaya Zhao spielt die Sonate A-Dur Nr. 28 op. 101. Der Komponist verwendet hier italienische und deutsche Satzbezeichnungen parallel. "Etwas lebhaft und mit der innigsten Empfindung" soll der erste Satz klingen, und dies kommt überzeugend zum Ausdruck. Eine fast romantisch zu nennende Aura, zutreffend gefühlt und wiedergegeben. "Lebhaft, marschmäßig" ist die Anweisung für den zweiten Satz. Markant im Auftritt, dabei stets mit vielfarbiger Differenzierung und mehrdimensional in der Darstellung absolviert die Pianistin diesen Teil. Im nächsten Satz "Langsam und sehnsuchtsvoll" gelingt das Nachsinnende überzeugend, und auch die Sehnsucht kommt zu ihrem Recht. Ausserdem ist die klug verteilte Spannung hilfreich. "Geschwinde, doch nicht zu sehr und mit Entschlossenheit" lautet die Spielregel für den Finalsatz. Mit sehr gewandt eingesetzter Technik wird eine lebhaft gestaltete Szene entwickelt, die mit ihren Akzenten, Wiederholungen und Pointierungen den Zuhörer fesselt. Die quasi fugierten Passagen sind sehr sauber ausgearbeitet, der vorwärtsdrängende Impetus wird zu keiner Zeit unterbrochen. Das alles erfolgt mit spielerischer Leichtigkeit, sehr ausgereift in der pianistischen Gestaltung.

Nach der ersten Pause ist Yoonji Kim mit einer Klavierstudie von Johannes Brahms vermutlich aus dem Jahre 1877 an der Reihe, die sich auf eine Komposition von Johann Sebastian Bach stützt: die Chaconne d-moll für die linke Hand, die Studie Nr. 5 nach BWV 1004. Dies ist ein Exercitium des besonderen Art: die linke Hand spielt solistisch, aber dank raffinierter Satztechnik mit einer gestalterischen Vielfalt, als ob beide Hände beteiligt wären. Die kluge Differenzierung in der Anschlagstechnik und in der Verfolgung der fugierten thematischen Entwicklung  suggeriert die ungeschmälerte Breite des Pianoklangs. Mal dramatisch zugespitzt, ein andermal verträumt fliessend, mit Trillern und virtuoser Verzierung - man traut dem Auge kaum, einen derart farbigen Vortrag nur von einer Hand ausgeführt zu sehen, während die andere auf dem Klavierschemel neben der Pianistin ruht.
 
Hongmei Kong spielt die Fantasie f-moll op. 49 aus dem Jahre 1841 von Frédéric Chopin. Behutsam der Beginn, dann ein bedächtiger Anstieg zum ersten thematischen Gipfel, der eher ein Hochplateau ist, das gemächlich abgeschritten wird. Dann eine rauschende Talfahrt mit immer wieder eingebauten retardierenden Momenten, bis sich die pianistische Energie dann einen Weg bahnt, dessen brillante Strahlkraft fasziniert. Ein mitreissender Lauf in gezügelter Weise, dann kommen Zug um Zug alle Chopinschen Gestaltungselemente zum Einsatz. Mit Feingefühl und der erforderlichen Virtuosität , mit exzessiver Dynamik wie auch mit verträumter, schlafwandlerischer Introvertiertheit. Dann ist der rauschende Erzählfluss an der Reihe, ein Geschwindmarsch der auditiven Seligkeit. Dessen Energie wird ganz zurückgenommen für den Schluss mit ein paar Akkorden.

Haruka Izawa schliesst sich an, zunächst mit Chopins Étude op. 10 Nr. 8 F-Dur von 1832. Ein perlender, rauschender Fluss, absolut unterbrechungsfrei und mit faszinierender Leichtigkeit vorgeführt. Die organische Einheit dieses Stroms fesselt.

Von Franz Liszt stammt die Étude Nr. 10 f-moll aus den "Études d'exécution transcendante" von 1851. Nun kommt eine kantige Kraft hinzu, die dem leidenschaftlichen Klangfluss zusätzliche Eindruckstiefe gibt. Alle erforderlichen Gestaltungsmittel liegen hier bereit und werden ebenso entschlossen wie feinfühlig eingesetzt. Technische Fragen sind komplett eliminiert. Phänomenal.

Nun noch "l'Isle joyeuse" aus dem Jahre 1903 von Claude Debussy. Sonne, Hitze , grelles Licht, aber auch eine thriumphale Lebensbejahung mit den unvergleichlichen Ausdrucksmitteln des musikalischen Impressionismus. Wie die Pianistin in den melodischen Fluss kleine Inseln besonderen Glanzes einzufügen versteht, zeigt eine überlegene Gestaltungsgabe. Bewundernswerte Sprünge der linken Hand über die rechte, ein Tanz der Akkorde von blendender Kraft mit geradezu schelmischem Schluss.

Nach der zweiten Pause spielt Shiyun Lee die Études Symphoniques op. 13 in der Urfassung aus dem Jahre 1837 von Robert Schumann. Zunächst wird das Thema vorgestellt, mit klarer Expression. Dann geht's hinein in die Variationen. Mit Fantasie und differenzierender Gestaltung, die Themenführung klar herausgearbeitet. Entschiedene und eher lyrische Passagen lösen einander ab, alles wird mit großer pianistischer Genauigkeit vorgestellt. Grazie und kraftvolle Akzente stehen sich gegenüber. Die abwechslungsreiche Themengestaltung gibt Gelegenheit, alle spieltechnischen Varianten einzuführen. Die dramaturgische Hauptaufgabe, diesen Variationenzyklus an keiner Stelle auseinanderklaffen oder die Spannung einbüssen zu lassen, wird überzeugend gelöst. Bestes Schumann-Feeling ist hier selbstredend in jeder Phase präsent.

Noch einmal Yoonji Kim zum Schluß, zunächst mit zwei "Liedern ohne Worte" von Felix Mendelssohn Bartholdy, aus dem Jahre 1845, fis-Moll op. 67 Nr. 2 und "Duetto" As-Dur op. 38, Nr. 6. Nun kommt auch die rechte Hand der Pianistin zum Zuge, und sofort entsteht eine harmonische Märchenwelt vor den Augen und Ohren der Zuhörer. Dichte Atmosphäre,  poetische Grundstimmung und ein Anflug von Elfentanz. Das zweite Stück ist eine wunderbar romantische Erzählung, die mit einfühlender Fantasie vorgetragen wird.

Zu später Stunde dann noch ein anspruchsvoller Liszt-Exkurs, die Fantasia quasi Sonata "Après une lecture de Dante", auch "Dante-Sonate" genannt. Entfesselte Fantasie im Einklang mit virtuoser pianistischer Technik, hier makellos verknüpft, opulent übereinander getürmt zu einer bewundernswerten Symbiose von dichterischer Imagination und kompositorischem Überschwang. Wie die Pianistin hier mit feinstem Instrumentarium gegensätzliche Spannungsräume zwischen fiebriger Hitze und totaler Erschöpfung zu schaffen und zu gestalten weiss, verdient Bewunderung und höchste Anerkennung.

Nochmals frenetischer Jubel beim verbliebenen Publikum am Ende eines in jeder Hinsicht herausfordernden Klavierabends.

010816
Unterm Himmelslicht
Domkantor Jörg Bräunig an der
Eule-Orgel der Französischen Friedrichstadtkirche Berlin

Er kommt aus der Porzellanstadt Meißen, wo er seit 2009 als Kantor und Organist am dortigen Dom tätig ist: Jörg Bräunig, 1969 in Olbernhau im Erzgebirge geboren, war der Gast von KMD Kilian Nauhaus beim ersten Orgelkonzert des Jahres, das dort üblicherweise an jedem ersten Donnerstag im Monat stattfindet. Der Gast widmet sich mit Vorliebe der historischen Aufführungspraxis für Musik des 17. und 18. Jahrhunderts. Er arbeitet als Dirigent und Continuo-Spieler mit darauf spezialisierten Ensembles zusammen und absolviert überdies Konzertreisen in Deutschland, Polen und den Niederlanden.

Jörg Bräunig beginnt sein weit gefächertes Programm mit Johann Sebastian Bachs "Fantasia" in G BWV 542, lange nach seinem Ableben 1867 von der Bach-Gesellschaft erstmals veröffentlicht. In großen, breiten Akkordschritten hebt die Komposition an, gleitet dann über ein Bassfundament zu zarterer Intonation. Es folgt eine Reihe von farbigen Aufblendungen. Die Orgel klingt abwechselnd kraftvoll und behutsam, hat aber auch bei diesem Gastorganisten wieder einen ganz individuellen Habitus. Breitere Akkorde in wechselnder Abtönung, der Rhythmus eher verfliessend. Triller als Akzent, dann ein lange ausgehaltener Schlussakkord.

Der Choral "Gelobet seist du, Jesu Christ" von Friedrich Wilhelm Zachow schliesst sich an, der von 1663 bis 1712 lebte. Zurückhaltend registriert, wird der Choral in seinen Markierungen abgesteckt, übersichtlich und gut zu verfolgen, betont bescheiden im Auftreten.

Es folgt das "Piece d'orgue" von Johann Sebastian Bach, die Fantasia in G BWV 572, vermutlich 1712 in Weimar komponiert. Mit "Très vitement" beginn das am französischen Orgelstil orientierte Musikstück, das mit "Grave" und "Lentement" fortgeführt wird. Eine kleinteilig perlende Tonfolge in bezaubernd leichter, virtuoser Spielweise am Beginn, die dann zu den weit gefassten Akkordschritten des "Grave" führt. Gravitätisch und mit ausladender Präsenz, in leuchtender Farbe und wieder mit eher verschwimmender rhythmischer Struktur, die einen breit fliessenden Klangstrom bewirkt.Insgesamt ein Klangbild, das auch größere Räume als diese Kirche mühelos füllen würde, durchwirkt mit mächtigen Baß-Strängen. Dann ein Innehalten, danach die Fortsetzung mit brausend quirlenden Akkordimpulsen samt kräftiger Baßfundierung.

Das "Concerto in G" von einem anonymen Komponisten aus dem 18. Jahrhundert schliesst sich an. Eine gefällig registrierte Tanzweise, die sich hübsch drapiert. Ein vergleichsweise leicht klingendes Intermezzo, dem sich allmählich auch kräftigere Basstöne hinzugesellen, mit langem Schlussakkord. Hell und noch leichter angesetzt als der vorangegangene Satz ist das "Adagio", spielerisch in den Verzierungen, behutsam in der Bewegung. Schließlich das "Allegro": breit und fröhlich, eine absteigende und wieder aufwärts geneigte Melodie in sehr akkurat ausgeführter Figuration.

Von Johann Carl Friedrich Rellstab, vermutlich aus dem Jahre 1790, stammt die anschliessend vorgestellte "Sonata per l'organo in D ". Das "Allegro" im Stil eines Flötenensembles, mit aufblitzender Intonation, sehr gewandte Drehungen und Wendungen, anmutig und apart. Der Klang erinnert an eine Spieluhr. Das folgende "Andantino" ist feinsinnig registriert und zart angesetzt, wie ein Kinderlied zur guten Nacht. Die Atmosphäre ist durchgehend gewahrt, der klangliche Zauber fesselt eins ums andere Mal. Das abschliessende "Allegro" nun etwas vollmundiger, mit fesselnd abgetönter Artikulation, individuell im Ausdruck, durchaus prächtig im Erscheinungsbild, ohne aufdringlich zu werden. Eine überzeugende Zusammenfassung mit fein ziselierten Einfügungen.

Es folgt ein "Andante" aus dem Jahre 1823 von Felix Mendelssohn Bartholdy. Sanft tritt die Melodie herein, hat einen beinahe französisch gefärbten, andächtigen Ton, schreitet verträumt voran und wahrt dabei sowohl die Stimmung wie den Charakter des Ausdrucks.

Der französische Komponist und Organist César Franck schrieb den Zyklus "L'Organiste" kurz vor seinem Lebensende im Jahre 1890. "Quasi allegro" liefert ein breites Entrée mit brodelndem Unterton und lebhaften Akkordsprüngen Die Orgel führt dies alles sehr überzeugend aus. "Très lent" ist ein einfaches Liedchen , zunächst expliziert, dann resümierend referiert. "Quasi andante" bringt eine Melodie in hellerer Tonlage über Baßschritten, stimmungsvoll und farbig, reizvoll instrumentiert. Das folgende "Andantino" hat den Stil eines alten Weihnachtsliedes: andächtig schreitend, mal sanft abgetönt, dann wieder hell aufgeblendet, mit kleinen exakten Sprüngen. "Maestoso" und "Moderato (Amen)" sind ein Thriumphgesang mit majestätischem Auftreten und am Ende leiserer, aber fester Bekräftigung.

Die Komposition "Himmelslicht" vom Organisten selbst ist von den wechselnden Lichteindrücken im Meissener Dom inspiriert. Über einem sehr tiefen Basston setzt eine Tonfolge ein, die sich wie verschiedenfarbiges Licht von differenzierter Helligkeit darbietet. Eine ganze Erzählung in lebhafter Klanggestalt schließt sich an, bisweilen auch an Vogelstimmen erinnernd. Die Orgel hat nun wieder ein gänzlich anderes Ausdrucksspektrum, das wirkliche Bewunderung verdient. Ein fesselndes, überaus fantasievolles Werk, das am Schluss wieder zu seiner Ausgangsstimmung zurückkehrt. Nach der Deutung des Komponisten symbolisiert dieser tiefe Pedalton C die Gegenwart Gottes als Anfang und Ende der Schöpfung.

Ein prächtiger Choralsatz nach Joseph Haydn beendet das Konzert. "Die Himmel erzählen die Ehre Gottes" aus Haydns Oratorium "Die Schöpfung" von 1798 klingt vollmundig und glanzvoll, in mehrstimmigem Satz und in großzügiger Registrierung. Die Orgel klingt nun wieder betont repräsentativ, mit lange ausgehaltenem Schlußakkord.

Lebhafter, anhaltender Beifall im witterungsbedingt etwas knapper besetzten Kirchenrund.

010116
Finaler Sound
Concerto Brandenburg unter Christian-Friedrich Dallmann
in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche Berlin

Der Silvestertag zeigt alljährlich ein Doppelgesicht: er ist dem alten und dem neuen Jahr zugewandt, er ist Realität und zugleich Illusion, denn die Zeit geht unbeirrt ihren Weg über ihn hinweg, ohne Rücksicht auf so etwas wie einen Jahreswechsel. Die Menschen feiern, sowohl aus Dankbarkeit für den hierzulande glimpflichen Ablauf des vergangenen Jahres wie in stets erneuerter Hoffnung auf günstige Ereignisse im neuen. So verschieden wie die Temperamente sind die Rituale, diesen Tag zu begehen. Wir haben aus der Lotterie der möglichen Vergnügungen diesmal die Karten für ein Festkonzert gezogen, das vom Ensemble Concerto Brandenburg auf historischen Instrumenten in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche gegeben wurde.

Am Anfang steht Ludwig van Beethovens Ouvertüre von 1814 zu seiner Oper "Fidelio", die "eigentliche" Ouvertüre, die Aufführungen dieser Oper bis heute einleitet. Das Orchester "Concerto Brandenburg" setzt entschlossen ein, Holz- und Blechbläser sind gut vernehmbar, die Streicher dagegen recht zart, dafür die Pauke dominant, woraus sich ein zwar etwas inhomogenes, aber insgesamt sehr frisches und jugendliches Klangbild ergibt. Der Kirchenraum hat erfreulicherweise einen geringen Nachhall, und die Hörner im Ensemble intonieren sehr sicher und fehlerfrei. Der Schlußlauf hat lebhaftes Tempo, gekonnt und sauber.

Danach Franz Schuberts 7. Sinfonie in h-moll , wegen ihrer Zweisätzigkeit die"Unvollendete" genannt, erst 37 Jahre nach Schuberts Tod aufgefunden und 1865 erstmals aufgeführt. Den ersten Satz "Allegro moderato" leiten Celli und Bässe ein, eine dunkel getönte Ouvertüre, die sich aber rasch belebt. Jetzt klingen die Streicher berückend fein. Der spezifisch frische Klang der historischen Instrumente ist besonders gut zu verfolgen. Das vertraute Leitthema wird wiederholt durch harte Interruptionen ausgebremst. Schöne Interludien der Bässe und Celli, die folgende Steigerung  erfasst alle Instrumentengruppen in überzeugender Einhelligkeit. Dann die Wiederholung des Eingangsthemas , nach dem Innehalten der dreifache Trompetenruf und ein Ausklang in zarter, warmer Klangfülle mit drei Schlussakzenten. Beifall nach dem ersten Satz.

Sanft und melodisch der Bläsereinsatz zum zweiten Satz "Andante con moto", dem die Streicher in sanglichem Ton folgen. Dann ein gemeinsames Voranschreiten, gut abgestimmt und in bestem Einklang. Ein Klarinettensolo, dann wieder Tutti. Christian-Friedrich Dallmanns Zeichengebung ist ruhig und plausibel, ohne übertriebene Gestik, mit suggestiver Hervorhebung fliessender Verläufe. Die Pauke meldet sich bisweilen gar zu markant zu Wort. Ein sensibel intoniertes Seitenthema mit Solopassagen einzelner Holzbläser, dann klingt das Werk mit Dialogen von Bläsern und Streichern aus.

Nun folgt als Höhepunkt des Konzerts eine ausgesprochene Rarität: Robert Schumanns Konzertstück für vier Hörner und Orchester F-Dur op. 86, 1850 im Leipziger Gewandhaus uraufgeführt. Die vorangestellte Erläuterung des Dirigenten ist infolge der Raumakustik leider nur zum geringeren Teil vernehmbar. Vier hervorragende junge Solisten bilden das Hornquartett: Maciej Baranowski, Anton Richter, Sulamith Seidenberg und Adrienne Nagy erreichen mit ihrem Part aus dem Stand eine selten zu erlebende Geschlossenheit. Den ersten Satz "Lebhaft" beginnen alle vier mit festem Einsatz über dem gutgelaunt intonierenden Orchester. Das überaus harmonisch agierende Hornquartett aus zwei Damen und zwei Herren, in Tempo und Klangfarbe bestens übereinstimmend, auch bei schwierig übereinander getürmten Passagen. UdK-Hornprofessor Dallmann beschränkt sich mit seinen wohldimensionierten Direktiven auf die Orchesterleitung. Das Hornquartett muss seinen Auftritt vollkommen selbständig gestalten und bewältigt diese Aufgabe überzeugend. . Der zweite Satz "Romanze" beginnt gemächlich, die Hörner lassen an den Waldspaziergang einer Jagdgesellschaft denken. Das gemächliche Schrittempo wird sorgsam und klangschön ausgefüllt.

Dann ruft ein Trompetensignal zum schwungvollen dritten Satz "Sehr lebhaft". Hörner und Orchester sind in so exakter Übereinstimmung , dass eine Flöte noch blitzende Lichter obenauf setzen kann. Ein bravouröser Schlußlauf mündet in reichen, begeisterten Applaus. Das Solistenquartett wird mit Blumensträußen belohnt, die während der Applauspromenade am einfachsten im Schallbecher des Instruments unterzubringen sind. Als Zugabe gibt's den dritten Schumann-Satz ein weiteres Mal  - ein idealer Jahresausklang und ein federndes Sprungbrett ins Neue Jahr.

122015
Zwei plus Zwei gleich mehr als Vier
Mi-Joo Lee und Klaus Hellwig
am Flügel im Joseph-Joachim-Konzertsaal Berlin

Bis auf den letzten Platz ist der Konzertsaal an der Bundesallee in Berlin gefüllt, wenn sich die beiden UdK-Klavierprofessoren Mi-Joo Lee und Klaus Hellwig an den Steinway-Flügel setzen, um vierhändige Klaviermusik zu spielen. Ankündigung und Mundpropaganda bewirken zusammen mit der Erinnerung an frühere derartige Auftritte, dass von diesem Konzertduo etwas Außerordentliches erwartet wird. Schon der Zettel mit den Programmnotizen ist in seiner klaren, schnörkellosen Sprache ein bemerkenswertes kleines Dokument, das wirklich dem Verständnis der aufgeführten Musik dient.

Im ersten Teil des Programms sitzt Mi-Joo Lee links vor dem Flügel, also im Bereich der tieferen Töne, während Klaus Hellwig rechts neben ihr Platz nimmt. Beide beginnen mit dem "Orgelstück für eine Uhr" KV 608 aus dem Jahre 1790/91 von Wolfgang Amadeus Mozart. Auf zauberhafte Weise hat dieses Werk tatsächlich etwas Mechanisches im Klang, worauf die beiden Pianisten beim Spiel Bezug nehmen. Da es sich nicht um ein originär für vierhändigen Vortrag komponiertes Stück handelt, sondern sozusagen zweimal zwei getrennte Parts ineinander verschränkt sind, erfordert das Spiel besonderes Empfinden und Geschick. Das gelingt hier ausnehmend glücklich, hat Charme und Charakter, wobei die besondere Farbe des pseudo-Mechanischen immer auf reizvolle Weise spürbar bleibt. Besonders zu rühmen ist die transparente Polyphonie in ihrer scheinbar mühelosen Selbstverständlichkeit.

Es folgt Mozarts Sonate C-Dur KV 521, vermutlich aus dem Jahre 1787. Ein überaus leichtfüssiges "Allegro" zu Beginn, das durch die vierhändige Darbietung eine wunderbare Farbkraft und Vitalität erhält. Die Akzentuierung ist zwischen beiden Spielern so einhellig abgestimmt, dass der Klang immer aus einer Hand zu stammen scheint. Der Eindruck einer Meisterschaft auf höchstem Niveau stellt sich ganz von selbst ein. Derartige unisono-Läufe sind ebensolche Raritäten wie das vollkommen organische Ineinanderklingen der beiden Künstler.

Zweiter Satz: "Andante". Eine schwer erklärbare Vitalität beflügelt diese Musik, als zöge sie zusätzliche Lebenskraft aus der Tatsache der zwei Spieler. Der Zusammenklang beider Vorträge ist derart perfekt, dass man für Augenblicke einen einzigen Pianisten mit vier Händen zu hören meint. Das anschliessende "Allegretto" verbreitet Heiterkeit in ihrer gelöstesten Form, als müßt's so sein, hat die Plausiblität eines Kinderliedes. Wie Klaus Hellwig die Formulierungen von Mi-Joo Lee pianistisch wiederholt, ist über die Maßen anmutig und gewinnend. Der Mittelteil bekommt von ihr die kraftvollen Basstöne, während er mit stupender Leichtigkeit die Verzierungen in den höheren Lagen beisteuert. Dabei ist kein Ton zu laut, Einklang geht vor Blendwerk. Atemlos lauscht man einer selten gewordenen, gänzlich unaufdringlichen Kunst.

Franz Schuberts Fantasie f-moll op. 103 Deutschverzeichnis 940 aus dem Jahre 1828 schliesst sich an. "Allegro molto moderato": bedächtig die ersten Takte, denen schon bald helle Lichter aufgesetzt werden. Die Kunst des Klavierspiels "zu vier Händen" das die Lasten der Darstellung ganz anders verteilt als beim solistischen Spiel, lässt oft den akustischen Eindruck des Zusammenwirkens zweier Klaviere entstehen. Dabei sind beide Pianisten Meister der Behutsamkeit in dieser sekundengenau präzisen Einhelligkeit. Entzückende Miniaturen wirken durch aufgesetzte hohe Töne ungewohnt plastisch. Makellos integrierte Tempi. Das blitzt und fliesst in schönstem Einklang dahin, ein sonntäglicher Klang von ungewohnter Prägnanz.

Ein kurzes Innehalten, dann zurück zum Eingangsthema. Ein Fugenthema wird weitergereicht, wahre Wunder an wohlüberlegter Gestaltung. Da kommt das Thema wieder ganz leise und fast zögerlich herein und klingt behutsam aus.

Nach der Pause wechselt die Sitzordnung: jetzt sitzt Mi-Joo Lee bei den höheren Tönen, Klaus Hellwig links neben ihr. Georges Bizets "Jeux d'enfants" op. 22 von 1871 stehen auf dem Programm. "Der Blick eines Erwachsenen auf die Kinder", ähnlich wie bei Schumanns Kinderszenen, hebt das Programmheft hervor. "Der Kreisel": er serviert den Grundton, sie die schwingenden Bewegungen des Spielzeugs. "Berceuse" für eine anmutig tanzende Puppe: automatisch oder nicht ? "Die Schaukelpferde" bieten ein Scherzo:eine sich drehende Melodie, zu der die Pferdchen sich wiegen und voranstürmen. Der "Marche" klingt herrlich exakt, wenn auch ohne Trompete wie in der später entstandenen Orchesterfassung. Wie die beiden da wechselseitig über die Tastatur paradieren , hat allen nur denkbaren Charme. Das Nocturne illustriert ein "Blinde Kuh"-Spiel, und im Duo umlaufen sich zwei Motivkreise, die sich zu übertrumpfen suchen. Am Schluss der "Galop" - ein ganz bekanntes Motiv, das vierhändig unglaublich fetzig klingt. Beide Akteure in fliegendem Tempo.

Am Ende des Programms wieder Mi-Joo Lee links, Klaus Hellwig rechts. Beide haben eine Auswahl aus den "Ungarischen Tänzen" von Johannes Brahms aus dem Jahre 1880 gewählt.  In diesen original für vierhändiges Klavierspiel aufgezeichneten Musikstücken zeigt sich die ganze Vorliebe des Komponisten für "ungarische Musik", worunter einfach Zigeunermusik zu verstehen ist. Leidenschaft mit ungarischem Rhythmus. Nummer drei ganz leicht und inspiriert, sie beginnt und er tritt hinzu. Man kann das unterwegs kaum merklich verzögern, um dann in ein rein strahlendes Tutto zu münden. Nummer acht ein sehr leichtes, elegantes Presto mit "feschen" Abschlüssen, das perlt wie Sekt. Kunstvolles Ineinander mit "zackigen" Akzenten. Nummer sieben hinreissend tänzerisch, souverän in der Abtönung der Tempi. So geht's weiter bis zu Nummer einundzwanzig, wo auf den Grundrhythmus heller getönte Akzente gesetzt werden - einfach mitreissend.

Der ungewöhnlich ausgiebige Applaus wird mit einer Zugabe belohnt, die Klaus Hellwig wegen ihrer Popularität meint nicht ankündigen zu müssen. Abermals Brahms, der Walzer Nr. 15 As-Dur aus der 16teiligen Sammlung op. 39 von 1865. Eigentlich hätte man sich gewünscht, dass dieses Konzert überhaupt nicht endet.

121915
Sonatenkunst und Hexenkessel
Klavierklasse UdK-Prof. Pascal Devoyon
im Kammersaal Fasanenstrasse Berlin

Der besondere Reiz der Konzertabende mit der Klavierklasse von UdK-Prof. Pascal Devoyon liegt unter anderem darin, dass die Studierenden auf einem Begleitzettel zum Programm Erklärungen in eigenen Worten zu den vorgestellten Werken äussern. Das dokumentiert einerseits die künstlerische Auseinandersetzung mit den Kompositionen, gibt aber auch dem Zuhörer Hinweise zur Entstehung und Struktur der einzelnen Musikstücke.

Beim jüngsten Konzert dieser UdK-Klavierklasse eröffnet der deutsche Pianist Lion Hinrichs das Programm mit Ludwig van Beethovens Sonate E-Dur op. 109 aus dem Jahre 1820. Hinrichs hatte dieses Werk in seinen Erläuterungen besonders gründlich analysiert und unter anderem darauf hingewiesen, dass Beethoven im dritten Satz dieser Sonate Variationen verwendet, die den Elementen Luft, Feuer, Wasser und Erde zuzuordnen sind. Der erste Satz "Vivace ma non troppo" hat umfassenden Eröffnungscharakter, ist bald leicht im Ton, ein andermal hart zupackend, danach wieder sanft gleitend. Ein rasches Marschthema wird eingefügt, das sich nach entschlossenem Auftrumpfen wieder beruhigt. Der sofort anschliessende zweite Satz "Prestissimo" ist vom Wechsel zwischen entschlossenem, nahezu wütendem Aufbrausen und sanftem Nachklang geprägt. Das Variationsthema im dritten Satz "Gesangvoll, mit innigster Empfindung" wird in bedachtsamen Schritten markiert. Dann eine Variante im Walzertakt, in gesuchter Wortwahl. Es folgt eine sprunghafte Abwandlung, sehr formbewusst dargestellt. Dann eine betont rasche, in kurzen Noten gehaltene Variation, die in eher blumige Linien übergeht. Aufzählend, erzählend, in dramatischer Steigerung. Dann eine rasche, vom Pianisten sehr klar gezeichnete Variante, die in eine sich ruhig auspendelnde, danach reich verzierte Melodielinie übergeht, die von sehr komplexen Gegenüberstellungen lebt. Zum Schluß folgt eine betont ruhige Replik des Variationsthemas.

Claude Debussys "Nocturne", entstanden 1890, wird von der japanischen Pianistin Ayaka Shigeno gespielt. Die Komposition beginnt mit dunklen Tönen, die zu einem helleren Erzählton führen, der mit klangstarken Akkorden versetzt ist. Streckenweise prächtig aufblendend, im Dialog zwischen Bassformulierungen und Ergänzungen in hellerer Tonlage. Markante Statements klingen in einem sanften Modus aus. Danach "Gretchen am Spinnrad" von Franz Schubert, 1837 von Franz Liszt bearbeitet. Fliessende Rede von zunehmender Eindringlichkeit. Das Stück hat Balladencharakter, der musikalische Duktus wird einfühlsam wiedergegeben. Dann kehrt die Melodie zur Ausgangsbasis zurück, von wo sie erneut zu breit angelegter Dramatik gelangt. "Meine Ruh ist hin, mein Herz ist schwer" meint man zu hören.

Xiaoyu Chen aus China spielt Beethovens Sonate Es-Dur op. 81a aus dem Jahre 1809/10. Es ist die Erzherzog Rudolph von Österreich gewidmete Sonate mit den Empfindungen des Komponisten bei Trennung und Wiedersehen. Der erste Satz "Adagio/Allegro" bringt einen nachdenklichen Einstieg, markant und dennoch sanft, "das Lebewohl" nachzeichnend. Verhaltene, behutsam wiederholte Sequenzen, dann der Übergang zu flotter Gestaltung in einer Art Galopprhythmus, von der Pianistin mit Sinn für dramatische Akzente gestaltet. "Andante espressivo" ist der zweite Satz "Abwesenheit" bezeichnet. Das Gefühl der Einsamkeit, des Verlassenseins dominiert zunächst, bis sich bei ruhiger Überlegung  auch hellere Eingebungen einstellen. Der dritte Satz "Das Wiedersehen" ist "Vivacissamente" vozutragen. Die Pianistin artikuliert einen einzigen Jubelruf, dem ein brausender, höchst virtuos vorgetragener Lauf folgt. Das Ganze kommt noch einmal zum Halt und stürmt dann erneut los, sehr präzise und in bester gegenseitiger Ergänzung beider Hände ausgeführt. Eine Schlussformel rundet das Bild ab, mündet in eine brausende Sequenz.

Frédéric Chopins Ballade f-moll op. 52 entstand nach 1831. Die Pianistin kommt ins Erzählen, anfangs etwas verhalten, bis der Bericht vollständig ist. Dann schliessen sich ruhige Überlegungen mit Bezug zum Einleitungsthema an, immer wieder spannungssteigernd retardiert. Die Erzählung steigert sich zu grossen Akkorden, nimmt dann erneuten Anlauf zu chopintypischen Figuren und Illustrationen. Zwischendurch wieder das liebliche Erzählthema, in variantenreichem Tempo schön gestaltet, einmündend in brausende, sauber intonierte Läufe. Große Wellenbewegungen, Sprünge, dann ein kleiner Halt, bis alles in einen dahinstürmenden Schlusslauf übergeht.

Nach der Pause nimmt der koreanische Pianist Minjae Kim die Reihe der Klaviervorträge mit Wolfgang Amadeus Mozart wieder auf. Er spielt dessen Sonate F-Dur KV 332 aus dem Jahre 1777/78. Das "Allegro" spielt er kraftvoll, aber gleichwohl mit Sinn für Anmut im Ausdruck. Die stärkeren Akzente klingen fast wie bei Beethoven, aber die leiseren Passagen sind lächelnder Mozart. Das folgende "Adagio" wird wunderschön gelassen hergeleitet, ohne dass die thematische Spannung nachlässt. Das Vortragsthema wird gänzlich angemessen präsentiert - eine ausgereifte Darstellung , dem Ausdruck förderlich. Das abschliessende "Allegro assai" ist flott und überschäumend. Der Pianist spielt das sichtlich mit Freude und Vergnügen, in einem recht wilden Tempo, das ihm aber nie entgleitet. Die Mollvariante sehr virtuos, mit filigraner Ausarbeitung.

Yui Fushiki aus Japan spielt danach Joseph Haydns Sonate e-moll Hobokenverzeichnis XVI/34, veröffentlicht 1783. Das "Presto" sehr gewandt in der dynamischen Gestaltung, anschlagstechnisch ausgeprägt virtuos. Im "Adagio" hat das Thema klare Kontur, ist ruhig im Duktus wunderbar fliessend ausgeführt. "Vivace molto" wartet mit einem gut gelaunten Auftritt auf, dessen liedhaftes Thema anschliessend variiert wird. Zügiges Tempo, dabei gleichwohl klare Zeichnung und Brillanz im Detail.

Zum Schluss setzt sich Anna Dmytrenko aus Georgien an den Flügel. Sie spielt zunächst von Johann Sebastian Bach Praeludium und Fuge cis-moll BWV 848 aus Teil 1 des "Wohltemperierten Klaviers" von 1722. Das Praeludium träumt sich voran mit einer Steigerung, dramaturgisch etwas diffus. Die Fuge setzt bedächtig ein, mit schweren Schritten wie von einem, der sich mit einiger Mühe voran arbeitet. Das Thema mit seinen wechselnden Ausprägungen tritt jeweils klar hervor, erinnert in der Satztechnik an Orgelklang, zerflattert am Ende wie im Wind.

Es folgt Sergej Rachmaninoffs Prélude op. 23/1 von 1903. Das Stück sei "nachdenklich und schmerzvoll", schreibt die Pianistin in ihren Erläuterungen. Sie baut das Stück mit konsequenter Steigerung auf und scheut auch schrille Zuspitzungen nicht. Eine eher melancholisch geprägte Komposition, die mit unterschiedlich betonten Akkorden endet.

Alexander Scriabin schrieb seine Fantasie b-moll op. 28 im Jahre 1901. Große, ausgreifende Akkorde, die jäh aufblenden und schroffe Klangballungen freigeben. Sehnsuchtsvolle Ausrufe, deren Echo der Komponist nachlauscht. Sehr pointierte, weit ausschwingende Diktion von pathetischem Habitus. Immer neue Anläufe, die an Kraft und Breite des Ausdrucks kaum zu übertreffen sind. Eine Herausforderung an die  pianistische Technik, gut bewältigt und streckenweise an Liszts Formenkodex anknüpfend.

Der letzte Vortrag der Pianistin gilt Rodion Shchedrins "Basso ostinato" aus dem Jahre 1961. Der Kontrabass ist der linken Hand übertragen, während die Rechte teils wilde Themenfetzen darüber legt, synkopiert und als atemberaubende Hatz inszeniert. In romantischen Zeiten hätte man hier sicher "Danse macabre" als Titel gewählt. Ein grandioses pianistisches Feuerwerk, ein wahrer Hexenkessel der Klangeindrücke, vom frappierten Publikum mit frenetischem Applaus bedacht.

121515
Testfall Spieloper
Gesangsklasse UdK-Prof. Peter Maus
im Kammersaal Fasanenstrasse Berlin

Ein herzerwärmender Anachronismus: deutsche Spielopern und deutschsprachige Operetten, vorgetragen von jungen Gesangsstudent(inn)en - man fühlt sich in die fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts zurückversetzt, als dieses inländische Idiom auf der Musiktheaterbühne hierzulande die Regel war. Und man lauscht gespannt auf die Publikumsreaktion: kündigt sich hier womöglich so etwas wie eine Renaissance dieser Disziplin an ? Jedenfalls hatte der Ausflug der Gesangsklasse von UdK-Prof. Peter Maus auf dieses Terrain im Kammersaal an der Fasanenstrasse den Reiz des Exotischen, und der Saal war mit teils erfreulich jungem Publikum gut gefüllt. Die Pianistin Liana Vlad hatte bereits an der Einstudierung mitgewirkt und war nun die einfühlsame und gewandte Begleiterin am Flügel.

An den Anfang setzt die Regie eine Paradenummer des Genres, die Arie des Bürgermeisters van Bett "O Sancta Justitia" aus der Oper "Zar und Zimmermann" von Albert Lortzing, uraufgeführt 1837. Es singt der schlanke, hochgewachsene Bassist JongSoo Yang, der einen wundervoll geschmeidigen Bass ins Gefecht führt, um den von Amtspflicht ganz aufgeblasenen "Vorstand und Rat" van Bett zu charakterisieren, und er kann mit seiner angenehmen Stimme mühelos wettmachen, was an darstellerischem Effekt  vielleicht noch zu steigern wäre. Sein "Oh, ich bin klug und weise" nimmt man ihm jedenfalls sofort ab.

Dann treten Agathe und Ännchen aus Webers "Freischütz" auf, der 1821 erstmals zu sehen war. JaeEun Park und JeeEun Kim, beide Sopran, schlüpfen beherzt in ihre Rollen und gestalten ein leicht formuliertes, aber sorgfältig probiertes Duett, in dem die beiden Soprane gut zu den darzustellenden Charakteren und zu den unterschiedlichen Stimmungen dieser beiden jungen Frauen passen. Der Stimmklang addiert sich bestens. "Kommt ein schlankerBursch gegangen" träumt anschließend Ännchen -eine bezaubernd leichte Sopranstimme, die sowohl Innigkeit wie mädchenhafte Begeisterung auszudrücken vermag.

Die Arie der Marie "Er schläft, wir alle sind in Angst und Not" aus Lortzings 1846 uraufgeführter Oper "Der Waffenschmied" interpretiert Charlotte Schetelich. Sie startet mit einer Art Rezitativ, geht dann in eine Legato-Diktion über. Die Stimme fußt auf schönem Material , hat Anmut und Charme. Wenn sie den Konrad zu wecken versucht, macht sie das mit Feingefühl. Dann bekommt ihre Stimme freien Auslauf und kann zeigen, dass sie durchaus beherrschende Kraft ohne Schärfe zu entwickeln vermag.

"Heiterkeit und Fröhlichkeit" aus Lortzings Oper "Der Wildschütz" von 1842 schließt sich an. Der Bariton Taejong Kim klingt anfangs etwas eng, wird dann aber in der Begeisterung für "Heiterkeit und Fröhlichkeit" hörbar freier und kann sich überzeugend und mit stimmlicher Beweglichkeit darstellen.

Darauf ist Otto Nicolais Oper "Die lustigen Weiber von Windsor"aus dem Jahre 1849 an der Reihe. Hyelim Jo und JaeEun Park, Sopran, sowie JongSoo Yang, Bass, teilen sich die Auftritte. Zuerst die Arie der Anna Reich "Wohl denn, gefasst ist der Entschluss": ihren Racheplan gegen Falstaff kann Hyelim Jo mit Engagement und mit bis in die Spitzentöne klug geführter Sopranstimme darlegen, wobei auch die saubere Artikulation besonders angenehm auffällt und der  Einsatz unterstützender Gestik gut gelingt. In Falstaffs Ballade "Als Kindlein klein an der Mutterbrust" präsentiert JongSoo Yang wieder seine wunderbar samtig präsente Stimme bei tadelloser Artikulation. In der Höhe kraftvoll, in der Tiefe vernehmlich bis in die absolute Basslage. Ihm folgt Frau Fluth in Gestalt von JaeEun Park, in der Sprachverständlichkeit ebenso souverän wie im stimmlichen Ausdruck. "Nun eilt herbei, Witz, heit're Laune" kann sie durch Mimik und Körpersprache angemessen und mit Gewinn unterstützen.

Nach der Pause fallen die wenigen stilistischen Fesseln, die im Bereich der Spieloper vielleicht noch gewirkt haben mögen. Jetzt ist der pure Operettenton gefragt. Eine große Treppe als Bühnenbild fehlt zwar, aber man muss sie sich eben hinzudenken. Liana Vlad am Flügel gibt ihrem interpretatorischen Temperament abermals die Sporen, und Hortense (JeeEun Kim) geht nach dem Rezept aus Rchard Heubergers Operette "Der Opernball" von 1898 mit Henri (Charlotte Schetelich) ins "Chambre separee", was hier einmal als Duett zweier Soprane präsentiert wird. Charlotte Schetelich setzt sich eine Soldatenmütze auf und gibt ihrer Stimme einen aparten Mezzocharakter. Hortense schleicht sich schelmisch aus dem Hintergrund an. Nun beginnt das Rendezvous, das beide mit Charme und stimmlicher Farbe absolvieren.

Aus Franz Léhars "Die lustige Witwe" von 1905 meldet sich Taejong Kim als Graf Danilo mit dessen berühmtem Auftrittslied zu Wort. Darin bekennt er, als Diplomat nicht den ganzen Tag im Büro sitzen zu wollen, sondern stattdessen lieber "ins Maxim" zu gehen. Die Stimmlage ist für ihn passend, und jeder nimmt ihm ab, dass er dieses Lokal mit den vielen attraktiven Damen gern aufsucht.

Aus Johann Strauß' Erfolgsoperette "Die Fledermaus" von 1874 stammt die Arie "Mein Herr Marquis", die bei JeeEun Kim als Adele glänzend aufgehoben ist. Ihr sopranhelles Lachen ist sauber intoniert, die Stimme kann schön aufblühen und serviert reines, ungetrübtes Vergnügen. Dann übernimmt Hyelim Jo die Rolle der Adele und spielt "die Unschuld vom Lande". Naiver und verruchter Ton Seite an Seite, sie macht das ganz wunderbar und kann ihren Sopran prächtig in den oberen Lagen spazierenführen und dabei sogar noch beifallheischende Signale ins Publikum senden. Sie endet mit einem sauber gehaltenen Spitzenton, der ihr lebhaften Applaus einbringt.

Nico Dostals Operette "Die ungarische Hochzeit" von 1939 schliesst sich an. JaeEun Park gestaltet das Lied der Janka "Spiel mir das Lied von Glück und Treu". Nun wird das Kolorit ungarisch. Die Sängerin kann sich da überzeugend hineinfühlen, gibt ihrer Stimme Kraft und strömende Fülle samt einem Schuss Puszta-Melancholie. Liana Vlad entlockt ihrem Flügel Cymbalklänge, und so entsteht minutenlang eine dichte Szene, die wieder mit einem mutigen Spitzenton endet.

In einer solchen Zusammenstellung kehrt nun Léhars "Die lustige Witwe" noch einmal zurück. JaeEun Park singt das wohlbekannte "Vilja-Lied" der Hanna Glawari: sie kann wirklich mit diesem Genre umgehen, gibt auch dem etwas sentimentalen Refrain Reiz und Farbe. Man merkt an dieser Stelle auch, dass so ein als Gassenhauer verschrieenes Stück durchaus Ansprüche an eine Stimme stellt. Dann kommt Graf Danilo in Gestalt von Taejong Kim hinzu, und beide singen sich durch das Duett "Lippen schweigen". Hier klingt der Bariton freier und irgendwie überzeugender, ergänzt sich gut mit dem hellen Sopran zum vereinten "Druck der Hände".

Unter dem reichen Applaus des Publikums gibts Blumen für die beiden "Einstudierer" Liana Vlad und Peter Maus.

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Romantisches Mosaik
Klavierabend Klasse UdK-Prof. Klaus Hellwig
im Kammersaal Fasanenstraße Berlin

Der kleine Kammersaal im Universitätsgebäude an der Berliner Fasanenstraße ist ein vergleichsweise intimer Konzertraum, der bisweilen das interessierte Publikum kaum zu fassen vermag. So war es auch beim jüngsten Klavierabend der Klasse von UdK-Prof. Klaus Hellwig, der einen besonderen Schwerpunkt auf Klavierkompositionen etwa aus der Mitte des 19. Jahrhunderts legte.

Den ersten Programmpunkt übernimmt die Pianistin Tomoyo Umemura aus Japan mit den "Waldszenen" op. 82 aus dem Jahre 1850/51 von Robert Schumann, einem stimmungsvollen Ausflug in die Empfindungswelt der Romantik. Der Satz "Eintritt" klingt ganz schlicht, ungeprägt und offen für alle Eindrücke. Der "Jäger auf der Lauer" verknüpft das Anschleichen, den Sprung von einer Deckung zur nächsten, mit ziemlich entschlossenem Auftreten. "Einsame Blumen" sind vertonte Naivität mit ein paar angedeutet gebrochenen Tönen. Ein vorsichtiges, sehr gefälliges Voranschreiten  An die "Verrufene Stelle" pirscht sich die Pianistin geheimnisvoll heran, kreist sie ein. Dann schwindet im Näherkommen das Unheimliche, wird schrittweise entzaubert, aber der eigenartige Charakter des Ortes bleibt gewahrt. In "Freundliche Landschaft" wird mit weit ausholender Geste auf die Umgebung verwiesen, fröhlich und wanderlustig. Die "Herberge" empfängt den Fremdling freundlich. In idyllischer Atmosphäre symbolisiert ein Lied die gastliche Aufnahme. Ein "Vogel als Prophet" fesselt durch putzige Sprünge, die pianistisch durchaus komplex sind. Dann stimmt der Vogel seine schöneVorhersage an, spielerisch und kostbar im Ton. Das "Jagdlied" klingt vollmundig und entschieden, im Vollbewusstsein einer guten Sache. Zum Ende klingt "Abschied" poetisch, lyrisch, leicht melancholisch. Man trennt sich und winkt hinterher. Der schlichte Erzählton ist gut getroffen und wird stets gewahrt.

Danach spielt Tomoyo Umemura noch "Auf dem Wasser zu singen" aus dem Jahre 1823 von Franz Schubert in einer Klavierbearbeitung von Franz Liszt. Die Grundmelodie wird in zwei Linien parallel geführt. Ein ähnlicher Erzählton wie bei Schumann, beim ersten Hinhören schlicht und einfach, dabei pianistisch durchaus anspruchsvoll, schwingt sich im Verlauf zu breiter Darstellung mit vollen Akkorden auf. Die Spannung wird gut aufgebaut.

Zwei "Lieder ohne Worte" von Felix Mendelssohn Bartholdy interpretiert anschließend Mathis Bereuter. Das erste "Andante con moto" op. 19,1 stammt aus dem Jahre 1829/30. Recht langsam und verhalten, dadurch etwas distanziert wirkend. Die Gestaltung ist dabei durchaus überlegt und spannungsreich. "Agitato e con fuoco" ist das  zweite op.30,4 bezeichnet, das etwa 1833/34 entstanden sein dürfte. Nun geht's flott zur Sache, in kurzen Noten, fein gesetzt und mit genauem Anschlag wird eine lebhafte Stimmung umrissen, die in diesem Charakter gut durchgehalten wird.

Es folgt vom selben Pianisten die Ballade g-moll op. 23 aus dem Jahre 1835 von Frédéric  Chopin. Entschieden und bedeutungsschwer nimmt die Erzählung ihren Anfang , wendet sich dann der Liedform zu, stets ausdrucksvoll und mit grandioser Steigerung. Nach einer Beruhigungspause eine ganz liebliche Floskel mit nachgereichten Verzierungen. Jede übertriebene Manier wird beharrlich gemieden, bis die Einmündung in eine Chopin-typische Passage alles Verhaltene zur Seite fegt und einem rauschenden Lauf Platz macht, der es an pianistischer Pracht nicht fehlen lässt. Die Schlussformulierungen wieder sehr spannungs- und temporeich Mit dem Glanz geht er sparsam um, erreicht dadurch aber im entscheidenden Moment eine verstärkte Wirkung.

Zwölf Ländler D 790 von Franz Schubert aus dem Jahre 1823 spielt anschliessend die japanische Pianistin  Yuka Morishige. Klar, mit feinem rhythmischen Gespür und verhaltener Kraft. Durchgehend ein genaues Empfinden für den besonderen Ausdruckscharakter dieser kleinen Tanzmelodien, die sämtlich ohne falsche Verniedlichung dargeboten werden. Die Pianistin holt diese Stücke aus dem Flügel, als seien sie darin aufgehoben und brauchten nur herausgerufen zu werden. Der schier unerschöpfliche Erfindungsreichtum des Komponisten öffnet immer neuen Wendungen den Weg. Akzente und dynamische Abstufungen sind hervorragend.

Danach Franz Liszts italienische Impression "Venezia e Napoli" aus dem Jahre 1859. Eine behutsame Einleitung, dann eine Liedmelodie, blumig und mit verzierenden Trillern fortgeführt, wie es die Satzbezeichnung "Gondoliera" nahelegt. Immer rauschender und pianistisch komplizierter wird die Gestaltung. Bei den Glockentönen der Akkorde ist eine besonders feine Anschlagstechnik zu bewundern. Man meint, einmal auch das Eintauchen der Ruder zu hören, die das Boot vorantreiben. Schliesslich die "Tarantella": die raffiniert synkopierte, spieltechnisch komplizierte Abbildung einer italienischen Liedmelodie, immer wieder durch gegriffene Akkordbündel akzentuiert, mannigfach abgewandelt und mit perlenden Läufen dekoriert. Bewundernswerte Leistung, für die der Ausdruck "pianistische Glanzstrecke" eher untertrieben scheint.

Nach der Pause gibt Prof. Klaus Hellwig den Hinweis, dass es sich bei der folgenden Bach-Komposition nicht um ein Werk von Johann Sebastian, sondern von dessen Sohn Carl Philipp Emanuel handelt, der zu Lebzeiten wesentlich berühmter war als sein Vater. Die Musik des Bach-Sohns nennt Hellwig "ungeheuer innovativ, aphoristisch und weit über die Wiener Klassik hinaus wirksam". Die bulgarische Pianistin Petya Hristova spielt die Fantasia fis-moll, Wotquenne-Verzeichnis 67, entstanden nach 1783. Spannungsreich in der Einleitung, wirklich voller unerwarteter Wendungen, die mehr auf die Romantik vorausdeuten als zurück zu Rokoko und Barock. Zwar wirkt die Melodieführung etwas zerrissen, aber sie lotet die Ausdrucksmöglichkeiten des Klaviers viel nachhaltiger aus, als man dies bei anderen Komponisten der Zeit gewohnt war. Dem gestalterischen Ausdruck sind ganz neue Felder eröffnet. Kunstreich vorgetragen: Hier hat die frei schweifende Phantasie tatsächlich Fesseln abgestreift.

Den Abschluss des Konzerts bildet Robert Schumanns Zyklus "Carnaval" op. 9 aus dem Jahre 1834/35, gespielt von der russischen Pianistin Nadezhda Pisareva. Sie verfügt über die ganze Ausdrucksskala Schumannscher Diktion und zeichnet nach entschiedenen Eröffnungsschritten den "Pierrot" leicht, mit hübschen Verzierungen. "Arlequin" glänzt durch elegante Verbeugungen im dynamischen Dialog. Dann rauscht der Hörer durch die zwar einzeln benannten, aber ineinander übergehenden Szenen und landet nach einer sehr flotten, gewandten und überaus fesselnden Sequenz wieder einmal viel zu früh beim "Marche des Davidsbündler contre les Philistins", dessen markante Signatur noch nach dem Verlassen des Saales im Ohr lange nachklingt. Die Pianistin hat das Maß und kennt das Ziel, steuert es kraftvoll und dennoch klar an.

Viel Beifall für einen sehr abwechslungsreichen Klavierabend.

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Aus einem Guß
Kammerkonzert zugunsten von Stipendiaten
der Paul-Hindemith-Gesellschaft Berlin

Sie ist seit nahezu einem halben Jahrhundert für die hochstehende Zielsetzung bekannt, hochbegabten, aber wirtschaftlich schlecht gestellten Musikstudenten mit Stipendien unter die Arme zu greifen: die Berliner Paul-Hindemith-Gesellschaft. Dafür werden bei freiem Eintritt Konzerte veranstaltet, die mit der Bitte um Spenden verbunden sind. Häufig wirken dabei derzeitige oder frühere Stipendiaten mit. Gleichwohl ist ein Kammerkonzert, wie es jetzt im Joseph-Joachim-Saal an der Berliner Bundesallee stattfand, ein besonders geglückter Höhepunkt der Veranstaltungen zugunsten von Stipendiaten. Zwei frühere Empfänger solcher Finanzspritzen, die Pianistin Olga Monakh und die Geigerin Minhee Lee, bildeten zusammen mit dem Vorsitzenden der Gesellschaft, dem Cellisten Wolfgang Boettcher, ein Klaviertrio der Extraklasse für Tschaikowskys Opus 50, das der Erinnerung an Nicolai Rubinstein, den Freund und Förderer des Komponisten, gewidmet ist.

Am Anfang des Konzerts steht die Sonate Nr. 1 G-Dur für Violine und Klavier op. 78 aus dem Jahre 1878/79 von Johannes Brahms. Minhee Lee und Olga Monakh plaudern sich mit ihren Instrumenten hinein in den "Vivace man non troppo" bezeichneten ersten Satz, gewinnen unterwegs an Intensität und Wärme, das Klavier mit zarter Zurückhaltung, die Violine mit delikaterTongebung. Feine, filigrane Tongirlanden des Klaviers umspielt die Violine mit langem Atem und großer Sensibilität. Das Klavier formuliert ausgeprägt in Brahms' Diktion, setzt die thematischen Akzente, und die Violine schwebt vogelgleich darüber. Feiner Bogenstrich und rhythmische Kraft.

Im zweiten Satz "Adagio" setzt das Klavier mit Akkorden ein, die den Boden bereiten, und die Violine folgt mit mehreren Ansätzen zum Gesang . Dann markante Einsätze des Klaviers, denen die Violine rezitierend folgt. Leiser und behutsamer dann das Klavier, die Violine mit doppeltöniger Stimme von eindringlicher Intensität. Zum Schluß wieder diese bezaubernde Leichtigkeit der Violine, von der sich diesmal das Klavier anstecken lässt.

"Allegro molto moderato" ist der dritte Satz überschrieben. Spielerischer, leichter, wie von einer Last befreit jetzt beide Instrumente. Das Klavier schwingt sich zu mitreissender Anführerschaft auf. Die Violine folgt mit einer stets gesprächsbereiten Wendigkeit und hat jetzt alle Freiheit, auch die Wortführung zu übernehmen. Ein ergötzlicher Dialog, der ganz behutsam ausklingt.

Aus dem Jahre 1917 stammt die Sonate g-moll für Violine und Klavier vom französischen Komponisten Claude Debussy. Sie beginnt mit einem "Allegro vivo": ein paar stimmungsvolle Klavierakkorde, dann wird die Violine mit apart betonten Floskeln zur Wortführerin, glänzt mit zartest reinen Tönen in höchster Lage und gibt dem perlenden Klavierton die Richtung vor. Von rhythmischem Diktat ist keine Rede, beide Instrumente umkreisen einander in freien Flugbewegungen, mit leidenschaftlichem Bogenstrich zum Schluss.

"Intermède. Fantastique et leger" lautet die Stilvorgabe für den zweiten Satz. Die Violine, eben in der Satzpause noch einmal nachgestimmt, springt mit gewagten Passagen in den Satz hinein, den das Klavier interpunktiert. In immer neuen Anläufen schwingt sich die Violine sehr tonrein zu variantenreichen Flugfiguren auf.

Das "Finale" soll "très animé" gespielt werden, und das Klavier beginnt, indem es die Ebene der künstlerischen Auseinandersetzung vorgibt. Darauf lässt die Violine dann kreisende, tänzerische Figuren mit rhythmischer Pointierung entstehen. Schwierigste Griffe und jubelnde Vogellaute der Violine, die jauchzend die Vorgaben des Klavierparts aufnimmt. Feinste Zeichnung der Melodielinie bis zum brillanten Schlußlauf.

Nach der Pause dann der mit Spannung erwartete Höhepunkt des Programms, Peter I. Tschaikowskys Trio in a-moll, op. 50 für Klavier, Violine und Violoncello aus den Jahren 1881/82. Olga Monakh mit engagierter Federführung am Klavier, Minhee Lee und ein geradezu jugendlich begeisterter Wolfgang Boettcher bilden das Streicherduo. Wolfgang Boettcher hatte zuvor bereits von den überaus angenehmen und gewinnbringenden Proben berichtet, die das Trio seit Wochen absolviert hatte.

"Pezzo elegiaco" mit der Tempobezeichnung "Moderato assai" bildet den ersten Satz. Alle drei setzen den Fuss behutsam, aber entschlossen in dieses umfangreiche Werk. Man lernt zunächst ihre drei Stimmen kennen. Dem Klavier merkt man sofort die entschieden eingenommene gestalterische Rolle an, die das Schicksal dieser Aufführung bestimmen wird. Wunderbar klar und entschieden in der Artikulation agieren Violine und Cello, stets willig, diesem hinreissenden melodischen Fluss in schöner klanglicher Geschlossenheit zu folgen. Der vorausleuchtende Pfadfinder ist das Klavier. Eine sehr behutsame Variation gibt nacheinander den drei Instrumenten Gelegenheit, ihre individuellen Stimmen einzubringen. Das Klavier setzt zwar die Zeichen, überlässt aber immer auch den beiden Streichern eine Plattform für das kraftvolle Erscheinungsbild. Schön ausschwingend gegen Ende.

Der zweite Satz "Tema con variazioni. Andante con moto" öffnet den Vorhang für eine ungewöhnlich reichhaltige Folge von Verwandlungen. Das Thema wird vom Klavier fein und mit klugen Akzenten formuliert. Die Violine folgt, dann das Cello mit sonorem Klang. Die dritte Variation sehr flott, aber trotzdem leicht und mit brillantem Klavierklang. Darauf eine Moll-Variante: das Cello wird von der Violine überleuchtet, das Klavier liefert die Basis. Darauf das Klavier wie eine Spieluhr. Dann der Walzer: Wie das Klavier das auffängt, ist befreiend und meisterlich. Dann Klavierakkorde wie Glockentöne, von Violine und Cello mit rhythmischen Bogenstrichen beantwortet. Es folgt die Fuge. Alle drei mit Kraft und Fingerspitzengefühl, Violine und Cello mit bedächtiger Intensität, herrlich unisono, das Klavier perlend im Hintergrund. Schließlich eine Mazurka, vom Klavier eingeleitet, Cello und Violine springen buchstäblich auf Zeichen hinzu. Dann führt die Violine das Thema weiter. Ein tiefer Celloton beendet den Satz.

"Variazione finale e coda" mit den Tempobezeichnungen "Allegro risoluto e con fuoco" sowie "Andante con moto"  bestimmen den Schlussteil des zweiten Satzes. Mit Sprung geht's hinein, hinreissend und mitreissend, in glänzender Spiellaune und mit feurigem Rhythmus. Wem gebührt nun die Siegerpalme ? Alle drei waren in Hochform und stellen sich mit strahlendem Lächeln dem begeisterten Applaus des Publikums. Hindemith-Beirätin Jutta von Haase dankt dem Trio traditionsgemäß mit Blumen - der sympathische Abschluß eines überaus bewundernswerten Konzerts, das zudem noch einem guten Zweck diente.

121015
Zeitreise am Flügel
Klavierklasse UdK-Prof. Mi-Joo Lee
im Kammersaal Fasanenstrasse Berlin

Mehrmals pro Semester ist Gelegenheit, die Leistungen der Studenten in den Klavierklassen der Berliner Universität der Künste kennenzulernen. Besonders eindrucksvoll war dies jetzt bei einem Klavierabend der Klasse von UdK-Prof. Mi-Joo Lee zu erleben, der im Kammersaal an der Fasanenstrasse stattfand. Das umfangreiche Programm ermöglichte eine Zeitreise durch drei Jahrhunderte.

Den Anfang übernimmt die Pianistin Hyojeong Lim mit Johann Sebastian Bachs 1715-1720 komponierter Englischer Suite a-moll BWV 807. In zugespitztem Ton, kleinteilig strukturiert, geht es ins "Prélude", und der Klang wirkt in dem kleinen Konzertsaal auffallend kräftig. Zügiges Tempo mit Pointierung und Akzent, dabei immer auf den Fluss der Melodie bedacht. Die "Allemande" klingt zart und anmutig, in sanften Schritten, abgezirkelt und in mehrere Absätze unterteilt. Die "Courante" ist ein flotter Lauf, ein bisschen laut, mit verspielten Wendungen, Drehungen und Trillern. DIe  "Sarabande" samt "Agrément" bringt bedachtsames Schreiten in schöner Form , Verneigungen , ausgreifende Gesten, später in kleinere steps unterteilt, Grazie und Ausdruck. "Bourrée 1und 2" sind rasch und sprungkräftig, mit fröhlichem Charme, rechte und linke Hand in präzisem Zuspiel. Der Mittelteil bringt ein eigenes Thema, hübsch sanglich und mit eigener Plausibilität. Dann gehts zurück zum Eingangsthema, einer Art Galopp. Schliesslich die "Gigue", ein fliessender Lauf in raschem Tempo, immer wieder mal durch einen besonderen Akzent interpunktiert.

Die Pianistin Hansol Cho gestaltet Ludwig van Beethovens Sonate Nr. 8 op. 13, die 1798/99 komponierte "Grande Sonate Pathétique". Sie setzt "Grave" ein, mit bedeutungsschweren und nachhallenden Eingangsakkorden, ohne in verfrühter Steigerung das Pulver zu verschiessen. Dann der Lauf zum "Allegro", pointiert und zügig, "con brio" gewandt in der rechten Hand, entschieden in der Gestaltung. Dann wieder Halt gebietende Akkorde, überzeugend eingeführt. Übersichtliche Gliederung, die gut zu verfolgen ist. Der Verbund von Trillern und Läufen ist leicht und transparent, mit bedachtsam gesetzten Akkorden zum klaren Schluss. Das "Adagio cantabile" spielt sie mit gutem Empfinden für den liedhaften Charakter, in gestalteter Atmosphäre. Mit der notwendigen Ruhe, aber durchaus mit innerer Spannung. Der Mittelteil vorsichtig angesetzt, dann ausdrucksvoll strukturiert, zu einem entspannten Notturno hingeführt. Das Maß stimmt. Das abschließende "Rondo, Allegro" ist fest und entschieden, dabei sehr gewandt in den Läufen. Ein Hauch mehr Leichtigkeit wäre dem Eindruck dienlich. Prägnant und formbewusst.

Nadezda Filippova mit Debussy: das ist beinahe eine Klasse für sich. Aus dem zweiten Heft der "Préludes" spielt sie zunächst "Brouillards". Ihr gelingt sofort der zarte, dem kleinen Raum entsprechende Anschlag, als spiele der Wind Klavier. Souveränes Aufbrausen und Verklingen, die Nebelfetzen ziehen vorüber, von kurzen Böen zusammengeschoben oder wie ein Vorhang ausgebreitet. "Feuilles mortes" ist jahreszeitlich aktuell - täglich sehen wir sie auf den Strassen, einst atmungsaktive Organe der Bäume, jetzt braune Schatten ihrer selbst, vom Wind bald hierhin, bald dorthin getrieben. Sie baut dieses Bild geschickt und mit fein empfundener Spannung auf. "La puerta del vino" ist ein Tanz mit spanischem Kolorit, der aus sich selbst heraus immer neue Farben und Wendungen entwickelt. Eine sehr lebendige Szene, die zart wie mit Gitarrentönen verklingt. "La terrasse des audiences du clair de lune" : Der Schimmer des Mondlichts liegt über der Szene, die von poetischer Ruhe mit kleinen Einblendungen bestimmt ist. Die Pianistin beherrscht das Geheimnis der Stimmungsmalerei, die sich immer neuen Empfindungen öffnet. In "Ondine" herrscht ein rauschend operierender Wassergeist, der eine wunderbar interpunktierte Melodielinie generiert. ein sehr sublimer Auftritt, mit sprechenden Akzenten dekoriert. Kein zu starker Anschlag stört die Geschlossenheit des Bildes. Schließlich "Hommage à S. Pickwick, Esq., P.P.M.P.C.": Eine fast groteske Huldigung an Sir Pickwick aus Charles Dickens' "The Pickwick Papers", in mächtigen Akkorden mit dem Eingangszitat von "God save the Queen", eine pianistische Karikatur mit feinem und grobem Stift in aparter Mischung.

Yunus Tuncali spielt Robert Schumanns "Toccata" op. 7 aus dem Jahre 1834. Sofort stimmt die Gangart. Das ist der junge Schumann, virtuos in der Struktur, pianistisch überzeugend beherrscht, mit den genau platzierten und disponierten Akzenten, die diesem Auftritt Farbe und Charakter geben. Hier wirkt auch das überbordend Kraftvolle nicht einfach nur laut, sondern als kräftiger Strich in einer markanten Skizze. Wie er das auftürmt und gleichwohl bündelt und zum Fliessen bringt, ist beeindruckend. Reizvoll wird sein, ihn auch mit anderen Kompositionen Schumanns zu hören, in denen das melancholisch- Abgründige des Meisters der Romantik zum Ausdruck kommt.

Nala Baik ist anschliessend mit Felix Mendelssohn Bartholdys Fantasie fis-moll op. 28 aus dem Jahre 1833 zu hören. "Con moto agitato-Andante" beginnt angeregt, aber nicht lastend. Stattdessen wird eine Liedmelodie exekutiert, die dann in der Folge gesteigert und ausgeschmückt wird. Leichthändige Läufe, die sich zu großer Leidenschaft aufschwingen. Das Ganze mündet in ein harmoniebewusstes Andante, in dem die Liedmelodie des Anfangs nachklingt. Das folgende "Allegro con moto" hört sich an wie ein frohgemutes, zuversichtliches Wanderlied, das dann in klassischer Weise abgewandelt wird. Zwischendurch immer wieder kleine Haltepunkte, an denen man über die Landschaft blickt. Das abschließende "Presto" überpurzelt sich förmlich. Die Pianistin muss ihre ganze Kunst einsetzen, um der Sache Form und Farbe zu geben, was ihr aber glänzend gelingt. Mit Brausen und Rauschen entsteht das Bild einer belebten Szene, ein verspieltes Hetzen und Haschen, das schliesslich in einen brillanten Schlußlauf mündet.

Miyeon Lee sorgt anschliessend für eine letzte Steigerung. Sie beginnt mit Frédéric Chopins Etüde gis-moll op. 25,6 aus den Jahren 1832/36. Ein blitzender mehrstimmiger Lauf, mit grösster Leichtigkeit und Prägnanz angesetzt und ausgeführt, absolut mühelos in der pianistischen Technik, sauber in der rhythmischen Struktur. Von Franz Liszt stammt der "Gnomenreigen" aus den Jahren 1862/63: in raffiniert gebrochenen Tönen hüpfen die Geister nach des Komponisten Konzept, und die Pianistin führt sie vor wie ausdrucksvolle Marionetten, mit rauschendem und perlendem Ton, mit frappierend leichter Hand, ein mitreissend wilder Tanz, bei dem jeder der komplizierten Töne präzise dort sitzt, wo er hingehört. Schliesslich Alexander Skrjabins Etüde cis-moll op. 42,5 aus dem Jahre 1903: Die Romantik klappt ihren Fächer auf, und unter seinem Schutz figuriert sich in perlendem Pianoklang eine prächtige Szene, halb Zeichnung, halb farbkräftige Malerei, donnernd und den Hörer in eine wohlige Klangwolke fortreissend.

Viel Beifall vom kundigen Publikum für einen ungewöhnlich bilderreichen Klavierabend.




120715
Zwei Schüler als Klassenbeste
Florian Wilkes an der Klais-Orgel
der St. Hedwigskathedrale Berlin


Eine reizvolle Gegenüberstellung rückte Organist Dr. Florian Wilkes in den Mittelpunkt seines Orgelkonzerts am ersten Sonntag des Monats Dezember an der Klais-Orgel der Berliner St. Hedwigskathedrale. Er erinnerte damit an zwei Schüler des dänisch-deutschen Organisten und Komponisten Dietrich Buxtehude (1637-1707), deren Werk sich in sehr unterschiedlicher Weise im Gedächtnis gehalten hat. Der erste ist Nicolaus Bruhns (1665-1697), der zu seiner Zeit gleichermaßen als Violonist und Organist bekannt und der Lieblingsschüler von Buxtehude war. Der andere ist Johann Sebastian Bach (1685-1750), zwanzig Jahre jünger als Bruhns und von ähnlich revolutionärer Bedeutung für die Entwicklung des Orgelspiels und der Kompositionstechnik in Europa. Einen unmittelbaren Vergleich der "Handschrift" beider Komponisten ermöglichte Florian Wilkes dadurch, dass er typische Werke jedes der beiden nacheinander spielte, was er zuvor selbst am Mikrofon erläutert hatte. Das Programm hatte er zuvor bereits bei einem seiner zahlreichen Auslandsgastspiele im japanischen Tokyo dargeboten.

Er beginnt mit Präludium und Fuge G-Dur von Nicolaus Bruhns. Sehr satt und sonor klingende Basspedale, virtuos gespielt, darüber aus dem Manual sehr lebendige Verzierungen. Auch die Fuge wird als rasche, lebendige Tonfolge eingeführt. Formal durchaus streng, aber überaus farbig und sich immer wieder mit grosser Leichtigkeit vom massiven Bassfundament lösend, woraus sich ein sehr bewegtes Klangbild ergibt. Kurze Noten, ein Aufblühen über dem Bass.

Ebenfalls in G-Dur stehen Präludium und Fuge BWV 541 von Bach. Ein spielerisch hereintanzendes Präludium, hell leuchend im Klang, ähnlich lebendig wie bei Bruhns. Ein herauf- und herabschreitendes Tongewirk. Die Fuge basiert wieder auf einer ganz einfachen Tonfolge, die dann vielfach verschränkt ihren Weg nimmt. Die besondere Kunst des Organisten besteht hier darin, das Klangbild transparent zu halten und das Tempo in absolutem Gleichmaß wiederzugeben. Die hier gewählte Schrittfolge stellt besondere Anforderungen an den Interpreten.

Die Choralbearbeitung "Nun komm, der Heiden Heiland" von Bruhns schliesst sich an. Dunkel und wie aus weiter Ferne wird zunächst der Choral im Wortlaut zitiert, bekommt aber bald zusätzliche Lichter in reizvoller, sehr charakteristisch gefärbter Registrierung aufgesetzt. Triller und Verzierungen, sanft, aber farbig.

Auch von Bach existiert unter BWV 661 eine Choralbearbeitung "Nun komm, der Heiden Heiland". Auch hier schreitet der Choral zunächst ernst und würdig herein, bevor ihm heller getönte Verzierungen hinzugefügt werden. Bach scheint noch strenger zwischen Choralzitat und Rankenwerk zu trennen. Das gelassene Schrittmaß dominiert.

Es folgt Präludium und Fuge e-moll von Bruhns. Die Tonfolge des Einstiegs klingt geradezu "modern". Dann ein gezügeltes Schrittmaß mit gekoppelten Aufblendungen. Die Fuge beginnt in ungewohnt hoher Tonlage und nimmt einen ausgesprochen originellen Verlauf. Die herabsteigende Flötenfigur wird von tieferen Linien aufgefangen. Ganz dünn klingende Pfeifenregister geben Farbe und werden durch Triller und Sprünge in tiefere Lagen kontrastiert. Das Ganze ist überaus virtuos und abwechslungsreich. Die Orgel wird für Klangeffekte genutzt, die man sonst kaum von ihr zu hören bekommt. Am Ende bekommt die Komposition eine raffiniert versetzte, geradezu tänzerisch schwingende Charakteristik, die noch durch trompetenartige Einwürfe aufgewertet wird.

In Bachs Präludium und Fuge e-moll BWV 548 schreitet das Präludium durch den Mittelgang und verneigt sich nach llnks und rechts. Auch das Folgende hat schon Variationencharakter. Dunkle Grundfarbe, von hellerer Dekoration überwölbt. Meisterlich im Aufbau und wunderbar stetig in der Wiedergabe. Die in gleichen Abständen dazwischen gesetzten Akkorde stützen die gesamte Konstruktion. Die Fuge wird in relativ quirliger Folge daran angesetzt, und die Abwandlungen des Themas wandern sehr schön klar durch die Register und wechseln zwischen Pedal und Manual. Ein bewundernswerter, spieltechnisch sehr anspruchsvoll verzierter Lauf krönt die Melodieführung. Die Orgel glänzt mit satten Bassformulierungen und hellen Jubelklängen aus den oberen Tonlagen. Der dichte Klangfluss scheint ohne Ende, bis ein paar zwischengeschaltete Aufblendungen das Schlußsignal geben.

Zum Abschluss Bachs Toccata und Fuge d-moll BWV 565 , eines der bekanntesten Werke des Meisters, das in unübertrefflicher Weise Gravitätisches mit spielerischer Leichtigkeit verbindet und dem Hörer fast ein Gefühl des Fliegens vermittelt. Nach dem Entree baut sich aus einfachsten Anfängen ein Klangstrom auf, der feinst abgestuft und mit Echowirkungen angereichert wird. Brausender Ton wetteifert mit dem Ringen um Transparenz, bis nach einem virtuosen Lauf ein paar satte Akkorde das Werk zu Ende führen.

Viele Beifall im Kirchenrund, das der Organist mit einer Choralvariation als Zugabe belohnt.




120415
Neun Meditationen
Messiaens "La Nativité du Seigneur"
gespielt von Kilian Nauhaus auf der Eule-Orgel
 der Französischen Friedrichstadtkirche Berlin

Der Zyklus "Die Geburt des Herrn" vom französischen Komponisten Olivier Messiaen entstand 1935 in Grenoble und wurde 1936 an der Orgel der Kirche La Trinité in Paris uraufgeführt. Er ist in neun Sätze gegliedert, die KMD Kilian Nauhaus jetzt auf der Eule-Orgel der Französischen Friedrichstadtkirche interpretierte. Es gibt verschiedene Arten des Zugangs zu dieser Musik, die sich musiktheoretisch, theologisch und teilweise synästhetisch, also mit farblichen Assoziationen deuten lässt. Wir versuchen hier unabhängig davon einen quasi-impressionistischen Zugang, der allein auf dem Höreindruck basiert.

An den Anfang setzt der Organist eine Komposition, die gut in die Adventszeit paßt. Es ist die 1904 entstandene Paraphrase über den Chor "See, the conqu'ring hero comes" aus dem Oratorium "Judas Makkabäus" von Georg Friedrich Händel. Die Melodie wird in Deutschland mit dem Text "Tochter Zion, freue dich " als Weihnachtslied gesungen. Die Orgel setzt hell getönt ein, wiederholt die Liedmelodie, klanglich hier eher an eine Jahrmarktsorgel erinnernd. Dann wird die Melodie breiter, verschränkt in fugierter Form vorgeführt. Immer wieder taucht im musikalischen Fluss das Thema aus Händels Oratorium auf, bald im Hintergrund, bald markant nach vorn drängend.

Danach die neun Kapitel des Zyklus. Konzerthaus-Dramaturg Dr. Hiller, der Kilian Nauhaus beim Registrieren der Orgel assistiert, zitiert auch die Kapitelüberschriften von der Orgelempore aus.

1.Die Jungfrau und das Kind

Ein verträumt-verspielter Grundton von intimer Heimeligkeit, wie als Begleitmusik zu besonders innigem Einklang. Dann ein kindliches Geplauder, auch ein noch etwas schwankender Lauf, gleichwohl zielbewusst. Tröstende, verbindende Harmonien wie eine Verheissung, die über der Szene schwebt.

2. Die Hirten

Hingetupfte Marschzeichen, wie im Sand hinterlassene Spuren. Ganz ungefährdet, wie in einer höheren Geborgenheit. Die Hirten schauen, beraten sich kurz, kehren dann wohlgemut um und stimmen einen fröhlichen Wechselgesang an, der sich in verschiedener Stimmlage und aus unterschiedlicher Richtung wiederholt.

3. Ewige Vorsehung

Eine dumpf intonierte, weit voraus weisende Ankündigung von geheimnisvoller Tragweite. Hellere Wortfetzen über dunkler Basslinie, das Ganze von bebender, umfassender Allgemeingültigkeit.

4. Das Wort

Es springt anfangs etwas schrill zwischen uns. Über einer milden Dissonanz werden klare Feststellungen getroffen, denen gegenüber kein Ausweichen möglich ist. Als Resultat dann fest gegriffene Harmonien, wie einleuchtende Konsequenzen, iterativ wiederholt. Markant herabsteigendes Diktum. Darauf eine vergleichsweise entspannte Wortfolge. Gewissheit schwebend über Bassfundament. Beruhigend und ausgeglichen.

5. Die Kinder Gottes

Sie springen und tanzen, scheinen auch etwas geschwätzig, kommen dann zu großen Formulierungen. Rede und Gegenrede. Am Ende finden sie in Harmonie zueinander.

6. Die Engel

Eine quirlig durcheinander flatternde Schar, leichtflügelig. Sie fliegen auf und nieder wie ein Vogelschwarm, sind offenkundig von einer besonderen Heiterkeit beseelt, die in seligen Pikkoloflötentönen weiterführt, ostinato unter dem Himmelsgewölbe kursierend.

7. Jesus nimmt das Leiden an

Grausam dissonant, dann dunkle Farben, immer wieder grell und schrill aufblendend, das Erschrecken und Erschauern in Tönen. Die Gewißheit schmerzhafter Qualen, die in den gräßlichsten Akkorden gezeichnet werden. Schritte der Erkenntnis und der schließlichen Unterwerfung in Form eines harmonischen Akkords.

8. Die Weisen

Eine irgendwie liebenswürdige Wüstenwanderung, unprätentiös und gleichwohl gewinnend, kleine Schritte, ein wenig taumelnd, darüber der Stern. Nach längerem Dahinstolpern schliesslich die beruhigende Ankunft.

9. Gott ist unter uns

Fanfarenstöße verkünden die tröstliche Feststellung. Ein Präludium schliesst sich an. Dann fassen sich alle bei den Händen und beginnen einen fröhlichen, springlebendigen Tanz, sich umeinander drehend. Eine brausende Grundmelodie mit blitzend aufgesetzten Akzenten erhellt die Umgebung. Man winkt sich zu, stimmt ein in einen vollmundigen Cantus, der in eine wirbelnde Schlusstoccata mündet - ein blendendes Finale aus wortloser Gewissheit, mit einer weit ausholenden Handbewegung alle Zweifel wegfegend.

Der lang anhaltende Applaus im Kirchensaal bestätigt dem Organisten, dass er als "musikalischer Hausherr" seine Orgel am besten kennt und ihr die erstaunlichsten Charakterwandlungen abgewinnen kann.








120315
Das Geheimnis der engelgleichen Frau
Donizettis "La Favorite" konzertant
in der Deutschen Oper Berlin

Gaetano Donizettis 1840 an der Pariser Oper uraufgeführtes Werk war zu Lebzeiten des Komponisten und auch nach seinem Ableben außerordentlich erfolgreich. Die Oper erlebte bis 1904 nahezu 650 Aufführungen, und Richard Wagner erstellte noch 1840 eine Klavierfassung. Das Libretto schufen Alfonse Royer, Eugène Scribe und  Gustave Vaëz nach einer Erzählung von François-Thomas-Marie de Baculard d'Arnaud.

Die Handlung ist tief im Empfinden des 19. Jahrhunderts verwurzelt und vermag uns heute, so scheint es, kaum mehr zu berühren. Der Novize Fernand begegnet im Garten des Klosters Santiago de Compostela zufällig der engelsgleichen Léonor, und seine spontane Liebe wird erwidert. Fernando verläßt daraufhin das Kloster, geht zum Militär und zeichnet sich im Kampf gegen die Mauren aus. Als der Papst den kastilischen König Alfonse XI. mit der der Exkommunikation bedroht, wendet sich dieser von seiner Mätresse Léonor ab und gibt sie Fernando zur Frau, der aber erst nach der Heirat von ihrem Vorleben erfährt. Fernando geht daraufhin zurück ins Kloster und leistet dort sein Ordensgelübde, bevor die ihm nachgereiste Léonor ihn noch umstimmen kann.

Einen solchen Plot mit allem Prunk in Kulisse und Kostüm auf die Bühne zu bringen, würde hierzulande in unseren Tagen möglicherweise auf Widerstand stossen. Als Kompromiss bietet sich  eine konzertante Aufführung an, die es erlaubt, die Schönheiten der Musik zu vermitteln, ohne den häufig umstrittenen Aufwand für eine Komplettinszenierung zu riskieren. So weit die Position aus der Distanz vor Beginn der Vorstellung.

Im Zuschauerraum empfängt die gewohnte Szenerie für konzertante Aufführungen das Publikum: im Hintergrund der Bühne die Stuhlreihen für den Chor, davor die Sitzanordnung für das Orchester: Schlagzeug und  Blechbläser hinten, dann die Holzbläser und Streicher, zum Schluss davor das Dirigentenpult, rechts und links davon die Notenpulte für die Solisten. Pietro Rizzi dirigiert die Aufführung, und er hat sein Ensemble sowohl in den langsamen wie in den oft jäh ausbrechenden, kraftvoll zupackenden Passagen gut im Griff.

Das erwartete Bild der musikalischen Szenerie muss schon bald zugunsten des Eindrucks mitreissender Vitalität korrigiert werden. Da wird in Wahrheit nicht nur der idyllisch-sentimentale, religiös verbrämte Empfindungsmix aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geboten, sondern es entbrennt auch ein handfester Machtkampf zwischen Tiara und Krone, in den die unglückliche Protagonistin Léonor de Guzman (Elina Garanča) hineingezogen wird. Flüche, Schwüre und Verwünschungen, von mächtigen Chorkommentaren flankiert, geben vor dramatischer musikalischer Kulisse dem Finale des zweiten Aktes einen effektvollen Nachdruck. Erst im dritten Akt erfährt der soeben zum Marquis erhobene Ex-Klosterflüchtling Fernand aus dem hämischen Geflüster der Höflinge, dass er im Begriff steht, die bisherige Mätresse seines Königs zu ehelichen. Die meint ihrerseits irrtümlich, ihr künftiger Gatte  wisse um ihr Geheimnis und habe ihr die Vergangenheit verziehen. Enttäuscht und gedemütigt, geht Fernand zurück ins Kloster. Dort trifft auch Léonor ein letztes Mal mit ihm zusammen, und Fernand wäre trotz Gelübde bereit, in neu erwachter Liebe mit ihr zu fliehen. Aber es ist zu spät: Léonor stirbt, Fernand hat ihr vergeben und erwartet nun selbst den himmlischen Urteilsspruch.

Bei einer konzertanten Aufführung steht und fällt der Gesamteindruck mit der Qualität der Ausführenden. Hier war in der Deutschen Oper wieder einmal alles zum Besten bestellt. Neben dem hellwachen, präzise intonierenden Orchester und den von William Spaulding akkurat und dynamisch instruierten Chören boten vor allem die Solisten eine geschlossene Leistung. Tenor Marc Laho, für den erkrankten Joseph Calleja kurzfristig eingesprungen, vermochte zwar den Ausfall nicht vergessen zu machen, gab der Figur des Fernand aber zuverlässige Kontur mit ansprechendem Stimmenprofil.
Balthazar, den Prior des Klosters Santiago de Compostela und Überbringer der päpstlichen Bannbulle, sang Ante Jerkunica mit mächtigem Bass, und seinem baritonalen Gegenspieler, dem König Alphonse XI., gab Florian Sempey markante Präsenz. Matthew Newlin war Don Gaspar, der Offizier des Königs. Inès, die Begleiterin der Léonor, zeichnete sich durch einen ausdrucksvollen, kraftvollen Sopran aus. Die herausragende Leistung des Abends ist allerdings der lettischen Mezzosopranistin Elina Garanča zu danken, deren bewundernswert geführte Stimme den Gesamteindruck prägte. Sie kann leuchtend helle Soprantöne mit der nachdrücklichen Mezzo-Tiefe verbinden. Für ihre von widerstreitenden Gefühlen geprägte große Arie im dritten Akt erhielt sie minutenlangen Applaus.

Der überschwängliche Schlußbeifall für alle Beteiligten nährt die Hoffnung, das Werk vielleicht doch einmal in einer szenischen Bühnenfassung erleben zu können.



112815
Allegro con fuoco
Klavierabend der Klasse von UdK-Prof. Mi-Joo Lee
im Joseph-Joachim-Konzertsaal Berlin

Dies war die Satzbezeichnung für die letzte Komposition beim jüngsten Klavierabend der Klasse von UdK-Prof. Mi-Joo Lee im Joseph-Joachim-Konzertsaal an der Berliner Bundesallee. "Mit Feuer" hätte aber auch über anderen Vorträgen dieses bemerkenswerten Konzertes stehen können, das sowohl durch hervorragende Einzelleistungen aus dem Rahmen fiel wie durch den Effekt einer kontinuierlichen Steigerung des Gesamteindrucks durch die Auswahl der Kompositionen wie durch die Kunst der Vortragenden.

Zum Auftakt spielt Hansol Cho das "Concerto nach italienischem Gusto" aus dem zweiten Teil der Klavierübung BWV 971, im Jahre 1735 komponiert von Johann Sebastian Bach. Der erste Satz trägt keine Tempobezeichnung, aus welchem Grund auch immer, aber er bringt einen gewandten Einstieg mit einem vertrauten Motiv, flottes Tempo und einen schönen melodischen Fluss, wobei rechte und linke Hand einander zuspielen. Im folgenden "Andante" setzt die linke Hand eine Stimmungsmarkierung, die rechte steuert die verzierenden Ornamente bei. Das Ganze ist schön transparent, und ein gut beherrschtes Gleichmaß charakterisiert den musikalischen Ablauf. Das abschließende "Presto" bringt inspiriertes Tempo mit kraftvollem und gleichwohl elegantem Drive. Ein souveränes Zusammenspiel beider Hände unter dem Diktat grösster Akkuratesse.

Die Pianistin Nala Baik spielt anschliessend die "Chaconne für Violine allein von Johann Sebastian Bach , zum Konzertvortrage für Pianoforte bearbeitet von Ferruccio Busoni", im Jahre 1893 in Boston uraufgeführt. Grave beginnend in schönen, vollmundigen Akkorden. Das Grundthema aus den ersten Takten wird danach vielgestaltig abgewandelt. In erzählendem Grundton mit reizvollen Akzentuierungen und rhythmischen Pointierungen, romantisierend im Klang. Blitzende Läufe, Nachdenkliches und Verträumtes mischend. In der Behandlung des Klaviers trägt das Stück deutlich die Handschrift von Busoni. Ein mitreissendes Variationenwerk, in mancher Floskel an Brahms gemahnend. Fein empfundenes Schrittmass im Tempo. Gestalterisch differenziert mit ausgeprägtem Sinn für dramaturgische Akzente. Die Harmonik stammt von Busoni, die suchende Linienführung von Bach. Ein überaus reichhaltiger Vortrag. Das wenig bekannte Stück ist eine Entdeckung.

Danach spielt die Pianistin  Ludwig van Beethovens Sonate Nr. 31 As-Dur op. 110 aus dem Jahre 1821. "Moderato cantabile, molto espressivo" der erste Satz, in dem sie bereits eine grosse Vertrautheit mit der Energieverteilung in Beethovens Tonsprache beweist. Das "molto espressivo" wird einfach durch die Akzentuierung erreicht, ohne den melodischen Fluss zu belasten. Ein abgeklärter Klang wie aus einer anderen Welt, aufs Feinste gezeichnet. Das "Allegro molto" bekommt nun mehr Nachdruck mit rasanten Sprüngen, virtuos gesetzt. Entschlossener Ausdruck in wohldurchdachten Absätzen. Der folgende Satz "Adagio ma non troppo" ist ergänzend als "Arioso dolente", also "klagender Gesang" bezeichnet. Verschwebende Akzente bei stets gewahrter Kontinuität. Weltumfassende Einsamkeit. Ausdrucksvolle Klage ohne Wehleidigkeit. Dagegen wird der nächste Satz "Fuga-Allegro ma non troppo" gesetzt: eine ganz schlichte Tonfolge, weiter voranschreitend mit zunehmender Kraft, dann mit "L'istesso tempo di Arioso" zurück in die Diktion der Klage, Kraftverlust, eher depressiv, wunderbar ausdrucksvoll gespielt. Über erstarkende Akkorde kehrt dann die Fuge zurück, findet zu leichtem Spiel. Linke und rechte Hand begegnen sich in differenzierten Spielfiguren. In dieser Sonate überwindet individuelles, romantisches Empfinden die strenge klassische Form. Ein faszinierender Moment.

Eunhee Baek setzt sich an den Steinway-Flügel für Franz Liszts "Étude transcendentale" Nr. 11 "Harmonies du soir" von 1821. Im Sommerduft der Abendluft eine heitere und ausgeglichene Stimmung, in der großzügig formulierte Akkorde aneinander gereiht werden, von der Pianistin souverän dargeboten. Liszts unverwechselbare Formulierungskunst kommt glanzvoll zum Ausdruck. Dichte, dabei durchaus transparente Klangstruktur, delikate Augenblicke pianistischer Kunst. Am Schluss verharren die Hände lange Sekunden auf den Tasten - der Ausdruck hat von der Pianistin Besitz ergriffen.

Nach der Pause JuAe Ha zunächst mit Bachs "Präludium und Fuge F-Dur" aus Teil 2 des "Wohltemperierten Klaviers", BWV 870/893, vermutlich von 1740. Ein plaudernder Beginn in  schönem Dahingleiten, dann werden verschränkte Figurinen vorgeführt, einander überlagernd. Das Fugenthema hat federnde Sprungkraft, das Tongewirk entwickelt ein beträchtliches Tempo, bis es zum Stillstand kommt.

Darauf Claude Debussys Skizzen "Estampes" von 1903. "Pagodes" bringt fernöstlichen Zauber, lediglich durch die Imagination heraufbeschworen. Die Wiederholung kräftigt die Farbe. Akkorde wie Glockentöne, von feinsten Trillern überfangen. "Soirée dans Grénade" ist feinfühlige Genremalerei, zart gesetzte Akkorde, die in einen spanischen Tanz münden. Mit sensiblem Empfinden umgesetzt. Raffinierte rhythmische Einblendungen, ein frappierender Ausweis pianistischer Kunst. "Jardins sous la pluie" : ein irisierender Regenvorhang verdeckt das Bild der Gärten. Dann weht der Wind hindurch, und auf einmal kann man die Regentropfen zählen. Das Rauschen und Brausen klingt im Ohr, makellos interpretiert.

Beethovens Sonate Es-Dur op. 31,3 von 1801/02 interpretiert Miyeon Lee. Das "Allegro" wird mit einer überraschend behutsamen Frageformel eröffnet, der originell formulierte Antworten folgen, in ihrer Argumentationsweise an Mozart erinnernd. Anfangs sanfter Ton wird durch überraschend kraftvolle, fast übermütige Floskeln durchbrochen. Streckenweise schelmisch, von perfekter Spieltechnik. Das "Scherzo" bringt ein wohlvertrautes Motiv, glänzend beherrscht in Aufbau und Ablauf. Mitreissend und rasant. Beethoven at his best. Das "Menuetto" wird in ruhiger Stimmung aufgebaut, dann markant schreitend weitergeführt. Eine galante Variation in schönster Harmonie folgt. "Presto con fuoco" endet die Sonate: ein voranstürmendes melodisches Geschehen, dessen Elemente sich zu überstürzen scheinen , um sich dann wieder artig in einen Figurenreigen einzufügen. Tempo-und Akzentwechsel sind in ihrer scheinbaren Mühelosigkeit bewundernswert. Links über rechts in geradezu sportlicher Brillanz.

Zwei nebeneinander platzierte Flügel mit aufgeklapptem Schalldeckel signalisieren ein effektvolles Finale. Aus Peter Tschaikowskys berühmtem 1. Klavierkonzert b-moll op. 23, das 1875 in Boston mit Ernst v. Bülow am Klavier uraufgeführt worden war, spielen Nadezda Filippova den Solopart und Michael Cohen-Weissert (als Gast aus der Klasse von Prof. Jacques Rouvier) den Orchesterpart im 2. und 3. Satz der Komposition. Der Orchesterpart setzt zurückhaltend und etwas trocken ein. Filippova fängt das mit Wärme auf und führt es im Dialog fort. Was für ein exzellentes, fein abgestimmtes Duo die beiden bilden ! Die Solokadenz klasse perlend, im Orchester der französische Gassenhauer "Il faut s'amuser, danser et rire" mit Noblesse hereingeführt. Dann sprunghaft in den dritten Satz: beide Klavierstimmen harmonieren, als sei dies eben ein Konzert für zwei Klaviere. Filippova tut es mit Eleganz und Virtuosität all den großen Tastenlöwen gleich, von denen man diese Gangart gewohnt ist. Beide gehen fetzig voranstürmend ins Ziel, und das Publikum bedankt sich begeistert für einen spannenden Klavierabend.



112215
Gegen den Strich gebürstet
Premiere von Verdis "Aida"
in der Deutschen Oper Berlin

Die Genealogie berühmter Kompositionen enthält bisweilen Legenden, die sich selbst dann behaupten, wenn sie längst widerlegt sind. Von Giuseppe Verdis "Aida" erzählt man sich, dass dieses Werk komponiert worden sei, um die Eröffnung des Suezkanals 1869 zu feiern, aber diese Verbrämung hält der historischen Wahrheit nicht stand. Verdi hatte mehrfach abgelehnt, eine Oper für das neue Kairoer Opernhaus zu komponieren. Schliesslich legte der in Kairo lebende Ägyptologe Auguste Mariette Verdis früherem Librettisten Camille du Locle einen szenischen Entwurf vor. Trotz einer horrenden Honorarforderung Verdis wurde der Kompositionsauftrag für "eine Oper in ausschliesslich ägyptischem Stil" vom ägyptischen Khediven Ismail Pascha erteilt. Zur Uraufführung des 1870 fertiggestellten Werkes kam es allerdings erst am 24. Dezember 1871 in Kairo, weil Kostüme und Requisiten der Inszenierung durch den deutsch-französischen Krieg zuvor im von Preussen belagerten Paris eingeschlossen waren.

Inszenierungen unserer Tage legen den Akzent weniger auf altägyptisch-exotische Bauten und Schauplätze, auf Palmwedel und das Schilf am Nilufer als vielmehr auf die sozialen, ethnischen und psychologischen Konflikte, die sich aus dem Liebesverhältnis zwischen dem ägyptischen Feldherrn Radames, der äthiopischen Sklavin mit nubischen Wurzeln Aida, Tochter des äthiopischen Königs Amonasro, und Amneris, der Tochter des ägyptischen Pharao ergeben. Der massive Einfluss der Priesterkaste gehört ebenso zum Kolorit wie thriumphale Aufzüge und ausführliche Rituale.

Regisseur Benedikt von Peter geht bei der "Aida"-Neuinszenierung in der Deutschen Oper Berlin einen ungewohnten Weg. Er verzichtet gänzlich auf pompöse Massenszenen und die konventionelle Aufteilung von Bühne und Zuschauerraum. Stattdessen kreiert er ein optakustisches Raumtheater und verteilt Sänger wie Instrumentalisten effektorientiert im gesamten Klangraum. Der Orchestergraben ist abgedeckt und wird zur Bühne, die sich auf das Proszenium beschränkt. Das Orchester findet hinter einem Gazevorhang auf der Bühne Platz. Der Chor wird im Zuschauerraum und auf den Seitenlogen verteilt. Vorn links ein Tisch mit touristischer Literatur über Ägypten. Abwechselnd sichtbar sind nur drei Personen: Radames (Alfred Kim), Amneris (Anna Smirnova) und die Titelfigur Aida (Tatjana Serjan). Ägyptens König (Ante Jerkunica), der Oberpriester Ramfis (Simon Lim) und Aidas Vater Amonasro (Markus Brück) singen aus dem abgedunkelten Zuschauerraum und werden auch nicht etwa durch hilfreiche Punktscheinwerfer identifizierbar gemacht.

Bis etwa zur Hälfte der Handlung bestimmt eine Projektionswand den optischen Gesamteindruck, die im linken Teil der Bühne von der Decke herabhängt und das Bild der Tisch-Oberfläche wiedergibt. Auf diesem Tisch lassen sich neben der erwähnten Ägypten-Karte auch Seiten einer aktuellen Tageszeitung ausbreiten, die Fotos aus dem derzeitigen Kriegs- und Flüchtlingsgeschehen in Beziehung zur Opernhandlung setzen. Gemäß Regiekonzeption darf Amneris auch vorführen, welches Schicksal den Radames im Falle einer Eheschliessung der beiden erwartet: Amneris bemuttert den geliebten Feldherrn, schmiert ihm Butterbrote, bindet ihm ein Lätzchen um und verfüttert Fleischwurst ans Volk. Einleuchtenderweise bestärken solche Zukunftsaussichten den Radames in seiner Ablehnung dieser Verbindung und verstärken nur seine Neigung zu Aida, der Sklavin und Tochter des feindlichen Äthiopier-Königs Amonasro. Eine fatale Konfliktsituation, die am Ende auch dazu führt, dass Radames als Verräter verurteilt wird.

Während sich also auf der Szene Erhabenes mit streitbar Banalem und, ja, auch Albernem mischt, ohne ein schlüssiges Ganzes zu ergeben, ist das musikalische Erscheinungsbild dieser Aufführung von Anfang bis Ende makellos und höchsten Lobes würdig. Der Orchesterklang ist, wie von konzertanten Aufführungen gewohnt, sehr direkt und manchmal etwas grell, aber der wirklich fabelhafte junge Dirigent Andrea Battistoni hat sowohl diesen Aspekt wie auch die Leistungen der Solisten und der Chöre, die sämtlich hinter seinem Rücken operieren, auf frappierende Weise im Griff. Seine weit ausladende, stets präzise und instruktive Gestik stellt auch über größte Entfernungen eine akkurate Interaktion sicher. Gleichwohl haben die Streicher in der Ouvertüre und im bewegenden Finale zarte Passagen grösster Finesse, und die stets ungebrochene Geschlossenheit der musikalischen Darbietung verdient Bewunderung. Alfred Kims Radames hat mit "Celeste Aida" einen guten Einstand und meistert die Partie insgesamt überzeugend. Ante Jerkunica und Simon Lim ergänzen sich wirkungsvoll in ihren Basspartien, und Markus Brück fädelt als Amonasro raffiniert den ungewollten Verrat von Radames ein. Anna Smirnova gibt Amneris Leidenschaft und Verzweiflung mit kraftvollem Sopran. Den am stärksten berührenden Part hat Tatiana Serjan mit der Titelpartie der Aida: stimmlich feinst differenziert zwischen Jubel und Leid, Klage und Ergebung in ein unausweichliches Schicksal. William Spaulding hat seine Chöre mit gewohnter Sorgfalt instruiert, und sie melden sich von unterschiedlichen Orten im Zuschauerraum vernehmlich und exakt zu Wort.

Die akustische Überraschung ist die erste Szene des vierten Aktes, in der Radames von seinen Richtern vernommen wird. Üblicherweise eine endlos hingezogene Verhandlung, die in einem unterirdischen Gewölbe spielt und deshalb zumeist kaum vernehmbar aus der Unterbühne herauf klingt. Hier hat sich der Herrenchor unhörbar in die letzte Reihe des zweiten Ranges geschlichen und präsentiert die Szene von dort aus als markerschütterndes "Dies irae", das auch dramaturgisch dem Ablauf einen willkommenen Impuls gibt.

Das Publikum quittiert die perfekte musikalische Leistung aller Beteiligten mit überschwänglichem Beifall und überschüttet lediglich das Regieteam mit reichlichen Buh-Rufen.


111415
Ein absichtsvolles Durcheinander
"Figaros Hochzeit" auf Arte
aus der Deutschen Staatsoper Berlin

Kaum eine Woche nach der eigentlichen Premiere war jetzt auf Arte die geringfügig zeitversetzte Live-Übertragung von Jürgen Flimms Neuinszenierung der Oper "Figaros Hochzeit" von Wolfgang Amadeus Mozart zu sehen. Das Werk mit dem Libretto von Lorenzo da Ponte hatte Mozart  am 1. Mai 1786 im Wiener Burgtheater uraufgeführt.


Gepäckbeladene Touristen hasten während der Ouvertüre über eine Brücke entlang der Rampe und installieren sich dann mit quirligem Aufwand im Bühnenbild, das ein aus den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts stammendes Ferienhaus vorstellt. Kammerzofe Susanna ist Anna Prohaska:: Sofort fesselt ihre  gut geführte lyrische Sopranstimme mit neckischem Charme und präziser Artikulation der italienischen Rezitative. Der Figaro von Lauri Vasar wirkt anfangs etwas etwas ungelenk, spielt sich aber mit  seiner ersten Appellation an den "Signor Contino" frei. Signor Bartolo ist Otto Katzameier, die  Marzellina singt  Katharina Kammerloher. Der Orchesterklang wirkt zuerst etwas trocken und wenig atmosphärisch, was wohl auch der Saalakustik im Schillertheater zu danken ist.  Marianne Crebassa gibt den Cherubino, der gleich in seiner ersten Arie seine bebende innere Unruhe überzeugend zu artikulieren und zu besingen weiss. Den Grafen Almaviva, dessen manische Neigung für das weibliche Geschlecht derjenigen von Don Giovanni verwandt ist. singt Hildebrando d' Archangelo, und sein einschmeichelnder, suggestiver Bass kommt in der intimen Ferienhaus-Akustik  besonders gut zur Geltung. Don Basilio, Musikmeister der Gräfin, ist Florian Hoffmann.

Der Graf will den Pagen Cherubino los werden und delegiert ihn zum Militär, dem geeigneten Gegenwicht zu verliebter Tändelei am gräflichen Hof. Die Gräfin ist Dorothea Röschmann . Ihre herzbewegende erste Arie, in der sie sich die Liebe das Grafen zurückwünscht, gelingt eindringlich und mit feinem musikalischem Gespür. Die Gräfin klagt Susanna ihr Leid, und Kammerdiener Figaro heckt einen Plan aus, um dem Grafen einen Denkzettel zu verpassen und die Neigung zu dessen Gattin wieder zu beleben. Mit "voi qui sapete" ersingt sich der Page Cherubino den Preis für die schönste Stimme an diesem Abend, was der etwas schleppend einsetzende Szenenbeifall dann auch bestätigt.

Die Staatskapelle Berlin klingt unter der Stabführung von Gustavo Dudamel  eher unspektakulär nach einem versierten Hoforchester, was aber ganz gut in den Rahmen von Jürgen Flimms Inszenierung eines Sommerspasses passt. Dudamel präsentiert einen etwas trockenen, aber zuverlässig durchgehaltenen Mozart, der durchaus auch Finesse und Schwung zu bieten vermag.

Nun platzt der Graf herein in der Absicht, seine Frau bei einem Rendezvous mit Cherubino zu ertappen. Er vermutet den vagabundierenden Jüngling in einem der riesigen Reisekoffer, aber nach Aussage der Gräfin war nur Susanna bei ihr. Cherubino entweicht in einem unbewachten Augenblick, und nun steckt wirklich nur Susanna im Schrank, und der Graf, der vor Wut schäumende Enthüller, muss sich mit dieser Aktion blamieren und am Ende bei seiner Frau um Entschuldigung bitten.. Urheber des fatalen Briefes, der den Grafen auf die nicht funktionierende Fährte setzte, war Figaro, dem der Graf nun Rache schwört.

Der Gärtner kommt herein und berichtet von einem Flüchtigen, der aus dem Fenster gesprungen sei und dabei die Nelken beschädigt habe. Figaro zieht sich den Schuh an, aber die spannend inszenierte Enthüllungsszene bringt nicht das gewünschte Ergebnis.

Nach der Pause ein großer Monolog des Grafen, den er mit Kraft und Leidenschaft gestaltet. Die zweite Arie der Gräfin: Dorothea Röschmann gibt ihr gleichfalls Sentiment und Engagement im Nachsinnen  über ihre Situation. Peter Maus hat seinen komödiantischen Auftritt als Richter bei der Findung von Figaros bisher unbekannten Eltern, als die sich dann Marzelline und Bartolo bekennen. Nun solls eine Doppelhochzeit geben: für Figaro und Susanna wie für Figaros (bisher unverheirate) Eltern. Gräfin und Susanne formulieren in einem wirklich bezaubernden Dialog einen Brief , der den Grafen zu einem Verwechselungs-Rendezvous in den nächtlichen Garten locken soll. Bauernmädchen bringen Blumen, unter ihnen der verkleidete Cherubino. Das Hochzeitszeremoniell. Dann eine hübsche Gavotte, mit Text unterlegt. Darauf lädt der Graf die Gäste zum Hochzeitsball.

Und schliesslich das Vexierspiel im Garten: Marzelline im Monolog mit hübsch erotisch  anzüglichen  Sentenzen über die Rollen der Geschlechter. Figaro setzt seine wenig schmeichelhafte Sicht auf die Frauen dagegen. Die rothaarige Susanna besingt ihr Warten auf den Geliebten: aus " Oh säume länger nicht" wird " Lass mich nicht warten" - schmucklos, aber sachgerecht. Eine Situation wie im "Sommernachtstraum": die Personen stolpern übereinander, Identitäten verschwimmen. Argwohn und Misstrauen  regieren..

Bis zum verzeihenden, versöhnlichen Ausklang, der am Schluss Solisten, Chor, Orchester in den einhellig zustimmenden Publikumsapplaus einbindet.

103015
Auf dem Höhenweg
UdK-Klavierklasse Pascal Devoyon
im Joseph-Joachim-Konzertsaal Berlin

Unter den Instrumentenklassen der Berliner Universität der Künste sind die Pianisten eine spezielle Kategorie. Manche Professoren versammeln um ihren Lehrstuhl ganz auserlesene Talente, die eigentlich schon podiumsreife Konzertpianisten sind. Das gilt ganz sicher auch für die Klavierklasse von UdK-Prof. Pascal Devoyon. Ein Konzert dieser Studenten im Joseph-Joachim-Konzertsaal an der Berliner Bundesallee führt deshalb stets einen erwartungsvollen Hörerkreis zusammen, der für Klaviermusik besonders aufgeschlossen ist. Überdies geben die Solisten des Abends in eigenen Worten auf einem Handzettel erläuternde Hinweise zu ihrer Sicht auf die vorgestellten Werke.

Die Eröffnung des Konzerts übernimmt diesmal Minjae Kim aus Südkorea. Er beginnt mit der dreisätzigen Toccata G-Dur BWV 916 von 1720, aus der Köthener Zeit von Johann Sebastian Bach. Das Allegro in flüssigem Tempo, das Adagio bedachtsam schreitend, mit ruhigem Atem. Das Tempo wird konstant gehalten, mit feiner dynamischer Differenzierung. Das Allegro e presto ist kraftvoll, lebendig und strukturbewusst, der Fugensatz transparent.

Darauf die Etüde-Toccata aus dem Jahre 2014 von der in Berlin lebenden koreanischen Komponistin Unsuk Chin. Ein bewundernswerter Klangteppich aus einzelnen Tropfen, farbig und pianistisch anspruchsvoll.

Schliesslich Frédéric Chopins Etüde op. 25 Nr. 10, komponiert 1833-1837. Der Einstieg erfolgt etwas gewaltsam, wodurch aber der Kontrast zur anschliessenden sanften Passage um so stärker wirkt. Dann zurück in die dramatische Diktion, die mehr von Liszt als von Chopin zu stammen scheint.

Es folgt Myunghyun Kim aus Südkorea mit der Fantasie fis-moll op. 28 aus dem Jahre 1829 von Felix Mendelssohn Bartholdy. Erzählerische Geläufigkeit und romantisches Melodieempfinden prägen diese Komposition, die vom Pianisten mit feinem Empfinden und einer reichen Ausdrucksskala interpretiert wird. Der zweite Satz "Allegro con moto" ist liedhaft, zuerst schlicht und steigert sich dann in Tempo und Dynamik. Der dritte Satz "Presto" stürmt als perlender Lauf herein und wird spieltechnisch eindrucksvoll gestaltet. Frappante Geläufigkeit, rauschend und brausend. Kraft und Eleganz der Darstellung sind gleichermaßen überzeugend.

Der nächste Kandidat ist der Ungar Balász Demeny. Er beginnt mit Chopins Etüde op. 10 Nr. 1 von 1828, die markante Akkorde der linken Hand mit einem permanent rauschenden Lauf der rechten kombiniert. Bei der folgenden Etüde "Eroica" von Franz Liszt aus dem Jahre 1851 ist der junge Pianist spontan und hörbar in seinem Element. Sowohl das dramatische Auftrumpfen wie die fein gezeichnete Gestaltungslinie stehen ihm zu Gebote. So bekommt die Darstellung Kraft und Farbe, ohne an Transparenz zu verlieren. Sein Spiel läßt wirklich etwas von der grandiosen Wirkung des Komponisten und Pianisten Liszt ahnen. Zwei Sätze aus der Suite "Im Freien", komponiert 1926 von Béla Bartok, schliessen den Vortrag ab. Zunächst "Klänge der Nacht", atmosphärisch feine Äußerungen, die an Vogelstimmen erinnern. Darauf tänzerische Melodielinien, die wie von fern hereinwehen. Der Satz "Hetzjagd" ist dann von marschmässig vorwärtsdrängendem Rhythmus in erregender, mitreissender Struktur geprägt. Technisch anspruchsvoll.

Nach einer kurzen Pause setzt sich der japanische Pianist Yoshihiro Teramoto an den Steinway-Flügel und spielt Wolfgang Amadeus Mozarts Sonate B-Dur KV 570 aus dem Jahre 1789. Das "Allegro" beginnt in leichtem Erzählton von scheinbar einfacher Struktur. Erst die folgenden Abwandlungen führen auf andere Ebenen. Der fein dosierte Anschlag sorgt dafür, dass der Satz immer ein eleganter, leichthin formulierter Mozart bleibt. Zweiter Satz "Adagio": Schritt für Schritt erscheint die Melodie, wie nachdenklich aus Tropfen zusammengefügt. Verhalten der Vortragsstil, bedachtsam und ruhig, aber gleichwohl mit fein differenzierten dramatischen Akzenten und einer wundervoll heiteren Schlussformel. Im folgenden "Allegretto"kommt das Thema mühelos tänzelnd herein, in schönstem Mozart-Geist und mit bezaubernder Leichtigkeit. Der Pianist hat den musikalischen Ausdruck des Komponisten verinnerlicht, ohne dabei ins nur Mechanische zu verfallen.

Die chinesische Pianistin Sijin Liang spielt als nächste Claude Debussys Komposition "La cathédrale engloutie" aus Buch 1 der Sammlung "Préludes" von 1910. Hier gilt es, eine zaubrische Wirkung zu entfalten, und das gelingt der Pianistin sehr gut. Gemeinsam mit ihr schaut man ins Wasser und vernimmt fasziniert den Klang der versunkenen Glocken, Sanftmut und Entschiedenheit verbindend. Anschließend die Etüde op. 25 Nr. 11 aus dem Jahre 1836 von Chopin. Behutsam setzt die Vorahnung ein, dann bricht das Marschthema in der linken Hand los, während die rechte ein nicht enden wollendes Perlen und Rauschen produziert. Im Gegeneinander dieser beiden Bewegungen ist der Vortrag exzellent und dennoch transparent.

Die letzte Pianistin des Abends ist die Japanerin Ayaka Shigeno. Sie beginnt mit Präludium und Fuge d-moll von Dmitri Schostakowitsch aus dem Jahre 1952, komponiert unter dem Eindruck der Tonsprache von Johann Sebastian Bach. Schwer lastende Akkorde im Präludium, dann ein ganz leichter Nachklang und ein sich-Vortasten zum Fugenthema. Das besteht aus einer ganz simplen Tonfolge, die sich dupliziert und verschränkt, von nahezu kindlicher Einfachheit in der Diktion. Tempo und Spannung sind stets gewahrt. Die dynamische Differenzierung ist bewunderungswürdig. Gesteigerte Wirkung bis zum großen akkordischen Auftritt, in dem das Fugenthema wiederkehrt, bevor die Komposition zum Stillstand kommt.

Zum Abschluss "Triana" aus der Sammlung "Iberia" von Isaac Albeniz , komponiert im Jahre 1909, benannt nach einem Stadtteil von Sevilla. Der eingeborene Charakter des spanischen Kolorits ist von der Pianistin glänzend erfasst und wiedergegeben. Man meint, die Luft über der Stadt zu atmen. Pianistische Leichtigkeit und Eleganz sind zu bewundern. Faszinierende Tempowechsel: man tanzt im Geiste mit.

Lebhafter Applaus für einen Konzertabend von herausgehobenem Niveau.

102915
Kaleidoskop der Stile
"Corporate Concert" der UdK
im Joseph-Joachim-Konzertsaal Berlin

Seit ihrer Gründung hat die Kammermusik-Konzertreihe "Corporate Concert", in der sich die Instrumentenklassen der Berliner UdK-Musikfakultät zusammenfinden, nichts von ihrer Beliebtheit eingebüßt, was sich am lebhaften Publikumszuspruch ablesen lässt. Zum Auftakt des diesjährigen Wintersemesters wurde im Joseph-Joachim-Konzertsaal an der Bundesallee ein umfangreiches Kammermusik-Programm geboten, das von der Klassik über die Romantik bis zur Neoklassik reichte. Die erläuternde Moderation, ein Charakteristikum dieser Veranstaltungsreihe, übernahm diesmal Meike Pfister.

Chronologisch führen die beiden Programmteile jeweils vom jüngeren zum älteren Werk. Am Beginn steht Bohuslav Martinus Sonatine für Klarinette und Klavier Halbreich-Verzeichnis 356 aus dem Jahre 1956. Andreas Lipp spielt Klarinette, Katharina Groß begleitet ihn am Klavier. Sie eröffnet den Satz "Moderato" im Plauderton, dem sich die Klarinette ohne Zögern anschliesst. Ein fantasievoller Spaziergang, der in ein synkopiertes Gebiet mit sehr lebendiger Struktur führt. Das Klavier liefert die Wegbeschreibung, der sich die Klarinette feinfühlig anschliesst. Im zweiten Satz "Andante" schwebt der Klarinettenton über dem Klavierfundus in weiten Bögen und umreisst dabei ein bedachtsam gezeichnetes Landschaftsbild. "Poco allegro" ist der dritte Satz bezeichnet. Springlebendig stürmen beide Instrumentenparts voran, das Klavier in vollmundigen Akkorden, die Klarinette in virtuoser Ornamentik.

Meike Pfister leitet über zum nächsten Werk mit den selben Interpreten, der Klarinettensonate Es-Dur op. 120 Nr. 2 von Johannes Brahms aus dem Jahre 1894. Herbststimmung in Brahm's Spätwerk: schlicht und einfach, aber gehaltvoll mit einem großen Reichtum an einfachen Elementen. "Allegro amabile" ist der Eingangssatz bezeichnet, der behutsam und verhalten beginnt. Es folgen einzelne Aufschwünge des Klaviers, von denen sich die Klarnette zu immer neuen dekorativen Varianten anregen lässt. Eine versonnene Wärme strahlt diese Musik aus, von der sich bisweilen auch leidenschaftliche Töne ablösen. Beide Solisten verbindet ein ganz vertrauter Umgang miteinander. Bisweilen ist ein überraschend ausgeformtes Aufblühen des Klanges zu erleben. Im Allegro-Satz setzt die Klarinette ein und gibt Thema und Tempo vor, bis das Klavier die strukturellen Akzente übernimmt. Dann ein wundervoll sanglicher Klaviereinsatz, den die Klarinette bereitwillig fortführt.

Mit seinem Streichquartett g-moll op. 27 Nr. 1 komponierte Edvard Grieg schon 1877/78 ein Werk, das in die Zukunft weist und Brahms' Tonsprache weit hinter sich lässt. Mao Konishi und Cheuk Ching Tse, Violine, Miyuku Wahr, Viola, und Raphaela Paetsch, Violoncello wagen sich an die Realisierung dieser Komposition. Meike Pfister hatte zuvor auf die Besonderheiten des Quartetts hingewiesen: die formale Einheitlichkeit ist aufgegeben zugunsten der  Bildung von Klangflächen. "Un poco andante" beginnt der erste Satz, kraftvoll unisono, dann "Allegro molto ed agitato".: Breit ausgefalteter Klang, mitreissende Beschleunigung. Spannende Rhythmik, ausgesprochen farbenreich und fantasievoll, im Geiste auch von Smetana und Dvořák. Dazwischen nordische Schwermut und leidenschaftliches Vorwärtsdrängen. Eine liedhafte Melodie mit abrupten Zwischenspurts, immer wieder pastoser Farbauftrag mit entschiedenem Bogenstrich. Das Cello übernimmt die Stimmführung über vibrierendem Fundus der drei anderen, dann eine entschlossene Finalpassage.
Im zweiten Satz "Romanze- Andantino" ist das Cello der Stimmführer, die drei anderen umtanzen diese Melodie mit ihren Stimmen. Dann tut's die Viola dem Cello nach, alle sind in beredtem choristischen Einklang, die erste Violine mit zartester, illustrierender Intonation.  Das Finale beginnt "Lento" mit einem ungewohnten Ruhepunkt, dann prescht das "Presto al saltarello" los, wieder eine Folge sehr dezidiert artikulierter tänzerischer Rhythmen, die bisweilen an derbe Bauerntänze erinnern. Orchestrale Klangflächen, höchst vital. Bemerkenswerte rhythmische und klangliche Einheit im Vortrag.

Nach der Pause skizziert Meike Pfister die Charakteristika der "französischen Musik" von Claude Debussy, der sich ausdrücklich von Wagner und der deutschen Kompositionstechnik abwandte. Seine Musik sollte sich durch Klarheit, Einfachheit und Eleganz auszeichnen sowie "vor allem erfreuen". Beispiel dafür ist die Violinsonate g-moll von 1917, hier vorgetragen von Julia Yoo Soon Gröning, Violine, und Lion Hinrichs, Klavier. Debussys Tonsprache ist von Anfang an typisch. Perlende Klavierfundierung im "Allegro vivo", darüber die Violine mit freischwebend erfundenen Formulierungen, Natur- und Pflanzenbilder in zwanglos abgelauschter Form. Gelegentlich ist sogar spanisches Kolorit zu hören. Im "Finale. Très animé" umkreist eine überaus virtuose Violine den ebenfalls sehr lebendigen Klavierpart. Flirrende Töne, fugierte Ansätze, die aber gleich wieder zugunsten figurativer Abläufe aufgegeben werden. Schliesslich ein schwungvoller Ausklang.

Letzter Programmpunkt ist Wolfgang Amadeus Mozarts Klavierquartett Es-dur KV 493 Nr. 2 von 1785/86. Meike Pfister charakterisiert Mozarts Kompositionsweise mit einem Zitat von Johann Georg Sulzer aus dem Jahre 1774: Mozarts "edle Einfalt ist der höchste Grad der Vollkommenheit". Jakob Lehmann (Violine), Friedemann Slenczka(Viola), Anna Ostendorf (Violoncello)und Marcel Mok (Klavier) bilden das ausführende Quartett. Im "Allegro" ist bereits ein faszinierender Einklang von Violine und Viola zu erleben, und das sehr bewegliche Klavier führt einen fesselnden Dialog mit den Streichern. Alle vier sind in bester rhythmischer und klanglicher Konsonanz. Das "Larghetto" wird von ein paar sanften Klaviertakten eröffnet, dann folgt das Streichtrio mit Ergänzung und Erwiderung. Das Muster wiederholt sich, schlicht und durchsichtig, dabei mit grosser Anmut und bisweilen äusserst behutsam angesetztem Bogenstrich. Im abschliessenden "Allegretto" gibt das Klavier eine spielerisch formulierte Weise vor, bei deren Ausformung die Streicher einen eigenständigen Dialogpart übernehmen. Vollendete Spielfreude, exakt und mit vitalem Drive. Der perfekten Leistung des Pianisten steht der Beitrag der drei Streicher ebenbürtig gegenüber.

Viel Beifall für ein klug aufgebautes und mit grosser Kunstfertigkeit ausgeführtes Kammermusikprogramm.

102515
Mit sanftem Zungenschlag
Matthias Müller in der
Epiphanienkirche Berlin-Charlottenburg

Die Epiphanienkirche an der Stadtautobahn in Berlin-Charlottenburg ist bei Musikliebhabern vor allem durch ihre große Orgel bekannt, die in mehreren Baustufen bis 1995 errichtet wurde und die mit ihren 3518 Pfeifen sowie zahlreichen ungewöhnlichen Registern als "Meisterleistung des Orgelbaus" gerühmt wird. Der mächtige Orgelprospekt bleibt allerdings bei diesem Konzertabend im Schatten. Stattdessen stehen vor dem Altarraum drei vergleichsweise kleine Instrumente in Truhenform, die man klanglich eher zwischen Orgel und Akkordeon einordnen könnte: Harmonien oder Harmoniums - beide Pluralformen sind zulässig. Bei diesem Instrument werden zur Tonerzeugung Metallzungen angeblasen, was wiederum eine entfernte Verwandtschaft mit einer Mundharmonika erkennen lässt. Zwei Funktionstypen werden unterschieden: beim amerikanischen Saugwindsystem wird zur Tonerzeugung Luft angesaugt, beim französischen Druckwindsystem wird Luft durch die Tonzungen hindurchgepresst. Alle drei an diesem Abend vorgestellten Harmonien nutzen letzteres System, bei dem der Spieler über Pedale, die sogenannten "Tretschemel" für den nötigen Winddruck sorgen muss.

Der Konzertbetreuer der Kirche, Horst Peter Wilke, hat ein "besonderes Konzert" angekündigt und stellt den Solisten des Abends vor, den Kantor im Kirchenkreis Haldensleben-Wolmirstedt und Harmonium-Spezialisten Matthias Müller, der sich auch als Restaurator von Orgeln und Harmonien einen Namen gemacht hat. Das Harmonium hatte seine große Zeit im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Auch Wagner und Rossini haben für das Harmonium komponiert. In der Kirchenmusik kleiner Gemeinden wurde es häufig genutzt. In Spanien ist das Harmonium noch heute häufig anzutreffen, wie Matthias Müller eingangs berichtet. In Deutschland ist es hingegen mittlerweile eine Rarität, und auch die einst weit verbreitete Notenliteratur für das Instrument muss man mittlerweile mit der Lupe suchen. Entsprechend kostbar ist zum Beispiel auch der vom Harmoniumspieler genutzte Spielschemel, bei dem die Vorderkante der Sitzfläche abgeschrägt ist, damit der Spieler mit den Füßen an die Trittschemel heranreicht.

Matthias Müller berichtet zunächst Anekdotisches aus der Historie des Harmoniums und spielt dann zuerst einige Auszüge aus den "Cantos Intimos" vom spanischen Komponisten Eduardo Torres Péres, der von 1872 bis 1934 lebte. Dafür nutzt er ein eben erworbenes Harmonium aus der Fabrik von "Alexandre Père et Fils", die 1851 in der Pariser Rue Meslay Nr. 39 produzierte. Die Komposition führt nach Sevilla, und die "Cantos intimos" sind Stücke für den Gottesdienst. Das Harmonium klingt verträumt und sanft verschwebend,sehr stimmungsvoll. Der Ton hat eine Verwandtschaft zum entsprechend registrierten, einschmeichelnd säuselnden Orgelklang, wie er uns von französischen Komponisten vertraut ist. Zwei "Gebet" genannte Stücke, eins in heller getönter Artikulation, das eine Bitte ebenso ausführlich wie eindringlich formuliert. Das zweite ein elegisches Lied mit melancholischem Grundton, der sich allmählich kräftigt.

Von Félix Alexandre Giulmant, der von 1837 bis 1911 lebte, stammt das anschliessend vorgeführte "Schottische Lied". Nun sitzt Matthias Müller am Debain-Harmonium und präsentiert einen ganz anderen Klang, der von fern an einen Dudelsack gemahnt und dessen markante Diktion imitiert. Danach eine Komposition von Alfred Lebeau (1835-1906), eine regelrechte Tanzweise, die sich wieder sehr nach Akkordeon anhört. Im Mittelteil ein fröhlicher französischer Ringelreihen, der zum Eingangsmotiv zurückführt.

In der Konzertpause können die Zuhörer sich im Kirchencafé, das in einem Seitenschiff untergebracht ist, einen "coffee to stay" gönnen. Danach gibt's Auszüge aus den "Heures mystiques" von Léon Boëllmann, der von 1862 bis 1897 lebte und heute vor allem für seine "Suite gothique" bekannt ist. Drei "Elevations" werden gespielt, die nach katholischer Lehre mit der Wandlung von Brot und Wein beim Abendmahl verknüpft sind, wie Matthias Müller erläutert. Das erste Stück ist andächtig, aber gleichwohl farbenreich mit sonorem Bassfundus: Gedankenmusik, mit Schwebung verklingend. Das zweite erinnert in seiner Akkordfolge an César Franck, das dritte formuliert eher im Plauderton, die Harmonien iterativ replizierend. Anschließend bringt das "Impromptu" fis-moll op. 36 von Camille Saint-Saëns, der von 1835 bis 1921 lebte, eine sehr farbenreich vorgetragene, liedhafte Melodie, komplexer gesetzt, die dann musikalisch kommentiert und zu einem leisen Schluss geführt wird.

In den danach vorgetragenen "Variationen über ein böhmisches Volkslied" von Sigfrid Karg-Elert (1877-1933) wird die Melodie von "Kommet ihr Hirten" bald einstimmig, bald in akkordgestützter Vielfalt umschritten und umrankt. Vom deutschen Komponisten Hermann Wenzel  aus Großschönau in Sachsen , der von 1863 bis 1944 lebte, stammt das folgende Stück für Harmonium, das wieder diesen träumerischen Klang liefert, der die Gedanken zwanglos spazieren führt. Zum Abschluss noch einmal Matthias Müllers "Lieblingskomponist" Alfred Lebeau mit "Fêtes champètres", worin ausgelassenes Tanzen in wechselndem Rhythmus und mit variierten Klangfarben vorgeführt wird, und dem "Marsch der Scheppriesen", einem schwungvollen "Rausschmeisser", der das Klangbild eines russischen Akkordeonorchesters heraufbeschwört - man meint, Tanzende in folkloristischer Tracht zu sehen.

Als Zugaben gibt's mit "Musette" etwas Baskisches: über einem Grundrhythmus eine verspielte Melodie, die wiederholt wird und durch verschiedene Akkorde rauscht, bis sie zum Ausgangspunkt zurückkehrt - klanglich sehr variantenreich und reizvoll. Schliesslich Alfred Lebeaus Schilderung der Quelle irgendeines Flusses, jedenfalls nicht der Moldau. Mit einigen festen Strichen wird die Einleitung gezeichnet, bis eine etwas süssliche Walzermelodie folgt: Stimmungsmusik für den Salon, bei der das Wasser geradezu fesch durch die Komposition perlt.

Viel Applaus für die sehr lebendige Begegnung mit einem zumindest in Deutschland nahezu vergessenen Instrument, das derzeit eine verhaltene Renaissance erlebt.



101815
Der Violine größere Schwester
Vortragsabend Violaklasse Ulrich Knörzer
im Kammersaal Fasanenstraße Berlin


Die Geschichte dieses Streichinstruments geht bis ins 16. Jahrhundert zurück. Die Bezeichnung "Viola" erinnert an die Herkunft aus der Violenfamilie jener Zeit, die deutsche Bezeichnung "Bratsche" ist vom italienischen "Viola da braccio" abgeleitet, was  "Armgeige" bedeutet und darauf verweist, wie das Instrument beim Spielen gehalten, also nicht beispielsweise aufs Knie oder den Boden aufgestützt wird. Der Klang der Viola ist dunkler und voller als der der Violine und zeigt bisweilen eher eine Verwandtschaft zum Violoncello. Den Auftakt der öffentlichen Auftritte von Instrumentenklassen der Berliner Universität der Künste in diesem Wintersemester bildete diesmal ein Vortragsabend der Violaklasse von UdK-Prof. Ulrich Knörzer im Kammersaal an der Fasanenstraße.

Am Anfang stehen die sechs Sätze der Suite für Viola solo Nr. 4 Es-Dur BWV 1010 von Johann Sebastian Bach aus dessen Weimarer Zeit nach 1713. Solistin ist die junge Monika Grimm. Sie spielt ihren Part mit grosser Ruhe, in sauberer Intonation und mit lebhaftem Klangreiz, der bereits die gesamte Ausdrucksskala dieses ungemein lebendigen Instruments erkennen lässt. Als  Soloinstrument erreicht die Viola einen überraschend  souveränen Auftritt, in dem sich subtil angetippte Töne mit sonorer Artikulation durch breiten Bogenstrich abwechseln. Der Farbenreichtum sorgt dafür, dass auch eine auf den ersten Blick vielleicht etwas trockene Bachsche Solosonate, ursprünglich für Violoncello komponiert, eine spannungsreich vorgetragene Erzählung ergibt. Die junge Solistin weiss den einzelnen Tanzsätzen einen jeweils eigenen Charakter zu geben und sie stilistisch einprägsam voneinander abzugrenzen. So wird das gesamte Opus ein lebhaft koloriertes Exerzitium, das von der flott vorgetragenen Gigue in mitreissendem Fluss beendet wird.

Nach einer kurzen Pause ist die 23jährige Südkoreanerin Sohee Ro an der Reihe und beginnt mit zwei Sätzen aus der zuvor komplett gehörten Viola-Sonate von Bach. Ihr "Praeludium" ist von frappierender Intonationssicherheit und ausgereifter Gestaltung. Ihr Spiel gebietet über eine gegenüber ihrer Vorgängerin nochmals erweiterte Farbpalette. Die "Sarabande" ist ein versonnenes Schweben bei klarer, selbstbewusster Prägnanz. Der Ton kann schwer und lastend klingen, sich aber auch gleich einem Vogel aufschwingen.

Darauf spielt Sohee Ro die Suite Nr. 1 g-moll op. 131d aus dem Jahre 1915 von Max Reger, die mit dem Satz "Molto Sostenuto" beginnt. Der Ton  ruft mit warmem Ausdruck in den Raum hinein, füllt ihn mit hallenden Ausrufen und klar gezeichneten Arabesken. Ein leidenschaftlich engagierter Klang  in schwierigster, teils doppeltöniger Diktion, nachdenklich verklingend. Der zweite Satz "Vivace-Andantino" ist zunächst eine schwungvoll vorgetragene Tanzweise, der das breiter ausgelegte Andantino folgt , in kräftig ausgezogenem Ton ausgeführt. Dann geht's zurück zu der Tanzmelodie, mit sehr schwierig zu spielenden Passagen." Andante sostenuto" ist der dritte Satz bezeichnet. Über weite Strecken raffiniert doppeltönig, von erstaunlicher Virtuosität geprägt. Blutvolle Tongebung, mit romantischer Farbe. Schliesslich " Molto vivace" als Finale: Nun ist spieltechnische Fertigkeit in raschem Tempo gefragt, blendend exekutiert.

Den Abschluss bildet Johannes Brahms' Sonate f-moll op. 120 Nr. 1 für Klavier und Viola aus dem Jahre 1894, ursprünglich für Klarinette und Klavier komponiert. Diesmal wird Sohee Ro von Lydia Gorstein begleitet. Der erste Satz ist "Allegro appassionato" überschrieben. Über dem entschiedenen Klanggerüst des Klaviers ergeht sich der rhythmisch pointierte Bratschenpart beherzt und selbstbewusst, beide gut aufeinander eingespielt. Lydia Gorstein erweist sich als pianistisch wie gestalterisch gleichwertige Partnerin . Beide lassen Brahms' dezidierte Klangvision vital erstehen. Die Viola entfaltet Leidenschaft und Intensität, das Klavier liefert verträumte Einfügungen. "Andante un poco adagio" generiert Bezauberung im Wechselgespräch zwischen beiden Instrumenten. Ein bewegender Dialogsatz in Brahms' unübertrefflich charaktervoller Themenführung. Es folgt das "Allegretto grazioso", ein heiter- unbeschwertes Hereinschweben im Dreivierteltakt. Die Viola zeigt sich von der jugendlich unbekümmerten  Seite.  Das Klavier tut es ihr mit leicht umspielendem Rankenwerk gleich. Zum Finale ein "Vivace"-Satz: nun liefert das Klavier die eröffnende Geste, beide Solisten danach in spielerischem Einklang. Rhythmisch und in der gestalterischen Virtuosität ein schwungvoller Abschluss der Sonate..

Anhaltender Beifall für eine überzeugend ausgereifte Präsentation der weit gefächerten Darstellungsvielfalt der Bratsche.


100515
Die Liebe im Zeitalter der Entdeckungen
Meyerbeers "Vasco da Gama"
in der Deutschen Oper Berlin

Am Anfang der Annäherung an dieses Werk und seine Berliner Neuinszenierung stand die Erkenntnis, dass es sich bei Giacomo Meyerbeers Oper "Vasco da Gama" um nichts anderes als um sein Opus "Die Afrikanerin" handelt. Zwar war auch diese Oper bislang in jüngerer Zeit auf keiner Berliner Bühne zu sehen gewesen, aber immerhin trat aus der Erinnerung die Information hervor, dass es die Quelle der Tenorarie "Land so wunderbar" ist, die als stimmliches Paradestück immer wieder in Opern-Querschnitten Aufnahme gefunden hatte. Meyerbeers letztes Bühnenwerk wurde erst nach dem Tode des Komponisten 1865 in Paris uraufgeführt, hatte aber dabei zahlreiche Kürzungen und Änderungen an Text und Musik erfahren. Erst 2013 war in Chemnitz eine historisch-kritische Version unter dem von Meyerbeer gewünschten Titel "Vasco da Gama" zu sehen, die das Werk in die korrekte Relation zu den Opern Wagners und Verdis rückte.

Das Libretto stammt von Eugène Scribe, der zusammen mit Émile Deschamps bereits die Textvorlagen zu den Meyerbeer-Erfolgen "Der Prophet" und "Die Hugenotten" geliefert hatte.  Es folgt der Tradition der "Grand opéra", die sich neben ausführlich vertieften Empfindungen der Hauptpersonen auch durch eindrucksvolle Massenszenen und spektakuläre, exotische Schauplätze auszeichnet. Regisseurin Vera Nemirova hat das Werk auf der Basis der kritischen Neuausgabe von Jürgen Schläder mit der notwendigen Geduld und Inspiration auf die Bühne gebracht. Dabei unterstützt sie ein vielfältig nutzbares Bühnenbild von Jens Kilian, das von einer in Umrissen gezeichneten Weltkarte und den dahinter aufgebauten Halbkugelsegementen lebt, die man auch vortrefflich als symbolische Segel wie als Projektionshintergrund nutzen kann.

Die Handlung kann man je nach Geschmack als zeitweise komplex wie auch als etwas verstiegen bezeichnen. Es geht um einen Mann zwischen zwei Frauen, allerdings in vielfach überhöhter Funktion und Form . Der legendäre Seefahrer Vasco da Gama, dem historisch die Entdeckung des Seeweges ums Kap der guten Hoffnung nach Indien zu danken ist, hat während dieser Seereise auf einem ostafrikanischen Sklavenmarkt zwei Sklaven gekauft, nämlich Selica (Sophie Koch) und Nelusco (Markus Brück), die er mit nach Lissabon bringt und die von da an die Handlung nach Kräften beeinflussen. Bis zur Rückkehr von dieser Reise war Vasco mit Ines (Nino Machaidze) verlobt, deren Vater sie aber jetzt mit Don Pedro (Seth Carico) verbindet, da der zeitweilig verschollene Vasco für tot gehalten wird. Aus dieser Konstellation lebt das Konfliktgeflecht der Oper, die ansonsten noch verschiedene Steigerungen zu bieten hat. Im dritten Bild wird die Sklavin Selica an Bord eines Schiffes auf erneuter Expeditionsfahrt zwangsweise in eine Nonne verwandelt, und Sklave Nelusco liefert eine Vergewaltigungsszene ab, bis schliesslich feindlich gesinnte Eingeborene das Schiff stürmen, mit Speeren und auch Maschinenpistolen bewaffnet: diese inszenatorischen Zugaben aus aktuellem Zeitgeist wurden mit einigen Buhrufen quittiert. Schliesslich bringen die letzten beiden Akte in sehr gedehnter Darstellung alle Facetten eines solchen Dreiecksverhältnisses zur Wirkung: am Ende zieht Vasco da Gama, durch die Liebe der zur Königstochter mutierten Sklavin einmal mehr vom Tode gerettet, mit seiner früheren Verlobten Ines per Schiff davon, während Selica, von den tödlichen Düften eines letalen Baumes betäubt, einen entsagungsvollen Liebestod stirbt, der sie bei Brahma einst mit ihrem Vasco wieder zusammenführen wird.

Es geschähe nicht zum ersten Mal, wenn man eine solchermaßen überladene Handlung klaglos dulden würde, um die musikalischen Schönheiten des Werkes desto ungehemmter genießen zu können. Leider hat aber diese Oper außer ein paar reizvollen und mitreissenden Partien auch deutliche Längen und merkwürdig spröde, sehr konstruiert wirkende musikalische Passagen, die eine gesteigerte Faszination vermissen lassen.

Gleichwohl ist die musikalische Gestalt dieser Aufführung untadelig und macht gewissermaßen das denkbar Beste aus der gegebenen Lage. Nino Machaidze formt ihre Rolle mit stimmlicher Leidenschaft und intensiven Spitzentönen, Sophie Koch ist, von Hause aus Mezzo, auch im Sopranfach bewundernswert zu Hause und gibt der etwas realitätsfernen Rolle der verwandelten Sklavin Kraft und Farbe. Roberto Alagna in der Titelrolle, schon vor Beginn als indisponiert entschuldigt, bewältigt seine berühmte "O paradis"-Arie im vierten Akt mit Anstand, aber ohne besonderen Glanz. Alle anderen Solisten sind in ihren Rollen stimmlich und darstellerisch überzeugend zu Hause. William Spaulding hat seine Chöre einmal mehr akribisch genau einstudiert. Das Orchester liefert unter Enrique Mazzola eine geschlossene Leistung auf hohem Niveau mit vielen solistischen Einzelleistungen.

Der ausgiebige Schlussbeifall gönnt dem Regieteam nochmals ein paar angedeutete Buhrufe, ist aber ansonsten mit dem Gesehenen und Gehörten durchaus zufrieden.


100215
Von sanft bis grandios
Matthias Jacob an der Eule-Orgel
der Französischen Friedrichstadtkirche Berlin

Beim traditionellen Orgelkonzert am ersten Donnerstag im Monat präsentierte Kirchenmusikdirektor Matthias Jacob, der an der Friedenskirche in Potsdam-Sanssouci tätig ist und auch als Dozent in Halle/Saale wirkt, auf der Eule-Orgel der Französischen Friedrichstadtkirche in Berlin ein reizvoll gemischtes Programm mit Kompositionen von Mendelssohn-Bartholdy bis Max Reger. Nach der Begrüßung durch den "musikalischen Hausherrn" der Friedrichstadtkirche, Kirchenmusikdirektor Kilian Nauhaus, gab Konzerthaus-Dramaturg Dr. Dietmar Hiller eine kurze Einführung in das Programm, das er als eine Gelegenheit bezeichnete, "die Seele zappeln und schwingen zu lassen".

An den Anfang setzt der Gast aus Potsdam Präludium und Fuge G-Dur op. 37/2 von Felix Mendelssohn Bartholdy aus dem Jahre 1836/1837. Ein intimer, anheimelnder Klang. Hier sprengt die Orgel nicht den Raum, sondern sie füllt ihn erzählend , und sie vermag diese Atmosphäre ganz selbstverständlich herzustellen. Die Fuge beginnt mit behutsam gesetzten Basstönen, die sich schrittweise in höhere Tonlagen bewegen und die Themenführung dabei auffächern.

Vom 1948 geborenen Komponisten und Hornisten Gisbert Näther, der in Potsdam lebt, stammt das 2004 komponierte "Präludium festivum", das Matthias Jakob anschließend vorstellt. Es beginnt mit hellen, kleinen Tönen über dunklem Basston , dazwischen neckisch quirlende Signale, die das Spielerische mit den dunklen Grundierungen mischen. Dann blendet heller Fanfarenton auf, die Eule-Orgel kann auch diese veränderte Farbtemperatur ganz plausibel darstellen. Dann sprunghaft kursierende Akkorde, mit perlenden Tonketten verziert. Irgendwie ist hier auch das Instrumentarium französisch-dekorativer Orgeldiktion präsent. Über leichthin angelegte Interludien führt der Weg zu festlich breit formulierten Akkordbündeln, die das Stück beenden.

Es folgt die Fantaisie A-Dur aus dem Jahre 1878 von César Franck. Ein dunkel artikuliertes Motiv wird von süsseren, aufsteigenden Halbtönen fortgeführt, die ganz der typischen Tonsprache dieses Komponisten entstammen. Die tastende, immer wieder farbenreich abgetönte Motivreihe führt durch das gesamte Werk, das reizvolle Register zur Farbgestaltung heranzieht. So ergibt  sich eine vielfältig abgewandelte Themenfolge, die gegen Ende zu grossen, prächtig gefassten Akkordbündeln führt, deren Glanz sich über der Bassgrundierung entfaltet und die von helleren Tonspielen überfangen werden.

Die Komposition "Komm, süsser Tod" BWV 478 von Johann Sebastian Bach aus dem Jahre 1736 schliesst sich an, komponiert für das in Leipzig erschienene "Musikalische Gesang-Buch" von Christian Schemellis. Der amerikanische Organist Virgil Fox hat daraus dann die hier vorgestellte Orgelversion verfasst. Eine zurückhaltend formulierte Liedmelodie wird zunächst vorgestellt, dann mit hellen Positionslichtern versehen und so auf den Weg gebracht. Dies erfolgt zunächst bedachtsam, dann in breiter angelegten, feierlichen Schritten. Die Orgel lässt den Klang kräftig leuchten, dekoriert ihn mit festlichen Attributen, um am Ende in stille Einkehr zu münden.

Vom 1953 geborenen österreichischen Komponisten Maximilian Kreuz stammen die anschliessenden "Vier Choräle in altem Stil" Wv. 65 a aus den Jahren 2005 und 2013. Die stilgerecht und transparent gesetzten Choralmelodien werden von unterstreichenden Akkordbahnen getragen. "Der lieben Sonne Licht und Pracht" suggeriert separierten Gemeindegesang . Der Vortragsstil zwingt den Hörer zu nachdenklicher, vertiefender Akzeptanz. Breit ausformulierte Harmonien, kontrastiert vom Frage-. und Antwortspiel wechselnder Chorgruppen. Dann führt der "alte Stil" zu beruhigter Konklusion.

Das Orgelkonzert endet mit Max Regers "Introduktion und Passacaglia f-moll" aus der Sammlung "Monologe" op. 63 , komponiert 1901/1902. Eine breite Einführung, prachtvoll aufgeblendet, im Wechsel mit bedächtigeren Schritten, die aber das volle Klangvolumen dieser ungemein wandlungsfähigen Orgel ausschöpfen. Vollmundige Akkordgarben, dann das vergleichsweise zart intonierte Thema der Passacaglia mit ihren Verschränkungen und kunstvollen Hervorhebungen im Taktrhythmus. Wiederholungen und Variationen in strömender Fülle.  Zu zweit assistieren Kilian Nauhaus und Dr. Hiller beim Registrieren. Donnerworte lassen zum Schluss den Kirchenraum erbeben, bis Regers grandiose kompositorische Fantasie zu einem krönenden Finale zurückkehrt.

Viel Beifall für den Gastorganisten, dessen Interpretationen sich gleichermassen durch rhythmische Akkuratesse wie durch spieltechnische Virtuosität auszeichnen.


092915
Fauré  the London way
Gabriel Faurés "Requiem"
in der Londoner Kirche St. Martin-in-the- Fields

Die britische Hauptstadt im Frühherbst: die bisweilen drückende Hitze des Sommers ist abgezogen, aber das sonnige Wetter hält an und lässt die städtische Szene wie auch die Natur der Parks in schönem Licht erstrahlen. Die neue Konzert-und Opernsaison steht noch am Beginn, eigentlich erholt sich das Londoner Klassik-Publikum noch von der künstlerischen Parforce-Tour der Proms-Konzerte, die gerade erst mit der allseits beliebten " Last Night" zu Ende gegangen sind. Da lohnt sich ein Blick auf die kleineren, weniger spektakulären Konzerte, die beispielsweise  in der 1726 errichteten anglikanischen Kirche St. Martin-in-the-Fields stattfinden. Der im Innenraum sehr schlicht gehaltene Bau wird nur durch einige Deckenleuchter erhellt. Das dunkle Holz von Kirchengestühl und Emporenbrüstung kontrastiert mit dem weiss gehaltenen Farbton der Wände und Decken. Der architektonischen Gestaltung ist es zu danken, dass der Raum einen sehr geringen Nachhall aufweist, was der Transparenz des Klanges von Instrumental- und Chorensembles zugute kommt.

Vor dem Konzert wird eine Stärkung in der Speisegaststätte angeboten, die sich in der einstigen Krypta unter dem Kirchenraum befindet. Das Angebot ist einfach, aber durchaus achtbar. Den Boden des Raumes  bilden altehrwürdige Grabplatten, auf denen die Gäste nun ohne Schauer der Pietät an Tischen und auf Stühlen Platz nehmen.

Das Konzert dieses Abends wird vom Belmont Ensemble of London, einem reinen Streichorchester, bestritten und vom English Chamber Choir begleitet. Es beginnt mit Johann Sebastian Bachs Motette "Lobet den Herrn, alle Heiden " BWV 230, publiziert 1821. Dirigent Peter G. Dyson, der als Barockspezialist gerühmt wird, muss sich gleichwohl mit seinen Ausführenden anfangs etwas einschwingen, und das Klangbild lässt  zuerst sowohl die federnde Sprungkraft wie die Transparenz Bachscher Artikulationsform vermissen.

Das zweite Stück ist das wohlbekannte Air aus der Orchestersuite in D-Dur BWV 1068 von 1731. Das Ensemble präsentiert die Melodie getragen und schön ausschwingend.

Darauf "Jesu bleibet meine Freude", der zehnte und letzte Satz aus der Kantate "Herz und Mund und Tat und Leben" BWV 147, komponiert 1716 und 1723. Hier ist die geschlossene korporative Intonation des Chores hervorzuheben. Im Wechselgesang von Chor und Orchester ergibt sich ein zwingender Fluss der repetierten Melodie.

Es folgt ein Allegrosatz von Mozart, die Kirchensonate in D KV 245 von 1776, kraftvoll und vital dargeboten, dabei gleichzeitig einfühlsam und farbenreich.

Daran schliesst sich das wunderbare " Ave verum corpus" KV 618 von Mozart an, sechs Monate vor dessen Tod 1791 komponiert. Ein geschlossener, schön geführter Duktus ist zu loben, bei dem einzelne Chorgruppen jetzt individuell hervortreten.

Mozarts Salzburger Sinfonie KV 137 von 1772 ist der nächste Titel. Das "Allegro" beherzt und in gut markiertem Tempo, das folgende "Andante" mit wachem Sinn für die Dramaturgie gestaltet. Im "Rondo" herrscht tänzerische Eleganz vor, die formbewußt demonstriert wird.

Das letzte Stück vor der Pause ist Georg Friedrich Händels Krönungshymne für König Georg II., die 1727 in Westminster Abbey aufgeführt wurde. Mit ihr zeigt sich der Chor bestens vertraut. Das Orchester liefert die stiltreue Einleitung, dann setzt der Chor gut akzentuiert ein, in feiner Abstimmung und mit dramatischer Hervorhebung. Eine breiter angelegte Zwischenpassage mit bedachtsamem Ausdruck wird eher elegisch eingefärbt. Dann schliesst das Halleluja in farbenreich herausgearbeiteter Steigerung die Komposition ab.

Der zweite Teil des Konzerts ist gänzlich drei Kompositionen von Gabriel Fauré gewidmet, der von 1845 bis 1924 lebte und unter anderem Organist an der Pariser Kirche La Madeleine war. Das Orchester interpretiert die Kompositionen weiterhin ohne Bläser. Der Organist Michael Higgins, der die Barockkompositionen zunächst im Orchester sitzend am Orgelpositiv begleitet hatte, nimmt nun auf der Orgelempore Platz und steuert von dort aus den Klang der Walker-Orgel von 1990 bei. In der "Cantique de Jean Racine" überzeugt der Chor mit kraftvollem Klang, strahlender Höhe und markantem Bass. Die Orgel umspielt die Themen mit feinem figurativen Sinn.

Darauf die "Pavane" von 1887, ein formvollendetes, einfühlsames Schreiten, dem durch farbliche Akzentuierung und feinfühliges Pizzikato gleichwohl eine fesselnde Struktur mitgegeben wird.

Schliesslich das "Requiem" von 1888 in einem neuen Arrangement des Organisten Michael Higgins für Streicher, Orgel, Solisten und Chor. Der besondere Zauber dieses Werkes liegt darin, dass es nach den effektvoll erschütternden, pompös auftrumpfenden Vertonungen etwa von Gounod und Berlioz zu einer ganz schlichten, einfachen Tonsprache zurückfindet, die zwar den gesamten überlieferten Requiemtext berücksichtigt, aber gänzlich auf theatralische Übersteigerungen verzichtet. Eben damit erzielt Fauré eine Wirkung, die tiefer beeindruckt als viele andere Versionen.

Jetzt erweist der Dirigent Peter G. Dyson den ganzen Umfang seines Könnens, das sich sowohl durch stilgerechte Einfühlung wie durch ausdrucksvolle Anleitung von Chor und Orchester sowie durch sensible Kooperation mit dem Organisten auszeichnet. Kraftvolle Männerstimmen und leuchtende Soprane werden vom Dirigenten wirkungsvoll eingesetzt und klingen jeweils in guter Führung aus. Der Solobass von Philipp Tebb erreicht grosse Eindringlichkeit, die Dur-Moll-Varianten des Chores im " Sanctus" haben genau das richtige Mass, und im "pie Jesu" klingt der Sopran von Elizabeth Weisberg zwar etwas forciert, wird dann aber zu grosser Innigkeit zurückgenommen. Schliesslich das " In paradisum" , das auch für den zeitgenössischen Komponisten Karl Jenkins eine wichtige Anregung war: feinste Umspielungen durch die Orgel deuten himmlische Freuden an, ein geschmeidiges Legato lässt das Werk ausklingen.

Ausführlicher, anerkennender Applaus für eine bewegende Konzertaufführung.

071115
Zum Leben erweckt
Händels "Alcina"
aus Aix-en-Provence bei Arte

Georg Friedrich Händels "Alcina" ist die dritte Oper dieses Komponisten, die auf den "Orlando furioso" des Ludovico Ariosto zurückgeht. Sie wurde 1735 im wenige Jahre zuvor erbauten Covent Garden Theatre in London aus der Taufe gehoben. Ungeachtet des grossen Erfolges bei der Uraufführung und bei den nachfolgenden Vorstellungen verschwand das Werk aber bald von der Bildfläche und wurde erst im 20. Jahrhundert wieder auf die Bühne gebracht. Es ist eine "Zauberoper", in der nicht nur Liebe und Leidenschaft, sondern auch übernatürliche Erscheinungen eine Rolle spielten, wie es das Publikum der Entstehungszeit besonders schätzte.

Eine Liveübertragung aus dem Grand Théatre de Provence in Aix-en-Provence hat der Fernsehsender Arte angekündigt. Nun ist das Etikett "Live" auch schon manchen Wandlungen unterworfen. Während darunter ursprünglich eine unmittelbare Direktübertragung zu verstehen war, werden inzwischen bereits Aufzeichnungen in Echtzeit so bezeichnet, und auch die Praxis der zeitversetzten Ausstrahlung wird mit dem Label "Live" geadelt. Diesmal handelte es sich, soweit zu erkennen war, um die zeitgleiche Wiedergabe einer "echten" Aufführung, die lediglich um die Dauer der Pause verkürzt worden war.

Was die britische Regisseurin Katie Mitchell aus Händels hochkomplexem Plot destilliert zu haben ankündigte, hörte sich zunächst nach einer dieser gewaltsam modernisierenden Begradigungen an, die häufig älteren Werken der Opernliteratur widerfahren. Auf einer italienischen Insel hausen die zwei Zauberinnen Alcina (Patricia Petibon) und Morgana (Anna Prohaska), die inzwischen betagte Hexen geworden sind und unverändert exzessiven Sex mit immer neuen eingefangenen Männern für den Jungbrunnen ihrer Wahl halten. Wenn sie dieser Gespielen dann überdrüssig sind, werden die in Plüschtiere verwandelt und in Vitrinen zur Schau gestellt.

Diesen Rahmen flüchtiger Sexkontakte durchbricht Alcina, indem sie sich echt und tief in Ruggiero (Philippe Jaroussky) verliebt. Ihm ist aber auch in gleichfalls wahrer Liebe Bradamante (Katarina Bradić) zugetan, hinter dessen Männergestalt sich in Wahrheit die Schwester von Ruggieros Freund Ricciardo verbirgt, die sich mit ihrem Erzieher Melisso (Krysztof Baczyk) auf die Suche nach Ruggiero gemacht hat. Dann ist da noch Morganas Liebhaber Oronte (Anthony Gregory) und der junge Oberto (Elias Mädler), der auf der Zauberinsel nach seinem verschwundenen Vater sucht.

Zwischen diesen Personen entspinnt sich nun ein immer neu gruppiertes Wechselspiel von Zuneigung und Misstrauen, Affekt und Argwohn, Wahn und Wirklichkeit, das von Katie Mitchell mit nie nachlassender Spannung in Szene gesetzt wird. Eine kongeniale Unterstützung ist dabei das mehrdimensionale Bühnenbild, das mehrere Handlungsräume verbindet. Im Zentrum steht ein festlich illuminierter, mit Wandmalereien verzierter Empfangssaal, der rechts und links sowie in der Mitte mit Türen versehen ist. Durch die beiden Türen zur Seitenbühne gehen Alcina und Morgana ab, um sich bei Betreten des Nebenraums wieder in ihre eigentliche Gestalt von ältlichen Hexen zu verwandeln - ein Zaubertrick, der auch in umgekehrter Richtung faszinierend präzise funktioniert. Alles Szenische, ob es nun die recht ausführlichen  Sexandeutungen oder die nicht endenwollenden Klagebekundungen von Alcina und Morgana sind, wird mit grösstem Feingefühl realisiert, und wenn Alcina ihrem Schmerz bewegenden Ausdruck gibt, wird sie von Dienerinnen tröstend gehalten, die zusammen mit ihr eine Gruppe von geradezu antikem Adel bilden. In der ersten Etage steht in dämmerigem Halbdunkel die Verwandlungsmaschine, die aus Männern präparierte Tiere macht und Bradamante zeitweilig zu einem ausgestopften blauen Vogel werden lässt.

Bei aller Bewunderung für die szenische Perfektion verdient aber die musikalische Gestalt dieser Aufführung den eigentlichen Preis. Das Freiburger Barockorchester unter der Leitung von Andrea Marcon gibt der Oper vom ersten Takt an die wunderbare Präsenz barocken Orginalklangs, der vor allem in den Streichern, aber auch bei den Bläsern in Holz und gelegentlichem Trompetenblech gleichermassen animiert und fasziniert. Da ist nichts mehr vom blassen, akademischen Ton, der solche Aufführungen noch in den fünfziger und sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts prägte. Die Stimmen der Sänger fügen sich scheinbar mühelos in den schnell getakteten Rhythmus der Musik ein, und keiner von ihnen verliert während des ganzen Abends die absolute Synchronizität mit dieser aufgeregt vibrierenden Orchestermusik. Das gilt sowohl für die vielfach geforderten Stimmen der beiden Sopranistinnen Alcina und Morgana wie für die Männerstimmen von Oronte und Melisso. Von genretypischer Perfektion, garniert mit angenehm warmen Tönen aufrichtiger Empfindung, ist der Countertenor von Philippe Jaroussky. Ihm tut es der höchst akkurat intonierende, bis in die Tiefe stets punktgenaue Mezzo von Katarina Bradić gleich. Einen Sonderapplaus bekommt der junge Elias Mädler aus der Riege des Tölzer Knabenchors für seine Partie des Oberto, dessen Knabensopran den erwachsenen Sängerkollegen an Kraft und wohldisponierter Intonation nicht nachsteht.

Das begeisterte Publikum spendet reichen, verdienten Applaus.

062815
Scheherazade im Kloster
Konzerthausorchester Berlin
beim Choriner Musiksommer

Märchen gedeihen am besten in der passenden Umgebung. Die ehemalige Zisterzienserabtei Kloster Chorin aus dem 13. Jahrhundert hat so etwas verwunschen Märchenhaftes. Die Sicherung der Klosterruinen und die teilweise Rekonstruktion der mittelalterlichen Gebäude erfolgte unter Leitung von Karl Friedrich Schinkel. Seit 1964 gibt es dort den "Choriner Musiksommer", dessen diesjähriges Eröffnungskonzert unter anderem Nikolai Rimsky-Korsakows "Scheherazade" aus dem Jahre 1888 enthielt, eine faszinierend und stimmungsvoll instrumentierte Suite im dem Geiste der persischen Märchen aus 1001 Nacht.

An den Anfang stellt das Konzerthausorchester Berlin, das frühere, 1952 als städtisches Orchester gegründete Berliner Symphonie-Orchester, "The Unanswered Question", 1906 komponiert vom Amerikaner Charles Ives. Ein kurzes, philosophisch motiviertes Stück von rätselvollem Reiz und grosser Feinfühligkeit. Am Pult steht der junge Christoph Altstaedt, der bereits unter anderem an der Deutschen Oper am Rhein sowie bei zahlreichen Gastspielen im europäischen Ausland auf sich aufmerksam gemacht hat. Er dirigiert ohne Stab, dafür zumeist mit beiden Armen und mit beredter Gestik. In Charles Ives' Komposition sind drei unterschiedliche Klangkomponenten zu verfolgen: zunächst eine Fundierung durch sanft intonierende Streicher, darauf der siebenfach wiederholte Einsatz einer Trompete, die hier im Kirchenhintergrund platziert ist und sich immer auf einen Wink des Dirigenten vernehmen lässt, und schliesslich eine Flötengruppe, die unruhig eine Antwort auf den fragenden Ton der Trompete zu formulieren sucht. Aber letztlich bleibt die Frage unbeantwortet, und die "ungestörte Stille" der Streicher lässt das Werk ausklingen.

Zweiter Progammpunkt ist Antonin Dvořáks 1906 uraufgeführtes Cellokonzert op. 104 mit Marie-Elisabeth Hecker als Solistin. Vom ersten Einsatz an fesselt ihr rhythmisch pointiertes Spiel mit klar artikuliertem, warm timbriertem Ton. Pompös strahlender und intim dialogisierender Orchesterklang wechseln sich ab. Durch die akustische Eigenart dieses hochragenden Kirchenraums treten besonders die Blechbläser generell sehr viel stärker als die Streicher hervor. Die fein ausgewogene Klangbalance eines geschlossenen Konzertsaales ist hier nicht herzustellen. Stattdessen setzt das Zwitschern der Vögel, das durch die eine offene Flanke des Kirchenschiffs von aussen hereindringt, ortstypische Akzente an einem Sommernachmittag.

In der Pause meldet sich die Natur ein zweites Mal zum Wort: Ein kräftiger Regenschauer lässt vor allem die Picknick-Gemeinde auf der Klosterwiese vor der Kirche fluchtartig unter den wenigen Bäumen oder in den angrenzenden Klostergebäuden Schutz suchen.

Mit einer wohlgesetzten Fanfare rufen die Blechbläser-Solisten dann zum zweiten Teil des Konzerts. Auf dem Programm jetzt Nikolai Rimsky-Korsakows sinfonische Dichtung "Scheherazade" op. 35 von 1888. Vom ersten Satz "Das Meer und Sindbads Schiff" bleibt eine kristallklare Solovioline in Erinnerung, dazu eine nahezu Seekrankheit auslösende Meeresszenerie, rauschende Wogen und stiebende Wellenkämme - hier ist die geschmeidig fliessende Zeichengabe des Dirigenten ideal wirksam. Eine virtuose Klarinette fesselt ebenso wie der majestätische Klang der Blechbläser. Nach ausführlicher Fortführung der Geschichte geht's mit Verve und Feuer in den letzten Allegro molto-Satz :"Ein Fest in Bagdad" bringt eine wirbelnde Tanzweise mit raffinierten Tempowechseln, in der Dynamik sorgsam differenziert dargeboten: ein stürmischer Lauf zur Schlusssteigerung, in die dann wieder das weit ausschwingende Meeresmotiv hereinklingt. Als Krönung brilliert die 1. Konzertmeisterin Sayako Kusaka mit einem abschliessenden Solo, dessen beseelte Wärme und Reinheit größte Bewunderung findet. Ausgiebiger Beifall für ein Konzert, das sowohl von der Qualität der Darbietung wie vom unverwechselbaren Charakter der Choriner Klosterszenerie geprägt war.

062015
Noch mal zwanzig sein
Gounods "Faust" inszeniert von Philipp Stölzl
in der Deutschen Oper Berlin

Es gibt nach Shakespeare wohl wenige Stoffe, die in der Opernliteratur eine derartige Flutwelle von Adaptionen ausgelöst haben wie Johann Wolfgang von Goethes "Faust". Schon dessen Umwandlung in ein "drame fantastique" namens "Faust et Marguerite" durch den Franzosen Michel Florentin Carré und dessen Verarbeitung dieser Version zu einem Opernlibretto zusammen mit Jules Paul Barbier übernahm zwar Elemente der Goetheschen Handlung, setzte aber die Akzente anders und rückte die Tragödie der beiden Liebenden Faust und Marguerite in den Vordergrund, konfrontierte das individuelle Geschehen stärker mit dem Urteil der Gesellschaft und vor allem der katholischen Kirche und überfrachtete es dadurch auch ein Stück weit durch die Fülle der hier angesprochenen und ausgebreiteten Probleme. Gleichwohl hat Gounods 1859 uraufgeführtes Werk nicht zuletzt durch seine musikalische Gestalt die Zeit überdauert. Allerdings setzt eine wirkungsvolle Realisierung voraus, dass der musikalischen Form und Qualität konsequent der Vorrang vor der szenischen Realisierung eingeräumt wird. Wo das nicht geschieht, mutiert das Werk leicht zu einem Sammelsurium überbordender Szenenfolgen ohne schlüssige Aussagekraft und Faszination.

Die Neuinszenierung in der Deutschen Oper Berlin stammt vom Filmregisseur Philipp Stölzl. Für ihn liegt die Wurzel des Geschehens darin, dass Faust, seines bisherigen Lebens überdrüssig, durch den Satanspakt den Erlebnisraum eines Zwanzigjährigen zurückgewinnen will. Stölzl gibt konsequent der szenischen Gestaltung den Vorrang und inszeniert gewissermaßen Filmsequenzen. Das hat streckenweise durchaus seinen Reiz. Das Bühnenbild setzt gänzlich auf die Drehbühne, die um einen monumentalen Betonzylinder in der Bühnenmitte kreist. Auf diesem vergleichsweise schmalen kreisenden Band spielt sich die gesamte Handlung ab, die zwischen Stand- und Bewegtbildern unterscheidet und diese Stilmittel zusammen mit sparsam eingesetzten Beleuchtungseffekten wirkungsvoll nutzt. Gelegentlich werden den handelnden Personen stumme Doubles hinzugesellt, die zum Habitus der Sänger zusätzliche psychische Befindlichkeiten skizzieren. Anfangs- und Schlußszene spielen in Marguerites Gefängniszelle, und schon zu Beginn ist der Hinrichtungsstuhl zu sehen, auf dem sie am Ende nach Sündenfall und Kindsmord den Tod durch die Giftspritze erleidet.

Der absolute Vorrang der szenischen Handlung geht leider etwas zu Lasten der musikalischen Perfektion, woran auch der verdienstvolle Dirigent Marco Armiliato streckenweise wenig zu ändern vermag. Die Chorszenen der ersten Akte (Einstudierung Thomas Richter) erreichen nicht den Grad elektrisierender Präzision, der dieser Musik überhaupt erst ihre durchschlagende Wirkung sichert (von Offenbach intelligent persifliert).  Am souveränsten gestaltet der Mephistophélès von Ildebrando D'Archangelo stimmlich wie darstellerisch seine Rolle. Der verwandelte Faust ist bei Teodor Ilincai in guten Händen, dessen vitaler, gelegentlich etwas metallisch klingender Tenor der Figur den geforderten jugendlichen Habitus sichert. Dass er nach den Vorgaben des Bühnenbildes seine Gebets-Arie an Marguerites Wohnraum auf dem Dach eines kümmerlichen Wohnanhängers zu singen hat, bleibt im Rahmen der allgemeinen inszenatorischen Befremdlichkeit.

Marguerite ist Krassimira Stoyanova mit hell leuchtendem Sopran. Das weltfremde kleine Mädchen nimmt man ihr nur bedingt ab, aber die Reaktionen auf spätere Schicksalsschläge präsentiert sie mit großer Eindringlichkeit. Ihre Protektorin Marthe Schwerdtlein ist Ronnita Miller, die der Rolle das ganze Gewicht ihrer Persönlichkeit mitgibt und zusammen mit Mephistophélès einen Schnellkurs in flüchtigen Sexualtechniken abliefert. Siébel, den un-erhörten Liebhaber Marguerites, singt Stephanie Lauricella mit angenehm timbriertem Mezzosopran. Valentin, Marguerites Bruder, der seine gefallene Schwester ebenso ausführlich wie unerbittlich verflucht, ist Markus Brück mit charaktervollem, engagiertem Bariton.

Marco Armiliatos geschmeidiger Gestik am Pult fügen sich Orchester und Solisten ziemlich genau. Der Chor lässt partienweise die von ihm gewohnte Akkuratesse vermissen, wetzt aber etwa im hurrapatriotischen Chor der Kriegsheimkehrer alle Scharten wieder aus. Gleichwohl hat man wiederholt den Eindruck, die Musik werde von der szenischen Dichte in eine Nebenrolle gedrängt.

Der Schlußapplaus lässt den Sängern, dem Chor und den Statisten reichliche Zustimmung zuteil werden. Erst das Regieteam erntet neben begeisterter Zustimmung auch wieder einmal kräftige Buh-Rufe, was in der zurückliegenden Saison an diesem Hause eher Seltenheitswert hatte.

061915
Pariser Nuancen
Les Violons de France in der Eglise de La Madeleine

Ein paar Reisetage in der französischen Hauptstadt an der Seine sollten nicht ohne ein klassisches Konzert zu Ende gehen - so das Ziel. Nun ist der Monat Juni in Paris nicht gerade ein Höhepunkt der Konzertsaison, und weder die Bastille-Oper noch die neue Philharmonie hatten am fraglichen Tag etwas Attraktives anzubieten. Was lag näher, als eins der Konzerte zu besuchen, die auf kleinen Plakaten für die Kirchen im Zentrum der Metropole angekündigt werden. Besonders reizvoll: Antonio Vivaldis unübertreffliche "Quatre Saisons" in der Eglise de la Madeleine, ausgeführt vom Orchestre Les Violons de France ,wie die ansonsten eher knappe Ankündigung lautete.

Der monumentale, etwas düster wirkende Bau der Kirche La Madeleine, einem römischen Tempel nachempfunden, fensterlos und von gewaltigen Säulen umgeben, hat im Laufe seiner Bauzeit von 1763 bis 1842 mehrfach den Stil und die Zweckbestimmung gewechselt. An der grossen Cavaillé Coll-Orgel haben unter anderem Camille Saint-Saëns und Gabriel Fauré als Organisten gespielt.

Pünktlich um 19.00 Uhr werden die grossen Kirchentore geschlossen, womit der Besichtigungsbetrieb des Tages beendet ist. Vor dem Eingang wird ein kleiner Tisch für den Kartenverkauf platziert. Um 19.30 Uhr ist Einlass, und viele Zuhörer in der Warteschlange haben sich ihre Tickets schon vorab im Internet besorgt.

Das ausgedruckte Programm hält die nächsten Überraschungen bereit. Zum Auftakt wird Mozarts "Eine kleine Nachtmusik" dargeboten, vier Sätze in vertrauter musikalischer Gestalt. Danach folgt ein Adagio von Thomaso Albinoni. Für den Anschluss ist Franz Schuberts "Ave Maria" angekündigt. Dann soll Johann Pachelbels berühmter Kanon folgen, anschliessend die gleichfalls sehr vertraute "Méditation" aus der Oper "Thaïs" von Jules Massenet. Zum Schluss dann Vivaldis "Vier Jahreszeiten", viermal drei Sätze, jeweils ein langsamer Mittelteil, der von zwei Allegrosätzen eingerahmt wird.

Der riesige Kirchenraum ist etwa zur Hälfte gefüllt, und die Zuhörer haben auf den knapp bemessenen, mit Bast bespannten Kirchenstühlen Platz genommen, die kontinuierlich ein feines Knistern vernehmen lassen, das aber kaum stört. Auch das ferne Grummeln der unterirdischen Métro bleibt unauffällig im Hintergrund.

Mit kaum merklicher Verspätung betritt nun das Orchester das Podium im Altarraum. Eigentlich sind diese "Violons de France" ein lupenreines Streichquartett, besetzt mit zwei Violinen, einer Bratsche und einem Cello. Zu den Eigenarten der Präsentation im gedruckten Programm gehört, dass zwar der Name des Primgeigers genannt und dessen Werdegang ausführlich und mit höchstem Lob dargestellt wird. Frédéric Moreau ist demnach ein hochgeschätzter, auf vielen Festivals im In-und Ausland zu hörender Violinsolist, der sein Spiel unter anderem bei Yehudi Menuhin und Tibor Varga kultiviert hat. Auf seine Initiative gehen mehrere Gründungen von Kammerorchestern zurück, ausserdem hat er verschiedene Kammermusik-Ensembles initiiert.

Zum Auftakt die "Kleine Nachtmusik". Wer angesichts des Auftritts von nur vier Streichern einen eher etwas gebrechlichen Klang erwartet hatte, sieht sich angenehm überrascht. Mit Unterstützung durch den glücklicherweise nicht sehr stark ausgeprägten Nachhall, der den dunklen Tönen von Bratsche und Cello grösseren Nachdruck verleiht, entsteht tatsächlich das Klangbild eines kleinen Streichorchesters. Die bemerkenswert rein intonierende erste Violine weiss den musikalischen Impetus gut zu führen . Eigenartigerweise werden aber die anderen drei Solisten an keiner Stelle genannt.

Das Publikum applaudiert in schönster Einhelligkeit und mit ehrlicher Begeisterung nach jedem Satz.

An die zweite Stelle im Programm rückt der Pachelbel-Kanon, dessen Leitthema zunächst das Cello intoniert, das sich dann auf die Generalbass-Rolle zurückzieht. Dann übernimmt die Bratsche die Melodieführung, um anschliessend den Violinen das Feld zu überlassen. Der Vortrag hat den Charakter einer Prozession.

Dann betritt eine weitere Geigerin unbekannten Namens das Podium, die im Rest des Programms stehend die Solovioline spielt. Sie beginnt mit dem "Ave Maria" von Franz Schubert und wird von den übrigen Streichern pizzikato begleitet: ein durchaus delikates Arrangement, bei dem die Violinstimme über dem Pizzikatofundus zu schweben scheint.

Dann der Vivaldi. Der Frühling: ein sehr sauber gestalteter, lebhafter Dialog zwischen den beiden Soloviolinen fällt auf. Der Sommer hat etwas von grosser Hitze unter greller Sonne, schwungvoll fetzig im dritten Presto-Satz. Der Herbst verbreitet ungezwungene Fröhlichkeit, die in reizvollem Kontrast zur düsteren Feierlichkeit des Kirchenraums steht. Neben der stehend spielenden Sologeigerin fällt dem sitzenden Streichquartett oft die Begleiterrolle zu. Der Winter lässt in weiten Melodiebögen den Schnee rieseln und die klirrende Kälte durch alle Ritzen kriechen. Sehr stilsicher und klangrein intoniert, fein abgestuft und rhythmisch spannungsreich. Diesmal auch die Solovioline pizzikato, von den Streichern flankiert.

Den Abschluss bildet ein schöner, intensiv timbrierter Massenet: die "Méditation" aus "Thaïs". Ein Vortrag, der der Musikalität der Sologeigerin das denkbar beste Zeugnis ausstellt. Noch einmal viel Schlussapplaus für ein Konzert, das zusammen mit dem Charakter des Kirchenraums einen bleibenden Eindruck hinterlässt.

050815
Mehr als eine gute Tat
Stipendiatenkonzert der Hindemith-Gesellschaft
im Joseph-Joachim-Konzertsaal Berlin

Künstlerisches Talent und materielle Fundierung gehen bekanntlich selten Hand in Hand. Viele musikalisch Hochbegabte leiden während ihres Studiums wirtschaftliche Not, weil ihnen das exorbitante Übungspensum auch wenig Zeit lässt, mit Nebenjobs etwas Geld hinzu zu verdienen. An dieser Stelle springen Stipendiengesellschaften wie die Berliner Paul-Hindemith-Gesellschaft ein, die für besonders talentierte Musikstudenten der Berliner Universität der Künste Spenden sammelt und den sorgfältig ausgewählten Empfängern damit zu einem Stipendium verhilft. Eine Spendenquelle sind die von der Gesellschaft veranstalteten Kammerkonzerte, bei deren Programmgestaltung gegenwärtige und frühere Stipendiaten zusammenwirken und dadurch ein beredtes Zeugnis für das künstlerische Niveau dieser Veranstaltungen ablegen.

Das jüngste dieser wohltätigen Stipendiatenkonzerte präsentiert nach der Begrüssung durch den Vorsitzenden der Gesellschaft, den Cellisten Prof. Wolfgang Boettcher, ein Programm aus attraktiven Kompositionen des 18.,19. und 20. Jahrhunderts.

Den Anfang macht die chinesische Pianistin Zhenyi Wu mit drei Szenen aus dem 1907 komponierten zweiten Heft der "Images" von Claude Debussy. Zuerst "Cloches à travers les feuilles": Die Impression beginnt mit einer Folge zauberhaft miteinander verwirkter Glockentöne, von der Pianistin mit behutsamem Anschlag skizziert. Gleichzeitig ist hier das Licht- und Schattenspiel zwischen sonnendurchfluteten Blättern zu verfolgen, die vom Hauch des Windes bewegt werden. Ein Bild poetischer Bewegung und grösster Ruhe von hohem musikalischen Reiz.

Dann "Et la lune descend sur le temple qui fut": Mondlicht über den Ruinen eines alten Tempels, ein feinsinniger Appell an Zartgefühl und Imagination. Die Pianistin wird ganz zur Interpretin dieses faszinierenden Stimmungsbildes, in dem das kühle Mondlicht sich mit den dunklen Umrissen des Tempels verbindet, als schwebten darüber zeitlose Erinnerungen.

Schliesslich "Poissons d'or": quirlig leuchtende, sprühend aufblendende Motive. Man meint, die Goldfische in ihrem Glas einander verfolgen zu sehen, vorbeihuschend und gelegentlich in die Höhe springend. Ein sehr farbiges Bild von aparter Faszination.

Das Publikum spendet reichen Beifall, und es gibt die obligate Rose aus der Hand von Hindemith-Beirätin Jutta von Haase und eine zweite von einem begeisterten Zuhörer.

Aus dem Jahre 1724 stammt die Suite für Violoncello Solo Nr. 6 D-Dur BWV 1012, aus der die koreanische Cellistin Yejin Ahn nun drei Sätze interpretiert. Im "Prélude" füllt das in weitem Bogen zum Gesang ansetzende Cello den Raum mit fein abgestufter Melodik. Die Solistin versteht es vortrefflich, die Melodielinie von der Höhe zu den tief gelagerten Basstönen zu führen und der musikalischen Diktion dabei Farbe und pointierenden Ausdruck zu geben. Fein ziseliert und und in wohldisponierter Formation erklingt der Satz.

Die folgende "Allemande" ist eher nachdenklich, mit vielen Finessen in der Zeichnung von Ranken und Arabesken. Der souveräne Celloklang fesselt und bezaubert, der wie eine klare Menschenstimme die Aufmerksamkeit auf sich zieht.

Die "Courante" zieht als flinker Lauf ihren Kreis, und das Cello scheint hier einen ganzen Reigen tanzender Menschen anzuführen. Die Genauigkeit der Artikulation in diesem Stück, das in raschem Tempo vorgetragen wird, ist besonders beeindruckend.

Der belgische Violinist und Pädoge Charles-Auguste de Beriot, den sich Paganini zum Vorbild nahm, schrieb sein "Duo concertante D-Dur op.57 Nr.3"  im Jahre 1847. Das Stück ist eine wirkliche Entdeckung. In seinem Klang mischen sich Eindrücke, wie sie von Streichensembles oder aus Violinkonzerten geläufig sind. Die koreanischen Geigerinnen Hye Yeon Min und Chanmi Shin ergänzen sich im Satz "Moderato" ganz ausgezeichnet: Bogenstrich bei der einen, flankierendes Pizzikato bei der anderen. Bald wetteifern beide um den intensivsten Klang. Die gefundene Melodie wird umspielt und mehrstimmig begleitet. Die Ausdrucksvielfalt der beiden Streichinstrumente, die mit grösster Akkuratesse intonieren, ist überraschend umfangreich. Im Satzverlauf spielen beide Pizzikato, sind dann schwungvoll in der weiteren Fortsetzung, im Wechsel mitreissend und lieblich. Das "Andante" hat einen weitläufigen zweistimmigen Einsatz, der mit grosser Intensität und in genauer harmonischer Abstimmung fortgeführt wird.  Präzision und klangliche Harmonie im Zusammenspiel sind außergewöhnlich. Der Eindruck festigt sich im abschliessenden "Allegro", das den Ausführenden begeisterten Beifall mit Bravorufen einbringt.

Nach der Pause folgt eine poetische Impression vom französischen Komponisten und Pädagogen Eugène Bozza aus dem Jahre 1953, der zuletzt das Konservatorium in Valenciennes geleitet hatte. "Jour d'été à la montagne" ist ein eher traditionell formuliertes Flötenquartett, das Eindrücke möglicherweise aus den provencalischen Pyrenäen wiedergibt. Hera Sung, Sohee Kim, Elisabed Gokieli und Xiangchen Ji spielen die vier Querflöten. Im Satz "Pastorale" suggeriert der einschmeichelnde Klang des Quartetts eine friedvolle pastorale Idylle, die vom Wind über den Wiesen der provenzalischen Landschaft umspielt wird. "Au bord du torrent" zeichnet kunstvoll den stürmischen Wildwasserfluss nach, den die vier Flötistinnen aufregend lebendig und mit präzise geführtem Dialog darstellen. Dass Wälder auch singen können, wird im Satz "Le chant des forêts" sehr einnehmend vorgeführt. Einschmeichelnde Diskurse mit verteilter Melodieführung, dazwischen Vogelstimmen. Fein abgestimmte Harmonie. "Ronde" ist ein reizvoller ländlicher Tanz. Die Flöten werden spielerisch geführt, mit hübschen rhythmischen Akzentuierungen, alles sehr präzise und mitreissend exekutiert.

Den nächsten Programmpunkt übernimmt der junge deutsche Bariton Theo Rüster mit der Klavierbegleitung von Thorsten Kaldewei. Er hat sich drei Lieder aus den "Old American Songs" ausgesucht, 1950 komponiert von Aaron Copland. Bei "Long time ago" und "Simple gifts" lernt man eine warm getönte, gut abgerundete Baritonstimme mit bestens geführter Atemtechnik und klarer Artikulation kennen. Mit vollem Stimmeinsatz und dramaturgischer Differenzierung dann "Boatmans Dance", der weithin hallende Ruf des Bootsmanns mit ganz leise intoniertem Echo löst frenetischen Applaus aus.

Den Abschluss des Konzerts übernimmt die koreanische Pianistin Ji-Hyun Kim. Sie spielt Robert Schumanns 1829-1831 entstandenen Zyklus "Papillons" op. 2. Die zwölf ineinander übergehenden Sätze zeichnen in bereits sehr ausgereifter Form Charakterzüge zweier gegensätzlicher Figuren aus Jean Pauls Roman "Flegeljahre" , die später im Zyklus "Carnaval" zu Florestan und Eusebius wurden, den beiden Gegenpolen in Schumanns Charakter. Das Lyrische gelingt der Pianistin gut, aber den schroffen Stimmungsgegensätzen bleibt sie anfangs die Schärfe der Konturen schuldig. Sehr gut gestaltet sie einen mitreissenden Walzer samt nachlauschendem Ritardando. Danach scheint die pianistische Technik wie befreit. Breit ausgreifende Schritte. Der Erzählstil findet zu geläufiger Ruhe. Dann gute rhythmische Souveränität in vertrackten Synkopierungen und in den entschiedenen Fanfarentönen. Ohne überzeichnete Effekthascherei oder überpointierte Virtuosität. Behutsam dann der Schluss.

Viel Beifall für einen Kammermusikabend mit exzellenten Leistungen und viel Abwechslung in der Programmgestaltung.


041915
Wohllaut und Empfindung
Berlioz' "Roméo und Juliette"
in der Deutschen Oper Berlin

Der literarische Vorwand hat eine lange Geschichte. William Shakespeare schrieb "Romeo und Julia"  im Jahre 1597. Hector Berlioz liess sich von einer Aufführung dieses Stückes zu seiner "Symphonie dramatique" anregen, die 1839 in Paris uraufgeführt wurde. Sasha Waltz wiederum reicherte das konzertante Werk mit einer choreographischen Bühnenhandlung an, die ihrerseits 2007 an der Pariser Opéra Bastille aus der Taufe gehoben wurde. Dort nahm man die Inszenierung 2012 wieder ins Programm, und im Dezember des selben Jahres war sie dann im Teatro alla Scala in Mailand zu sehen. Am 18. April 2015 war dann endlich der Augenblick für die Deutschlandpremiere dieser Bühnenfassung an der Deutschen Oper Berlin gekommen.

Zahlreich sind die Adaptionen von Shakespeares Tragödie in der Musikliteratur. Erinnert sei nur an Tschaikowskys Fantasieouvertüre und Sergej Prokofiews Ballett. Die "Symphonie dramatique" von Hector Berlioz nimmt im Reigen dieser Adaptionen eine Sonderstellung ein, sowohl hinsichtlich ihrer musikalischen wie ihrer dramaturgischen Gestalt. Sein Opus 17 gilt vielfach neben der "Symphonie fantastique" op. 14 von 1830 als besonders typisch für Berlioz' unverwechselbare Tonsprache, die sich gleichermassen durch orchestrale Klangfülle wie durch raffinierte Rhythmik und feinste Empfindung auszeichnet.

Die Geschichte von den beiden Liebenden aus verfeindeten gesellschaftlichen Gruppierungen, den Montagues und Capulets, hat seit Shakespeare die Menschen bewegt und ergriffen. Das  Aufblühen einer leidenschaftlichen Beziehung zwischen zwei jungen Menschen aus adeligen Familien, die einander Todfeinde sind, wird vom tragischen Ausgang dieser Beziehung überlagert, in der ein fataler Irrtum dazu führt, dass Romeo und Julia erst im Tode dauerhaft vereint sind.

Hector Berlioz hat diesem Plot mit dem Text von Emile Deschamps eine ganz eigene Akzentuierung und Deutung gegeben. Bei ihm stehen die Empfindungen der jungen Liebenden im Vordergrund, die er musikalisch in ebenso sensibler wie leidenschaftlicher Form ausdeutet. Dieser Handlungskern wird von Gruppenszenen eingerahmt, in denen neben kämpferischen Auseinandersetzungen der verfeindeten Familien auch ein Ball, eine Traumsequenz mit dem Auftritt der Fee Mab und im Finale eine Apotheose am Grabe der Dahingeschiedenen zu dramaturgischen Kristallisationspunkten werden.

Von Hause aus ist Berlioz' "dramatische Symphonie" ein Instrumentalwerk mit kommentierenden Chören und kurzen Solopartien für Mezzosopran, Tenor und Bass. Die Choreographin Sasha Waltz ergänzt diesen Handlungsrahmen nun mit einer Abfolge von virtuos umgesetzten Tanzszenen, die von Joel Suárez Gómez (Roméo) und Yael Schnell (Juliette) mit Unterstützung der Compagnie Sasha Waltz & Guests interpretiert werden. Dabei wird der musikalischen Gestalt nicht etwa eine vordergründige Handlung aufgepfropft, sondern der Spannungsgehalt der Musik wird in figuralen Konstellationen und Gruppierungen aufgenommen und optisch fortgeführt. Das Bühnenbild ordnet sich dieser Intention konsequent unter. Es besteht eigentlich nur aus einer zweischichtigen Tanzfläche, deren Oberteil im Laufe der Handlung angehoben wird, wodurch sich dann das Bild eines aufgeklappten Buches darbietet.

Die zentrale sinfonische Gestalt des Werkes ist bei Donald Runnicles und seinem feinfühlig agierenden Orchester in besten Händen. Sowohl die flirrende Faszination der Musik wie die insgesamt raffinierte Instrumentierung samt ihren gegen den Takt gesetzten Akzenten kommen präzise zum Ausdruck. Die von William Spaulding zuverlässig einstudierten Chöre liefern die kommentierenden Erläuterungen auf und hinter der Szene. Ronnita Millers Mezzosopran wird von Runnicles ebenso souverän angeleitet wie die kurze, rhythmisch etwas heikle Intervention von Tenor Thomas Blondelle. Der ausdrucksvollen Stimme des  Bassisten Nicolas Courjai fällt die Aufgabe zu, der Tragödie ein versöhnliches Finale mitzugeben. Am Grabe der heimlich Vermählten ruft sein Pater Lorenzo dazu auf, die tödliche Feindschaft zu begraben und in eine Zukunft gemeinsamer Lebensgestaltung hineinzugehen.

Das begeisterte Publikum feiert die ungewöhnliche Adaption mit ausgiebigem Applaus.

040615
Osterbotschaft musikalisch
Ludger Lohmann an der Klais-Orgel
der St. Hedwigskathedrale Berlin

Zum traditionellen Orgelabend am ersten Sonntag des Monats konnte Domorganist Thomas Sauer diesmal Prof. Ludger Lohmann aus Stuttgart begrüßen, einen als Gastorganisten wie als Hochschullehrer und Jurymitglied international geschätzten Experten für alte und romantische Orgelmusik. Da dieser Termin mit dem Ostersonntag zusammenfiel, hatte der Gast ein sorgsam ausgewähltes Programm mitgebracht, das die Osterbotschaft von der Auferstehung Christi in immer neuen Zitaten interpretierte.

An den Anfang stellt der Gast einen Finalsatz: den Schluß der im Jahre 1900 komponierten "Symphonie Romane"  op. 73 vom französischen Komponisten und Organisten Charles Marie Widor. Die Eröffnung klingt hell, ein wenig scharf. Das sehr lebendige Toccata-Thema wird durch verschiedene Klangstufen geführt, mal offen und fast grell, dann wieder abgetönt und eher geschlossen. Der zunächst vordergründig offene Ton wird virtuos in den Hintergrund abgeleitet und blendet dann wieder nach vorn auf, in thriumphaler Strahlkraft mit massiver Bassfundierung. Mächtige Schritte, die sich entfernen und harmonisch verschweben.

Es folgt Johann Sebastian Bachs "Jesus, unser Heiland" BWV688 aus dem "3. Teil der Clavierübung", komponiert 1739. Ein kleinformatiger, punktgenau exekutierter Passus, eine quirlige Grundfigur, der das Choralthema überlagert wird. Absolut stringent in der Gestaltung von Tempo und Struktur. Darauf BWV 625 "Christ lag in Todesbanden" aus dem "Orgelbüchlein" von 1713. Etwas breitere Schritte zur Exposition des Themas, wieder sehr akkurat im Takt geführt.

Max Regers Fantasie und Fuge über den Choral "Wachet auf, ruft uns die Stimme" op. 52/2 stammt aus dem Jahre 1901. Das Stück setzt in wolkigen Tönen aus der Ferne ein, stimmungsvolle Bassfarben treten hinzu, dann breit farbig aufblendend, mit warmen Bässen als Kontrast. Die Orgel holt einmal Atem, um dann in dieser tiefen Tönung fortzufahren. Es klingt wie Nachtdunkel, aus dem sich in der Folge tatsächlich eine helle Stimme erhebt. Die Dämmerung hält an, ein heimeliges Säuseln, von dem sich auf einmal Farbpartikel lösen und schrittweise einen Zustand zunehmender Wachheit umschreiben. Aufsteigende Schritte, an denen jetzt auch die Choralmelodie "Wachet auf" ablesbar wird; breiter, klarer und deutlicher bis zu mächtiger Klanggestalt, die sich dann wieder auf ein schmales Band reduziert. Sanft und heiter. Dann die spielerisch eingeführte Fuge, in klarer und durchsichtiger Diktion vorgetragen. Kunstvoll durchwirktes Tongewebe in sorgsam ausgeführter Struktur, mit der wiederkehrenden Choralmelodie im Basspedal, bis sich zum Ende breite Klangfächer darüber legen. Schöner Schlussakkord.

Vom deutschen Komponisten und katholischen Kirchenmusiker Hermann Schroeder, der auch Professor an der Musikhochschule Köln war, stammen Präludium und Fuge über "Christ lag in Todesbanden". Das Präludium setzt quirlig brausend ein, dann wird die Choralmelodie abschnittweise eingefügt. Nach Abbruch leise Fortsetzung, wie in Gedanken. Der Klang wird wieder breiter, kräftige und markante Akkorde öffnen zur Fuge. Die wird zunächst aus Kleinteilen gebaut, transparent und taktgenau ausgeführt. Sonore Bassfiguren treten hinzu. Die Schritte werden langsamer und führen zum brausenden Schlussakkord.

Aus dem Jahre 1715 stammen die drei Verse von "Christ ist erstanden" BWV 627 aus dem "Orgelbüchlein" von Johann Sebastian Bach. Vergleichsweise schlicht im Ton, aber sehr dynamisch im Vortrag, die innewohnende Kraft treibt die Darstellung voran. Der nächste Vers etwas heller im Ton, heiter und licht, von bassfundierten Schritten interpunktiert.

Den Abschluss bildet Max Regers opus 52/3 aus dem Jahre 1901, Fantasie und Fuge über den Choral "Halleluja! Gott zu loben, bleibe meine Seelenfreud". Ein breit gefasster, immer wieder den Klang aufblendender Einstieg, der dann  zurückgenommen wird, um einer sehr lebendigen Feinstruktur Platz zu machen, die immer wieder von sonorer Bassfundierung unterstützt wird. Dann ein romantisches Zwischenspiel wie von Blasinstrumenten, mit dem die Choralmelodie eingeführt wird. Beim Nachsinnen verwischen sich die Konturen. Dann wird eine thriumphale Entwicklung zu höherer Klarheit eingeleitet, die aus leisen Interjektionen zur Fuge führt. Die Choralelemente verschmelzen zu einer Klanggestalt, die Gewissheit und Zuversicht ausdrückt, mehrdimensional durch reizvolle Schattierungen. Die Schlusspassage ist vom Choral "Was Gott tut, das ist wohlgetan" untermauert.

Eine behutsam vorgetragene Zugabe, die noch einmal durch kunstvoll detaillierte Tastenbehandlung im Manual gefangen nimmt, belohnt die Zuhörer für den reichen Beifall im gut gefüllten Kirchenrund.

040215
Tausend Rätsel und keine Lösung
"Woran man einen Juden erkennen kann"
im bat- Studiotheater Berlin

Aus dem bat-Studiotheater der Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch" ist über die Realisierung einer Textcollage mit Revuecharakter zu berichten, die Noam Brusilovsky kreiert hat, Regiestudent im 3. Studienjahr. Mit seinem 95minütigen Crahskurs in jüdischer Wesensart umschifft er geschickt die Klippen uferloser Ausführlichkeit wie auch grüblerischer Wehklage und gibt der  nach wie vor heiklen Thematik anschauliche Gestalt in farbiger Skizzierung.

Das Bühnenbild von Korbinian Schmidt deutet mit grazilen Säulen die Fassade einer Synagoge an, deren Rückwand von einem Glasfenster durchbrochen wird. Dort entsteht unter den Händen des Rabbi (Eve Slatner) der Golem, ein jiddisch raunender Erdenkloss in Menschengestalt, der sich alsbald in fünf Schauspielerleiber separiert. Der mächtigste von ihnen ist Jaron Löwenberg, ein Riese mit sonorer Sprechstimme, und die anderen vier mutieren zu sehr individuell gezeichneten Varianten jüdischer Charaktere, in denen sich die reale Vita der Personen mit ihrer dargestellten Rolle vermischt. Da ist zunächst Dor Aloni aus Tel Aviv, ein fabelhaft beweglicher Schauspieler arabisch-jüdischer Prägung. Ihm zur Seite Nico Delpy, der einen europäischen Vierteljuden mit schweizerischem Grundton vorstellt, seinen gesamten Lebenslauf in einem virtuosen  Monolog präsentierend. Das Mädchen in diesem multifunktionalen Golem-Ensemble ist Deleila Piasko, Busch-Schauspielschülerin im 4. Studienjahr, die mit frappanter Entschiedenheit auftritt. Joey Zimmermann verwandelt sich mit Perücke und hochdeutscher Diktion in einen "Goi", der Jüdisches aus nichtjüdischer Perspektive referiert und persifliert.

Was diese fünf nun in kurzen Szenen zutage fördern, mixt skurrile Vorurteile über vermeintlich unveräusserliche Kennzeichen jüdischer Körperlichkeit und traditionelle Elemente jüdischen Lebens wie das Beschneidungsritual zu einer kurzweiligen Folge skurriler Momentaufnahmen. Da ist die Darstellung typischer Eigenschaften "jüdischen Turnens", die in eine musikalisch fugierte Sequenz grösster Präzision münden. Ein szenisches Erlebnis sui generis ist das skurrile Penis-Puppentheater dreier "deutscher Mädchen", die ihren Kommentar zur Taufe eines jüdischen Mitbürgers abliefern. Geselliges Beisammensein bei einer jüdischen Hochzeit gehört ebenso zum vorgestellten Show-Rahmen wie die Schluss-Einstellung mit mythischem Charakter, bei der die Schauspieler einander mit weisser und schwarzer Farbe bemalen und auf diese Weise in einem gleichmachenden Grauton vor die Zuschauer treten.

Die Aufführung steckt voller vitaler Denkanstösse, die aber nie in Holzhammer-Technik vermittelt werden. Groteske Überzeichnungen und absurde Vorwürfe, die jahrhundertelang die Akzeptanz des Jüdischen begleitet haben, werden ohne erhobenen Zeigefinger vorgeführt. Die Ungeheuerlichkeiten der Shoa sind als Thema nicht ausgespart, aber auch nicht in einer Weise vertieft, die alles andere erschlagen würde. So bleibt, nicht zuletzt durch die zahlreichen jiddischen Passagen, der Eindruck einer sehr lebendigen, anschaulichen Darstellung, die sowohl Hingabe und schauspielerische Perfektion wie souveräne Selbstironie zu bieten hat.

Sehr ausführlicher, anerkennender Applaus belohnt das Ensemble.


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